OGH vom 04.09.1997, 2Ob2305/96a
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Angst als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Georg K*****, vertreten durch Dr.Herbert Klinner, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Wiener Stadtwerke, 1030 Wien, Erdbergstraße 202, vertreten durch Dr.Konrad Kuderna, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 250.202,52 sA, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht vom , GZ 12 R 159/95-19, womit das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom , GZ 5 Cg 56/94f-11, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen, die bezüglich des Zuspruchs von S 109.337,92 sA an den Kläger als unangefochten in Rechtskraft erwachsen sind, werden im Umfange der Abweisung des Klagebegehrens aufgehoben. Dem Erstgericht wird insoweit eine neuerliche, nach Verfahrensergänzung zu fällende Entscheidung aufgetragen.
Die Kosten der Rechtsmittelverfahren sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Am ereignete sich in Wien an der Kreuzung Franz Josefs-Kai/Postgasse ein Verkehrsunfall, an welchem ein LKW des Klägers und ein Straßenbahnzug der beklagten Partei beteiligt waren.
Der Kläger begehrt den Ersatz der ihm unfallsbedingt entstandenen Schäden in Höhe von S 250.202,52 sA und bringt hiezu vor, der Straßenbahnzug sei gegen das verkehrsbedingt angehaltene Fahrzeug der klagenden Partei gefahren, obwohl dem Fahrer des Straßenbahnzuges ein rechtzeitiges Anhalten vor dem für ihn schon von weitem erkennbaren LKW leicht möglich gewesen wäre.
Die beklagte Partei beantragt die Abweisung des Klagebegehrens. Zur Unfallszeit habe für die Postgasse ein allgemeines Fahrverbot, ausgenommen für Baufahrzeuge, bestanden. Weiters sei die Postgasse Einbahn Richtung Innenstadt. Der Lenker des Fahrzeuges der klagenden Partei sei unter Mißachtung des Fahrverbotes und gegen die Einbahn von der Postgasse kommend Richtung Franz Josefs-Kai gefahren. Dabei habe er den selbständigen Gleiskörper der Straßenbahn überqueren müssen. Er habe dies unter Mißachtung des Vorranges der herannahenden Straßenbahn getan und sein Fahrzeug im Gleisbereich zum Stillstand gebracht. Der Straßenbahnfahrer habe trotz sofortiger Notbremsung die Kollision nicht mehr vermeiden können. Das Alleinverschulden treffe den Lenker des Fahrzeuges des Klägers. Die beklagte Partei wendete die ihr entstandenen Schäden von S 12.086,68 kompensando ein.
Das Erstgericht erkannte die eingeklagte Forderung mit S 115.381,26 und die Gegenforderung mit S 6.043,34 als zu Recht bestehend und daher die beklagte Partei unter Abweisung des Mehrbegehrens schuldig, der klagenden Partei S 109.337,92 samt 4 % Zinsen seit zu bezahlen. Es traf nachstehende Feststellungen.
Das Fahrzeug der klagenden Partei kam zunächst von dem als Einbahn geführten Franz Josefs-Kai und gelangte über den hiezu vorgesehenen Rechtsabbiegestreifen in die Postgasse. Zwischen dieser und dem Kai befindet sich parallel zum Kai ein selbständiger Gleiskörper. Nach dessen Überquerung passierte das Fahrzeug der klagenden Partei das am Beginn der Postgasse aufgestellte Vorschriftszeichen "Fahrverbot" mit der Zusatztafel "Ausgenommen Baufahrzeuge". Die Postgasse war dann baustellenbedingt gleichsam wie eine Sackgasse abgesperrt. Aus diesem Grund wendete der Lenker des Fahrzeuges der klagenden Partei das Fahrzeug und fuhr zurück Richtung Kai. Dabei mußte er die als Einbahn ausgewiesene Postgasse gegen die zulässige Fahrtrichtung benützen. Unmittelbar vor dem Gleiskörper hielt er den LKW an und sah in beiden Fahrtrichtungen jedenfalls bis zur nächsten Kreuzung keine Straßenbahn. Sodann fuhr er kurz mit normaler Beschleunigung an und brachte das Fahrzeug vor dem Einfahren in die Fahrbahn des Franz Josefs-Kais und noch auf dem Gleiskörper neuerlich zum Stillstand. Der LKW der klagenden Partei stand etwa 20 bis 30 Sekunden unverändert in dieser Position, bis es zur Kollision kam.
