OGH vom 18.10.2017, 7Ob145/17z
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei B***** K*****, vertreten durch Dr. Christoph Huber, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei H***** AG, *****, vertreten durch Dr. Günther Klepp und andere Rechtsanwälte in Linz, wegen Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom , GZ 1 R 76/17b-14, womit das Urteil des Landesgerichts Steyr vom , GZ 3 Cg 45/16t-10, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.096,56 EUR (darin 182,76 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin ist Mitversicherte eines von ihrem Mann mit dem beklagten Versicherer abgeschlossenen Haushaltsversicherungsvertrags, der auch eine Privat-Haftpflichtversicherung umfasst. Die dem Vertrag zugrunde liegenden Allgemeinen Bedingungen für die Haushaltsversicherung (ABHV 2007) der Beklagten lauten auszugsweise:
„II. Haftpflichtversicherung
Art. 8 Was gilt als Versicherungsfall?
1. Versicherungsfall ist ein Schadenereignis, das dem privaten Risikobereich entspringt und aus welchem dem Versicherungsnehmer Schadenersatzverpflichtungen erwachsen oder erwachsen können.
[...]
Art. 10 Welche Gefahren sind versichert?
Die Versicherung erstreckt sich auf Schadenersatzverpflichtungen des Versicherungsnehmers als Privatperson aus den Gefahren des täglichen Lebens mit Ausnahme der Gefahr einer betrieblichen, beruflichen oder gewerbsmäßigen Tätigkeit, insbesondere
[…]
6. aus dem erlaubten Besitz von Hieb-, Stich- und Schusswaffen und aus deren Verwendung als Sportgerät und für Zwecke der Selbstverteidigung;
[...].“
Die an einer schizoaffektiven Störung mit akut psychotischem Zustandsbild leidende Klägerin versuchte in unzurechnungsfähigem Zustand (§ 11 StGB), einen Dritten mit einem Messer umzubringen. Dies wäre als versuchter Mord nach §§ 15, 75 StGB zu qualifizieren, wäre die Klägerin zurechnungsfähig gewesen; sie wurde gemäß § 21 Abs 1 StGB in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher untergebracht.
Die Klägerin wurde vom durch den Messerangriff erheblich verletzten Opfer unter Berufung auf § 1310 letzter Halbsatz ABGB auf Schadenersatz und Feststellung der Haftung für künftige Schäden geklagt (in der Folge: Haftpflichtprozess). Die Haftpflichtversicherung stelle Vermögen der Klägerin dar. Es habe sich eine Gefahr des täglichen Lebens verwirklicht, wofür der Haftpflichtversicherer (die nunmehrige Beklagte) einzustehen habe.
Der Haftpflichtprozess ist noch nicht rechtskräftig beendet.
Die Klägerin begehrt die Feststellung der Deckungspflicht der Beklagten zur Abwehr des vom Opfer im Haftpflichtprozess erhobenen Anspruchs.
Die Beklagte bestreitet das Vorliegen einer Gefahr des täglichen Lebens. Die Verwendung eines Messers als Tatwaffe bei der Begehung eines versuchten Mords sei nach Art 10 Z 6 ABHV 2007 nicht gedeckt. Die Deckung einer Vorsatztat sei nach § 152 VersVG iVm Art 15 Z 2 ABHV 2007 ausgeschlossen. Es liege nach § 25 VersVG Leistungsfreiheit zufolge unterlassener Anzeige nach § 23 VersVG der in der Geisteskrankheit der Klägerin liegenden Gefahrenerhöhung vor.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Da das Opfer im Haftpflichtprozess einen Anspruch geltend mache, der vom Versicherungsschutz umfasst sein könnte, habe die Beklagte Deckung zu gewähren. Die Frage, ob sich eine Gefahr des täglichen Lebens verwirklicht habe, sei im Haftpflicht- und nicht im Deckungsprozess zu klären. Die psychische Erkrankung der Klägerin schließe eine schuldhafte Verletzung der Pflicht zur Anzeige einer Gefahrenerhöhung aus.
Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren ab. Ob eine Gefahr des täglichen Lebens vorliege, betreffe das versicherte Risiko im Sinne der primären Risikobeschreibung und sei deshalb auch im Deckungsprozess zu prüfen. Das Berufungsgericht verneinte das Vorliegen einer Gefahr des täglichen Lebens und damit die Versicherungsdeckung. Es bewertete den Entscheidungsgegenstand als 30.000 EUR übersteigend und ließ die ordentliche Revision nicht zu.
Die außerordentliche Revision der Klägerin beantragt die Klagsstattgebung; hilfsweise werden Aufhebungs- und Zurückverweisungsanträge gestellt.
Die Beklagte beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; sie ist aber nicht berechtigt.
1. Das Haftpflichtversicherungsrecht ist vom Grundsatz der Spezialität der versicherten Gefahr beherrscht, wonach nur für solche Schadensfälle Versicherungsschutz besteht, die sich aus dem im Versicherungsschein (der Versicherungspolizze und ihren Nachträgen) umschriebenen „versicherten Risiko“ ableiten lassen (RIS-Justiz RS0081038). Der Deckungsanspruch des Haftpflichtversicherten ist durch das versicherte Risiko spezialisiert und von dem vom Geschädigten erhobenen Anspruch abhängig (RIS-Justiz RS0081015).
2.1. Die allgemeine Umschreibung des versicherten Risikos erfolgt durch die primäre Risikobegrenzung. Durch sie wird in grundsätzlicher Weise festgelegt, welche Interessen gegen welche Gefahren und für welchen Bedarf versichert sind (7 Ob 184/14f). Auf der zweiten Ebene (sekundäre Risikobegrenzung) kann durch einen Risikoausschluss ein Stück des von der primären Risikoabgrenzung erfassten Deckungsumfangs ausgenommen und für nicht versichert erklärt werden (RIS-Justiz RS0080166, [insbes T 10], RS0080068).
2.2. In Art 10 ABHV 2007 wird eine primäre Risikoumschreibung dahin vorgenommen, dass der Risikobereich „Gefahren des täglichen Lebens“ unter Versicherungsschutz gestellt wird, wobei in der Folge („insbesondere“) spezielle versicherte Gefahren als zu diesen „Gefahren des täglichen Lebens“ gehörend definiert werden (vgl 7 Ob 184/14f).
3. Bei der Beurteilung des Wesens des Anspruchs des Versicherungsnehmers aus der Haftpflichtversicherung sind das Deckungs- und das Haftpflichtverhältnis zu unterscheiden. Der Versicherungsanspruch in der Haftpflichtversicherung ist auf die Befreiung von begründeten und die Abwehr von unbegründeten Haftpflichtansprüchen gerichtet; unbeschadet dieser beiden Komponenten (Befreiungs- und Rechtsschutzanspruch) handelt es sich um einen einheitlichen Anspruch des Versicherungsnehmers (7 Ob 96/16t mwN). Die Pflicht des Versicherers, Versicherungsschutz zu gewähren, setzt einen Versicherungsfall voraus, da diese Leistung nur unter der Bedingung seines Eintritts versprochen ist. Bei der Haftpflichtversicherung ist der Versicherungsfall dadurch gegeben, dass ein Dritter vom Versicherungsnehmer Schadenersatz fordert, ohne dass es darauf ankommt, ob diese Forderung berechtigt ist, da der vereinbarte Versicherungsschutz auch die Abwehr unberechtigter Ansprüche in sich schließt (RIS-Justiz RS0080013, RS0081228, RS0080384).
