OGH vom 31.08.2011, 7Ob142/11z

OGH vom 31.08.2011, 7Ob142/11z

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache der Cäcilia M*****, vertreten durch den Verein gemäß § 8 Abs 2 HeimAufG, VertretungsNetz Sachwalterschaft, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung (Bewohnervertreter Mag. R***** S*****), dieser vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Bewohnervertreters gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom , GZ 15 R 172/11m 23, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1. Nach § 3 Abs 1 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung im Sinn dieses Bundesgesetzes vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Mitteln, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen, oder durch deren Androhung unterbunden wird.

Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs und der überwiegenden Lehre ist eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel nur dann zu bejahen, wenn die Behandlung unmittelbar (7 Ob 186/06p; 1 Ob 21/09h; Mayer , Freiheitsbeschränkung durch Medikamentenverabreichung, ÖZPR 2010/54, 51 [53]) oder primär (2 Ob 77/08z; Ganner , Selbstbestimmung im Alter [2005], 379; Mayer aaO; Strickmann , Heimaufenthaltsrecht [2008], 100 f) die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckt, nicht jedoch bei unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei der Verfolgung anderer therapeutischer Ziele ergeben können (RIS Justiz RS0121227; Barth/Engel , Heimrecht [2004] § 3 HeimAufG Anm 7; Zierl , Die ärztliche Anordnung von Freiheitsbeschränkungen gemäß HeimAufG, FamZ 2006, 210 [214]). Eine gerichtlich zu überprüfende Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel soll nur dann von vornherein ausgeschlossen sein, wenn die Sedierung des Bewohners eine bloße Nebenwirkung des betreffenden Medikaments darstellt. Ist das Medikament hingegen ein (reines) Sedativum, mit dem also unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdrangs erreicht werden soll, kann von einer bewegungsdämpfenden Nebenwirkung keine Rede sein (7 Ob 186/06p; 2 Ob 77/08z; 3 Ob 176/10v; Barth/Engel aaO). Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs findet ihre Deckung in den Gesetzesmaterialien zur Stammfassung des HeimAufG (ErlRV 353 BlgNR XXII. GP 9).

Gegen eine „Gewichtung der Intention“ oder eine „Hierarchie der Zwecke“ sprechen sich nunmehr Ganner (Medikamentöse Freiheitsbeschränkungen nach dem HeimAufG, iFamZ Spezial Juli 2010, 46 [49]) und Barth (Freiheitsbeschränkung durch Medikamente, iFamZ 2011, 80 [82 ff]) aus. Barth ist der Ansicht, dass die Verabreichung eines Medikaments dann eine Freiheitsbeschränkung im Sinn des § 3 Abs 1 HeimAufG darstelle, wenn damit unmittelbar eine Bewegungseinschränkung intendiert sei oder bei der Verfolgung anderer therapeutischer Ziele eine bewegungseinschränkende Nebenwirkung in Kauf genommen werde, obwohl diese durch Wahl einer alternativen Maßnahme vermeidbar gewesen wäre. Er unterscheidet zwischen drei Falltypen mit Bewegungseinschränkungen verbundener medikamentöser Maßnahmen: „reaktive“, „einaktig förderzentrierte“ und „zweiaktig förderzentrierte“ bewegungseinschränkende Maßnahmen. Janoch , (Freiheitsbeschränkung durch Medikation, iFamZ Spezial Juli 2010, 51 ff) stellt darauf ab, ob das Medikament verordnet wurde, um ein Symptom einer psychischen Störung, das mit Bewegungsüberschuss einhergeht, zu unterdrücken, oder ob die Substanz zur Distanzierung von pathologischen Erlebnissen verordnet wurde.

2. Nach den bisher ergangenen höchstgerichtlichen Entscheidungen musste nicht zur Frage Stellung genommen werden, ob auch dann eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel zu bejahen ist, wenn die Unterbindung des Bewegungsdrangs einen von mehreren gewollten Zwecken der Behandlung darstellt. In der Entscheidung 3 Ob 176/10a wurde die Beantwortung dieser Frage ausdrücklich offen gelassen. Ganner (iFamZ Spezial Juli 2010, 48 f) und wohl auch Barth (iFamZ 2011, 83 ff) bejahen sie. Nach den hier getroffenen Feststellungen liegt ein solcher Fall aber nicht vor.

3. Hier steht nämlich fest, dass die - nach dem Vorbringen im verfahrenseinleitenden Antrag in der Nacht - verordneten Medikamente mit dem Zweck verabreicht wurden, die Angstzustände und den Leidensdruck der Bewohnerin bei Auftreten von Halluzinationen oder bei mit Unruhezuständen zusammenhängenden Realitätsverkennungen zu lindern. Die Verabreichung der Medikamente erfolgte zur Behandlung aus therapeutischen Gründen, ohne dass die Ruhigstellung der Bewohnerin bezweckt war. Die Medikamente führten lediglich als bloße Nebenwirkung auch zu einer (unvermeidlichen) Beruhigung des Bewegungsdrangs der Bewohnerin. Dass die Vorinstanzen hier eine Freiheitsbeschränkung im Sinn des § 3 Abs 1 HeimAufG durch Verabreichung von Medikamenten verneinten, ist nicht zu beanstanden und wirft keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußstrG auf.

4. Soweit der Revisionsrekurswerber Feststellungen zu den „Einträgen“ vom 18. 2. und in der „Verlaufsdokumentation“ vermisst und diese Anträge als verfahrensgegenständlich bezeichnet, ist darauf hinzuweisen, dass er in der Tagsatzung vom die Überprüfung der Zulässigkeit freiheitsbeschränkender Maßnahmen auf die Verabreichung bestimmter, konkret genannter Medikamente einschränkte und nie vorbrachte, dass es sich bei den Eintragungen an den beiden genannten Tagen mit dem Vermerk „ZVO“ um diese Medikamente handelt. Auch im Revisionsrekurs finden sich dazu keine Darlegungen. Zufolge Einschränkung der ursprünglichen Anträge waren von den Vorinstanzen die „Einträge“ vom 18. 2 und nicht zu behandeln. Selbst wenn dies nicht zutreffen sollte, würde kein sekundärer Feststellungsmangel vorliegen, weil dann das Erstgericht über diese Anträge noch nicht entschieden hätte.