Die Straßenbahn kam (aus der nunmehrigen Position des Klagsfahrzeuges gesehen) von rechts und fuhr Richtung Schottenring. Sie näherte sich über längere Zeit mit 42 km/h und reduzierte dann geringfügig ihre Geschwindigkeit, bis bei 38 km/h die Schienenbremse einsetzte. Der Fahrer bremste die Straßenbahn wegen des auf den Schienen stehenden Klagsfahrzeuges voll ab. Sie legte bis zu ihrer Endposition in rund 3,8 Sekunden noch ca 28 m zurück. Einschließlich der Vorbremszeit von etwa einer Sekunde betrug die gesamte Anhaltestrecke für den Straßenbahnzug 39 m. Die Kollisionsgeschwindigkeit lag im Bereich von 20 km/h; die Fehlbremsstrecke betrug etwa 6 m. Als der Fahrer den Bremsentschluß faßte, stand das Fahrzeug der klagenden Partei bereits mindestens 19 Sekunden lang unverändert auf dem Gleiskörper.
Das Erstgericht traf noch weitere Feststellungen zur Höhe des Klagebegehrens.
Rechtlich kam das Erstgericht zum Ergebnis, daß der Lenker des Fahrzeuges der klagenden Partei den Vorrang der Straßenbahn verletzt habe. Deren Fahrer habe hingegen eine um mindestens rund 19 Sekunden verspätete Reaktion zu verantworten. Es sei von einem gleichteiligen Verschulden der unfallbeteiligten Fahrzeuglenker auszugehen.
Das von beiden Parteien angerufene Berufungsgericht gab den Berufungen nicht Folge, wobei es die Feststellungen des Erstgerichtes übernahm.
Es erörterte rechtlich, daß dem Lenker des Fahrzeuges der klagenden Partei eine Vorrangverletzung nicht zur Last gelegt werden könne, weil die Straßenbahn zur Zeit, als der LKW die Gleise befuhr, noch mindestens 60 m entfernt gewesen sei und die Kollision mit einer Bremsverzögerung von 1,4 m/sec2 (einer etwas erhöhten Betriebsbremsung) zu verhindern gewesen wäre. Dem Lenker des Fahrzeuges der klagenden Partei müsse aber die Verletzung der Bestimmung des § 28 Abs 2 StVO vorgeworfen werden. Die klagende Partei habe nicht behauptet und bewiesen, daß es ihr unmöglich gewesen wäre, die Straßenbahngleise so rasch wie möglich zu verlassen. Der LKW-Lenker hätte sein Fahrzeug so weit vorziehen können, daß er die Straßenbahn nicht behindert hätte. Schließlich wäre auch ein Verlassen des Gleiskörpers im Rückwärtsgang in Erwägung zu ziehen gewesen. Dem Straßenbahnfahrer falle zur Last, daß er auf das Vorhandensein des LKWs der klagenden Partei, dessen Lenker ersichtlich keine Anstalten machte, den Gleiskörper zu verlassen, nicht mit einer rechtzeitigen Bremsung reagierte.
Das Berufungsgericht erachtete eine Verschuldensteilung von 1 : 1 für angemessen und sprach aus, daß die ordentliche Revision mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig sei.
Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahingehend abzuändern, daß die Klagsforderung im gesamten Umfang als zu Recht und die Gegenforderung als nicht zu Recht bestehend festgestellt werde.
Die beklagte Partei beantragt, die Revision der klagenden Partei zurückzuweisen bzw ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, weil die vom Berufungsgericht vertretene Rechtsansicht in dem festgestellten Sachverhalt und damit auch in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes keine Deckung findet; sie ist im Sinne des den Abänderungsantrag enthaltenden Aufhebungsantrages auch berechtigt.