4. Der Haftpflichtversicherungsanspruch wird fällig, wenn der Versicherungsnehmer (oder Mitversicherte) vom geschädigten Dritten ernstlich auf Schadenersatz in Anspruch genommen wird (RIS-Justiz RS0080086, RS0080384, RS0079963). Im Deckungsprozess sind Feststellungen über Tatfragen, die Gegenstand des Haftpflichtprozesses sind, für den Haftpflichtprozess nicht bindend, daher überflüssig und, soweit sie getroffen wurden, für die Frage der Deckungspflicht unbeachtlich (vgl 7 Ob 164/14i). Im Deckungsprozess kommt eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung und des Ergebnisses des Haftpflichtprozesses bei Beurteilung der Deckungspflicht grundsätzlich nicht in Betracht (vgl allgemein zur Rechtsschutzversicherung RIS-Justiz RS0081927,
RS0124256).
5. Im vorliegenden Deckungsprozess ist keine dem Haftpflichtprozess vorbehaltene Tatfrage strittig, sondern die Frage, wie ein unstrittiger Sachverhalt rechtlich zu werten ist. Die rechtliche Beurteilung, ob sich im unstrittigen Geschehen eine Gefahr des täglichen Lebens verwirklichte, ist zwar (auch) für die materielle Berechtigung des vom Opfer im Haftpflichtprozess geltend gemachten Anspruchsgrundes – das Bestehen einer Haftpflichtversicherung (vgl RIS-Justiz RS0027608, RS0027504, RS0027510, RS0027541 [T2]) – relevant, ebenso jedoch für die Frage der Verwirklichung des primären Risikos und damit des Deckungsanspruchs. Insofern unterscheidet sich auch die vorliegende Konstellation des Deckungsprozesses einer Haftpflichtversicherung von dem einer Rechtsschutzversicherung, wie er in 7 Ob 161/16a (= RIS-Justiz RS0081927 [T6] = RS0124256 [T3]) zu beurteilen war: In jenem auch in der Revision angesprochenen Deckungsprozess stellte sich die Frage, ob die beabsichtigte Prozessführung als so zweifelhaft anzusehen war, dass keine oder eine nicht hinreichende Aussicht auf Erfolg bestand, wobei vorwiegend aufgrund der Klagserzählung und des Versicherungsvertrags zu klären war, ob Rechtsschutz zu gewähren ist. Mit einer im zu führenden Prozess zu klärenden Rechtsfrage war dort aber nur das Maß der Erfolgsaussichten angesprochen, nicht aber – wie hier – eine für die Umschreibung des primären Risikos und damit für die Deckungsfrage relevante Frage.
6. Im Deckungsprozess muss sich grundsätzlich der Deckungsanspruch ergeben (RIS-Justiz RS0110484); der Versicherungsschutz umfasst nicht die Abwehr jeglicher Ansprüche, sondern nur jener, die grundsätzlich von der Deckungspflicht des Versicherers umfasst sind (7 Ob 31/16h). Der Befreiungsanspruch des Versicherungsnehmers gegenüber dem Versicherer, der ihn vor den Folgen der Inanspruchnahme durch den geschädigten Dritten schützen soll, besteht nur im Rahmen des abgeschlossenen Vertrags (vgl RIS-Justiz RS0129254); der Versicherer haftet nur im Rahmen der von ihm übernommenen Gefahr, sohin innerhalb der örtlichen, zeitlichen und sachlichen Grenzen der Gefahrenübernahme (7 Ob 145/13v, 7 Ob 92/15b).
7. Für den vorliegenden Fall folgt daraus, dass die für die Frage des Inhalts des Versicherungsvertrags, der Verwirklichung des primären Risikos und damit des Eintritts des Versicherungsfalls der Haftpflichtversicherung erforderliche rechtliche Beurteilung, ob sich in einem bestimmten Geschehen eine Gefahr des täglichen Lebens verwirklichte, auch dann im Deckungsprozess zu erfolgen hat, wenn dieselbe Frage auch für die materielle Berechtigung des von einem Dritten gegen den Versicherten im Haftpflichtprozess erhobenen Anspruchs (etwa nach § 1310 letzter Halbsatz ABGB) relevant ist.
