OGH vom 27.08.2015, 1Ob129/15z
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ. Prof. Dr. Bydlinski, Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätin Dr. Hofer Zeni Rennhofer in der Pflegschaftssache des mj D***** H*****, geboren am , über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Pflegeeltern C***** L***** und T***** S*****, beide vertreten durch Dr. Gabriele Vana Kowarzik und Mag. Michaela Schmotzer, Rechtsanwältinnen in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 45 R 176/15p 63, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom , GZ 4 Ps 128/14h 43, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidung des Rekursgerichts wird in ihrem Ausspruch über den Obsorgeentzug und die Obsorgeübertragung aufgehoben. Dem Rekursgericht wird eine neuerliche Beschlussfassung über den Rekurs der Pflegeeltern aufgetragen.
Text
Begründung:
Nachdem der Minderjährige seiner Mutter im Alter von etwa vier Monaten abgenommen worden und vorerst bei Krisenpflegeeltern untergebracht worden war, beantragte der Kinder und Jugendhilfeträger, der Mutter die Obsorge zu entziehen und an ihn zu übertragen. In der Folge stellten darüber hinaus eine Tante (Schwester der Mutter) und eine Großmutter (Mutter des Vaters) Anträge auf Obsorgeübertragung an sie. Im Laufe des Verfahrens wurde die ursprüngliche Krisenpflege beendet. Seither wird das Kind von Pflegeeltern betreut.
Das Erstgericht wies die Anträge des Kinder und Jugendhilfeträgers sowie der Großmutter ab und übertrug die Obsorge ohne förmlichen Ausspruch über die Entziehung der Obsorge der Mutter unter mehreren Auflagen der Tante.
Das Rekursgericht gab dem dagegen von den Pflegeeltern erhobenen Rekurs, in dem diese die Obsorgeübertragung an die Tante bekämpften und eine Entscheidung begehrten, die eine weitere Betreuung durch die Pflegeeltern ermöglicht, etwa durch Obsorgeübertragung an den Kinder und Jugendhilfeträger, nicht Folge und bestätigte den erstgerichtlichen Beschluss mit der Maßgabe, dass der Mutter die Obsorge entzogen wird. Das Rekursgericht führte aus, dass den Rekurswerbern als Pflegeeltern Parteistellung im Verfahren zukomme, womit auch ihre Rechtsmittelbefugnis nicht in Frage stehe. Gegen jenen Teil des erstgerichtlichen Beschlusses, mit dem der Antrag des Kinder und Jugendhilfeträgers abgewiesen wurde, habe dieser jedoch kein Rechtsmittel erhoben; auch die die Obsorgeanträge anderer Verwandter abweisenden Beschlussteile seien mangels Rechtsmittels mittlerweile in Rechtskraft erwachsen. Somit sei lediglich der Obsorgeantrag der Tante offen. Gegen die Übertragung der Obsorge an diese hätten die Pflegeeltern jedoch lediglich dann ein inhaltlich zu prüfendes Rechtsmittel erheben können, wenn sie selbst die Obsorge spätestens in ihrem Rechtsmittel beantragt hätten. Die im Eventualantrag des Rekurses begehrte Übertragung der Obsorge an den Kinder und Jugendhilfeträger scheide aus, da dessen Antrag abgewiesen und von diesem nicht bekämpft worden sei. Da somit ein über den Obsorgeantrag der Tante hinausgehender offener Obsorgeantrag nicht vorliege, bestehe auch für die Pflegeeltern keine Möglichkeit, gegen die Obsorgeübertragung an die Tante mit ihrem Rechtsmittel Einwände zu erheben. Es sei dem Rekursgericht damit verwehrt, auf die Rekursargumente inhaltlich einzugehen. Der ordentliche Revisionsrekurs sei nicht zulässig, weil die Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG nicht vorlägen.
Rechtliche Beurteilung
Der dagegen von den Pflegeeltern erhobene Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht die Rechtsstellung der Pflegeeltern unrichtig beurteilt hat; er ist auch berechtigt.
Gemäß § 184 ABGB nF haben Pflegeeltern, also Personen, die die Pflege und Erziehung des Kindes ganz oder teilweise besorgen und zu denen eine dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern nahekommende Beziehung besteht oder hergestellt werden soll, das Recht in den die Person des Kindes betreffenden Verfahren Anträge zu stellen. Die Pflegeelternschaft begründet damit ein Antrags und Rechtsmittelrecht im Obsorgeverfahren (vgl nur die Nachweise bei Hopf in KBB 4 § 184 ABGB Rz 2; RIS Justiz RS0118141), und zwar auch in Verfahren, die nicht über ihren Antrag eingeleitet wurden (8 Ob 54/11s).
