OGH vom 31.08.2016, 7Ob126/16d
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr.
Kalivoda als Vorsitzende und durch die Hofräte Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und Dr. Singer als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache der Bewohnerin S***** L*****, geboren am ***** 1976, *****, vertreten durch den Verein VertretungsNetz Sachwalterschaft, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung (Bewohnervertreterin Mag. A***** N*****), 5020 Salzburg, Petersbrunnstraße 9, vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, Sachwalter Dr. R***** G*****, Einrichtungsleiterin A***** H***** MIM, *****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vereins gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom , GZ 21 R 143/16z 39, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
1. Nach § 3 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung im Sinne dieses Bundesgesetzes vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen, oder durch deren Androhung unterbunden wird. In diesem Sinn liegt eine Freiheitsbeschränkung dann vor, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern (RIS-Justiz RS0075871, RS0121662).
2.1. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel nur zu bejahen, wenn die Behandlung unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckt, nicht jedoch bei unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei der Verfolgung anderer therapeutischer Ziele ergeben können (RIS-Justiz RS0121227). Die abschließende Beurteilung, ob eine Freiheitsbeschränkung vorliegt, erfordert Feststellungen darüber, 1. welchen therapeutischen Zweck die Anwendung jedes einzelnen der zu überprüfenden Medikamente verfolgt, 2. ob die Medikamente (insbesondere in der dem Bewohner verabreichten Dosierung und Kombination) dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt wurden und werden und 3. welche konkrete Wirkung für den Bewohner mit dem Einsatz der Medikamente verbunden war und ist (RIS-Justiz RS0123875).
2.2. Nach den in dritter Instanz nicht mehr angreifbaren Feststellungen diente die zu überprüfende Medikation der Reduktion der mit der Erkrankung der Bewohnerin einhergehenden Verhaltensstörung, somit der Hintanhaltung autoaggressiver Handlungen und möglichen fremdaggressiven Verhaltens, und demnach nicht der Behandlung eines „Bewegungsüberschusses“. Weiters steht fest, dass die Medikation relativ gering war und daraus keine wesentliche Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit resultierte.
2.3. Da die Medikation nicht auf eine Unterbindung der Ortsveränderung abzielte und auch eine beachtliche Bewegungseinschränkung nicht eintrat, hält sich die Rechtsansicht des Rekursgerichts, es liege keine Freiheitsbeschränkung im Sinn von § 3 HeimAufG vor, im Rahmen der Judikatur.
3.1. Eine Freiheitsbeschränkung setzt nicht notwendigerweise die Anwendung physischen Zwangs voraus. Es genügt auch dessen Androhung. Der Begriff der Androhung ist im spezifischen Konnex der Pflege oder Betreuung des Bewohners zu verstehen. Es ist nicht erforderlich, dass ihm von der anordnungsbefugten Person oder anderen Bediensteten konkret mit freiheitsentziehenden Maßnahmen „gedroht“ wird. Vielmehr reicht es aus, wenn er aus dem Gesamtbild des Geschehens den Eindruck gewinnen muss, dass er den Aufenthaltsort nicht mehr verlassen kann. In solchen Fällen wird es also darauf ankommen, ob der Bewohner ungehindert von äußerem Zwang seinen Aufenthaltsort nach freiem Willen verlassen kann oder mit einem physischen Zugriff rechnen muss (7 Ob 139/14p und 7 Ob 226/06w jeweils unter Verweis auf ErläutRV 353 BlgNR 22. GP 8 ff).
3.2. Die Rechtsansicht des Rekursgerichts, das bloße Überreden der Bewohnerin, in einem bestimmten Bereich zu bleiben, stelle noch keine Freiheitsbeschränkung dar, ist nicht zu beanstanden. Nach den geführten Aufzeichnungen wurde die Bewohnerin in Situationen eigenaggressiven Verhaltens „aufgefordert“ (nach den Feststellungen: gebeten), in ihr Zimmer zu gehen. Dem kam sie selbständig nach, ohne dass ihr irgendwelche Konsequenzen angedroht wurden. Die Zimmertür blieb nicht nur unversperrt, sondern sogar einen Spalt weit offen. Sie verließ ihr Zimmer wieder selbständig, wenn sie sich beruhigt hatte.
Für die vom Revisionsrekurs geäußerte Vermutung, die schwer behinderte Bewohnerin, die seit ihrem 7. Lebensjahr in der Einrichtung wohnt, hätte wegen der jahrzehntelangen Übung den Eindruck haben können, keine andere Möglichkeit zu haben, als der Aufforderung der Pflegepersonen zu folgen, gibt es keine Anhaltspunkte. Der Revisionsrekurs stützt sich auf einen Vorfall, bei dem die Bewohnerin für ein Verhalten belohnt wurde (Schokobanane). Dieser (noch dazu einmalige) Vorgang ist kein Indiz dafür, dass sie an ein behauptetes System von Sanktionen (welche?) gewöhnt wäre. Auch ihr festgestelltes Verhalten zeigt nicht an, dass sie aufgrund ihrer Lebenserfahrung bereits eine bloße Aufforderung, in ihr Zimmer zu gehen, als eine Androhung von Zwang auffasste.
4. Da die im Revisionsrekurs aufgezeigten Argumente berücksichtigt wurden, stellt sich die Frage der Geltung des Neuerungsverbots im Rahmen eines Verfahrens nach dem HeimAufG nicht.
5. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).
European Case Law Identifier
ECLI:AT:OGH0002:2016:0070OB00126.16D.0831.000