8.1. Der versicherungsrechtliche Begriff der „Gefahr des täglichen Lebens“ ist nach ständiger Rechtsprechung so auszulegen, dass davon jene Gefahren, mit denen üblicherweise im Privatleben eines Menschen gerechnet werden muss, umfasst sind (RIS-Justiz RS0081099). Die Gefahr, haftpflichtig zu werden, stellt im Leben eines Durchschnittsmenschen nach wie vor eine Ausnahme dar. Deshalb will die Privathaftpflichtversicherung prinzipiell Deckung auch für außergewöhnliche Situationen schaffen, in die auch ein Durchschnittsmensch hineingeraten kann. Freilich sind damit nicht alle ungewöhnlichen und gefährlichen Tätigkeiten abgedeckt (RIS-Justiz RS0081276). Für das Vorliegen einer Gefahr des täglichen Lebens ist nicht erforderlich, dass sie geradezu täglich auftritt. Vielmehr genügt es, wenn die Gefahr erfahrungsgemäß im normalen Lebensverlauf immer wieder, sei es auch seltener, eintritt. Es darf sich nur nicht um eine ungewöhnliche Gefahr handeln, wobei Rechtswidrigkeit oder Sorglosigkeit eines Vorhabens den daraus entspringenden Gefahren noch nicht die Qualifikation als solche des täglichen Lebens nehmen. Voraussetzung für einen aus der Gefahr des täglichen Lebens verursachten Schadenfall ist nämlich eine Fehlleistung oder eine schuldhafte Unterlassung des Versicherungsnehmers (RIS-Justiz RS0081070). Auch ein vernünftiger Durchschnittsmensch kann aus Unvorsichtigkeit eine außergewöhnliche Gefahrensituation schaffen und sich in einer solchen völlig falsch verhalten oder sich zu einer gefährlichen Tätigkeit, aus der die entsprechenden Folgen erwachsen, hinreißen lassen. Derartigen Fällen liegt eine falsche Einschätzung der jeweiligen Sachlage zugrunde (7 Ob 184/14f). Plant der Versicherungsnehmer die Schadenszufügung von vornherein, so handelt es sich nicht um die zitierten „Ausrutscher eines Durchschnittsmenschen“, die verheerende Folgen nach sich ziehen können, sondern um gefährliche Bosheitsakte – mit ungleich höheren, im Leben eines Durchschnittsmenschen regelmäßig gar nicht vorkommenden, Gefahren als im Fall bloßer Fehleinschätzungen –, und zwar auch dann, wenn der beabsichtigte Erfolg weit über seine Erwartungen hinausgeht; solche Schadenszufügungen sind vom versicherten Risiko nicht umfasst (RIS-Justiz RS0081051 [insb auch T 2]). Es liegt auch dann keine Gefahr des täglichen Lebens vor, wenn eine schwere Körperverletzung im Zustand der vollen Berauschung verübt wird, weil ein Durchschnittsmensch – auch wenn er erheblich alkoholisiert ist – nicht in die Situation gerät, dass er als aktiv Beteiligter eine schwere Körperverletzung oder ein Vergehen der Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung im Zustand voller Berauschung nach § 287 Abs 1 (§§ 83 Abs 1, 84 Abs 1) StGB begeht (7 Ob 189/16v = RIS-Justiz RS0081276 [T5]).
8.2. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass auch eine infolge psychischer Erkrankung erfolgte Messerattacke keine solche vom gedeckten Risiko umfasste Gefahr des täglichen Lebens ist, in die ein Durchschnittsmensch im normalen Lebensverlauf üblicherweise gerät, erachtet der Senat als zutreffend (§ 510 Abs 3 zweiter Satz ZPO); sie wird auch von der Revision nicht substanziiert in Frage gestellt.
9. Zusammengefasst hat das Berufungsgericht den Deckungsanspruch der Klägerin zu Recht verneint; ihrer Revision war daher nicht Folge zu geben.
10. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41 Abs 1, 50 Abs 1 ZPO.
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2017:0070OB00145.17Z.1018.000 |
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