Dass es sich bei den Revisionsrekurswerbern um Pflegeeltern iSd § 184 ABGB handelt, war bisher nicht strittig und ergibt sich auch aus dem Gerichtsakt. Daraus ist insbesondere zu ersehen, dass die Unterbringung bei sogenannten „Krisenpflegeeltern“ während des Verfahrens erster Instanz beendet und das Kind seither von „Dauerpflegeeltern“ bzw von „Langzeitpflegeeltern“ betreut wird. Schon deshalb geht der in der Revisionsrekursbeantwortung der Mutter und der Tante enthaltene Hinweis darauf ins Leere, dass Krisenpflegeeltern, die nur für einen von vornherein begrenzten Zeitraum ein Kind aufnehmen, nicht unter den Pflegeelternbegriff fallen. Soweit darüber hinaus der in RIS Justiz zu RS0006506 aufgenommene Rechtssatz zitiert wird, übersehen die Revisionsrekursgegnerinnen offenbar, dass dieser Rechtssatz durch eine Änderung der Rechtslage überholt ist und seit der Entscheidung zu 1 Ob 664/89 gegenteilig judiziert wird.
Das Rekursgericht hat zwar die Rechtsmittellegitimation der Pflegeeltern grundsätzlich bejaht und daher das Rechtsmittel als zulässig angesehen, dann aber in inkonsequenter Weise eine inhaltliche Behandlung des Rechtsmittels abgelehnt, weil die Rekurswerber in der konkreten Verfahrenskonstellation mit ihren Argumenten nicht (mehr) gehört werden könnten. Abgesehen davon, dass der Rekurs der Pflegeeltern dann richtigerweise zurückzuweisen gewesen wäre, vermögen die Argumente des Rekursgerichts auch inhaltlich nicht zu überzeugen:
§ 184 Satz 2 ABGB, der von der Rechtsprechung zutreffend auf die Beteiligung an einem Rechtsmittelverfahren übertragen wird, begründet das eigenständige Recht von Pflegeeltern, sich in das Obsorgeverfahren mit Anträgen und Rechtsmitteln einzubringen, ohne dass es darauf ankäme, ob ein Verfahren über ihren eigenen Antrag oder den Antrag einer anderen Person eingeleitet wurde oder ob überhaupt im Wege amtswegigen Vorgehens geprüft wird, ob die bisher bestehenden Obsorgeverhältnisse geändert werden müssen. Es kann daher für ihre verfahrensrechtliche Rechtsstellung auch nicht von Bedeutung sein, ob andere Verfahrensbeteiligte ihre ursprünglichen Anträge weiterverfolgen bzw deren Abweisung nicht bekämpfen. Pflegeeltern haben auch in einer solchen Verfahrenssituation das Recht, den Versuch zu unternehmen, in einem Rechtsmittel aufzuzeigen, dass und inwieweit die angefochtene Entscheidung unrichtig ist und korrigiert werden müsse.
Im vorliegenden Fall wandten sich die Revisionsrekurswerber schon in ihrem Rekurs gegen die Übertragung der Obsorge an die Tante und begründeten, warum eine solche Übertragung dem Wohl des Kindes abträglich wäre. Warum ihnen diese verfahrensrechtliche Möglichkeit nicht offenstehen sollte, auch wenn der Kinder und Jugendhilfeträger seinen ursprünglichen Antrag auf Übertragung der Obsorge an ihn nicht weiterverfolgt hat, ist nicht verständlich, haben Pflegeeltern doch eben eine eigenständige Verfahrensposition, weshalb es ihnen nicht verwehrt werden kann, eine nach ihrer Ansicht unrichtige Gerichtsentscheidung zu bekämpfen. Wem die Obsorge schließlich übertragen wird, falls sich die Bedenken der Pflegeeltern als zutreffend erweisen sollten, hat das Pflegschaftsgericht von Amts wegen zu beurteilen. Selbstverständlich käme auch eine Obsorgeübertragung an den Kinder und Jugendhilfeträger in Betracht, der im Verfahren stets erkennen ließ, dass er eine solche Lösung durchaus für sachgerecht hielte, auch wenn er von einem eigenen Rechtsmittel Abstand genommen hat.
Das Rekursgericht wird den Rekurs der Pflegeeltern daher im fortgesetzten Verfahren neuerlich zu behandeln und auf die darin enthaltenen Ausführungen inhaltlich einzugehen haben.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:OGH0002:2015:0010OB00129.15Z.0827.000