Vorweg ist auszuführen, daß der Oberste Gerichtshof, der ja nicht Tatsacheninstanz ist, an die vom Berufungsgericht ausdrücklich übernommenen Feststellungen gebunden ist. Nach diesen stand der LKW im Gleisbereich des Straßenbahnzuges bereits mindestens 19 Sekunden, als sich die Kollision ereignete. Der Straßenbahnzug näherte sich zuvor mit einer Geschwindigkeit von 42 bzw 38 km/h. Diese vom Berufungsgericht gebilligten Sachverhaltsfeststellungen könne jedenfalls vom Obersten Gerichtshof nicht mehr überprüft werden.
Ist aber davon auszugehen, daß der LKW bis zur Kollision mindestens 19 Sekunden im Gleisbereich der Straßenbahn stand, bedeutet dies, daß sich der Straßenbahnzug während dieser Zeit mit einer Geschwindigkeit von rund 40 km/h ungebremst auf den LKW zu bewegte, obwohl der LKW aus einer Entfernung von mindestens 210,9 m (Sekundenweg bei 40 km/h 11,1 m x 19) bei der aus dem Akt ersichtlichen geradlinig verlaufenden Strecke sichtbar gewesen wäre.
Geht man daher von den getroffenen Feststellungen aus, dann kann dem Lenker des Fahrzeuges der klagenden Partei ein Vorwurf, den Vorrang der Straßenbahn mißachtet zu haben, nicht mehr gemacht werden.
Ob ihm auch ein Verstoß gegen die Bestimmung des § 28 Abs 2 StVO zur Last zu legen ist, kann aber noch nicht abschließend beurteilt werden. Nach dieser Bestimmung haben beim Herannahen eines Schienenfahrzeuges andere Straßenbenützer die Gleise jedenfalls so rasch wie möglich zu verlassen, um dem Schienenfahrzeug Platz zu machen.
Dazu hat der Oberste Gerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen, daß ein Fahrzeuglenker nur dann vor einem nachkommenden Straßenbahnzug die Gleise überqueren darf, wenn er ganz sicher ist, diesen in seiner Weiterfahrt nicht zu behindern (ZVR 1980/140; ZVR 1962/165; ZVR 1959/158). Diese Bestimmung trage dem Umstand Rechnung, daß die an Gleise gebundenen Fahrzeuge nicht ausweichen können und überdies in der Regel ein geringeres Bremsvermögen haben. Ein Schienenfahrzeug könne aber erst dann als herannahend angesehen werden, wenn dessen Entfernung zum anderen Verkehrsteilnehmer etwa dem Bremsweg entspreche (ZVR 1984/259 mwN).
Der erkennende Senat vertritt nunmehr die Ansicht, daß einem PKW-Lenker eine Verletzung der angeführten Bestimmung nur dann vorgeworfen werden darf, wenn ihm ein Verlassen der Gleise möglich war und er dies unbegründet unterlassen hat.
Im vorliegenden Fall fehlen allerdings Feststellungen dazu, ob dem LKW-Lenker das Verlassen der Gleise bei Herannahen des Straßenbahnzuges verkehrsbedingt möglich gewesen wäre. Die Überlegungen des Berufungsgerichtes, der Lenker des LKWs der klagenden Partei hätte sein Fahrzeug ohne Beeinträchtigung des Fließverkehrs auf dem Franz Josefs-Kai so weit nach vor ziehen können, daß er die Straßenbahn, auf deren Herannahen er überhaupt nicht achtete, nicht gehindert hätte, lassen sich ohne ergänzende Feststellungen durch das Erstgericht nicht nachvollziehen.
Das Erstgericht wird daher nach ergänzender Verhandlung festzustellen haben, inwieweit es dem Lenker des LKWs der klagenden Partei möglich gewesen wäre, die Gleise zu verlassen.
Dieser Feststellungsmangel muß zur Aufhebung der Vorentscheidungen - soweit sie den klagsabweisenden Teil des Begehrens betreffen - führen.
Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.