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OGH vom 18.09.2019, 7Ob123/19t

OGH vom 18.09.2019, 7Ob123/19t

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj U***** C*****, geboren am ***** 2017, Mutter P***** C*****, vertreten durch Dr. Sabine Riehs-Hilbert, Rechtsanwältin in Wien, Vater J***** O*****, vertreten durch Dr. Gabriele Vana-Kowarzik und Mag. Michaela Schmotzer, Rechtsanwältinnen in Wien, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 48 R 81/19w-217, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Josefstadt vom , GZ 1 PS 107/17g-185, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Die Mutter ist Norwegerin, der Vater Österreicher. Die Eltern trennten sich nach einer Bekanntschaft von Februar bis August 2017 noch vor der Geburt der Minderjährigen. Ende September 2017 flog die Mutter nach Wien, um neuerlich das Gespräch mit dem Vater zu suchen. Sie brachte am ***** 2017 in der 23+3 Schwangerschaftswoche die Minderjährige zur Welt, die aufgrund ihrer körperlichen Unreife und ihres immer wieder kritischen Zustands bis Ende Juni 2018 gemeinsam mit der Mutter im AKH Wien aufgenommen war.

Trotz des kritischen Zustands der Minderjährigen kam es zwischen den Eltern von Beginn an zu Streitigkeiten auch über die Ausgestaltung des Kontakts des Vaters, die sogar zu einer Belastung des Spitalpersonals führten. Der Vater verbrachte bis täglich rund 8–9 Stunden mit der Minderjährigen, dann aufgrund einer Regelung vor dem Jugendamt täglich mehrere Stunden, wobei die Mutter diese Vereinbarung am einseitig abänderte und dem Vater nur noch jeden zweiten Tag vier Stunden Kontakt zugestand. Im Zuge der Entlassung der Minderjährigen aus dem Spital kam es wieder zu Auseinandersetzungen, weil sich die Eltern nicht einigen konnten, wo die Minderjährige wohnen sollte. Schließlich mietete die Mutter eine Wohnung in Wien. Dort kümmerten sich die Eltern gemeinsam um das Kind. Als die Mutter von 26. 8. bis nach Norwegen fliegen musste, blieb das Kind letztlich beim Vater und der väterlichen Großmutter in W*****. In der Folge kam es wieder zu massiven Konflikten, die auch zu Polizeieinsätzen und einer Wegweisung des Vaters im Oktober 2018 führten. Dem lag zugrunde, dass die Minderjährige für einen Termin im AKH, die Mutter aber gleichzeitig einen Workshop hatte und sie darauf bestand, dass der Vater den Termin nicht allein mit der Tochter wahrnehmen dürfe. Sie übergab ihm die Minderjährige nicht wie vereinbart. Die Mutter rief die Polizei und gab an, verletzt zu sein, wobei äußere Verletzungen nicht wahrgenommen werden konnten.

Grundsätzlich sind beide Eltern sicher und geübt im Umgang mit den besonderen Bedürfnissen und der schwierigen Betreuung des Kindes, beide sind auch wichtige Bezugspersonen. Der Vater bringt dem Kind Ruhe und emotionale Stabilität; er hat weniger Einschränkungen im Bereich Bindungstoleranz sowie Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit und gibt dem Kind Raum für Entwicklung. Seine Zukunftspläne sind realistisch. Er ist emotional stabiler als die Mutter. Die Mutter bringt Anregung und Aktivität ein und ermöglicht dem Kind dadurch Entwicklung. Sie hat für das Kind sehr viele Einschränkungen in Kauf genommen, auch weil sie in Österreich blieb. Sie hofft auf die vertraute Umgebung bei einer Rückkehr nach Norwegen und Konfliktentlastung und Ruhe durch eine räumliche Trennung vom Vater. Sie neigt aber selbst zur Unruhe und reagiert auf Belastungen mit emotionalen Schwankungen und Impulshaftigkeit, die ihre Beziehungsfähigkeit einschränken. Probleme treten insbesondere zu Tage, wenn ihren Vorstellungen nicht gefolgt oder ihre Sicht hinterfragt wird. Ihre unverrückbare Meinung verstellt ihr die Sicht auf die Bedürfnisse des Kindes. In diesem Zusammenhang kann sie auch keine professionelle Hilfe annehmen. Aufgrund ihrer Persönlichkeit sind ihre (Zukunfts-)Erwartungen wenig realistisch. Es ist anzunehmen, dass es zu wenig Kontinuität in der Lebensführung kommen wird.

Der Vater beantragte bereits drei Tage nach der Geburt des Kindes, ihm die alleinige, hilfsweise die gemeinsame Obsorge mit Hauptaufenthalt bei ihm zu übertragen.

Die Mutter lehnte die gemeinsame Obsorge ab.

Das Erstgericht übertrug die Obsorge den Eltern gemeinsam und legte den Hauptaufenthalt beim Vater fest. Weiters trug es den Eltern auf, zehn weitere Stunden Erziehungsberatung zu absolvieren. Das Kind habe zu beiden Elternteilen eine enge Beziehung, weshalb trotz der Konflikte die gemeinsame Obsorge auszusprechen und im Hinblick auf die festgestellten Persönlichkeitsstrukturen der Hauptaufenthalt beim Vater festzulegen sei.

Das Rekursgericht wies über Rekurs der Mutter den Antrag des Vaters auf gemeinsame Obsorge ab. Zwar solle seit dem KindNamRÄG 2013 die gemeinsame Obsorge eher die Regel sein, hier liege aber keine „normale“ Familiensituation vor, sondern sei, weil der Vater in Österreich lebe und die Mutter die Rückkehr nach Norwegen plane, aufgrund der erheblichen räumlichen Entfernung die Herstellung von ausreichenden Kontakten für das bei gemeinsamer Obsorge erforderliche Mindestmaß an Kooperation und Kommunikation nicht zu erwarten. Ein Fall des § 181 ABGB liege nicht vor. Es habe daher bei der alleinigen Obsorge der Mutter zu bleiben.

Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters, mit einem Abänderungsantrag. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Mutter beantragt in der ihr freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, den außerordentlichen Revisionsrekurs zurückzuweisen, hilfsweise, ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, er ist auch berechtigt.

1. Die Minderjährige ist (zumindest auch) österreichische Staatsbürgerin. Alle Beteiligten haben ihren Aufenthalt seit der Geburt des Kindes in Österreich. Die von den Vorinstanzen bejahte und ungerügt gebliebene Maßgeblichkeit österreichischen Rechts folgt aus Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO iVm Art 1 Abs 1 lit b und Art 15 Abs 1 KSÜ (7 Ob 170/17a; RS0127234 [T1]).

2. Gemäß § 177 Abs 2 ABGB kommt dann, wenn die Eltern im Zeitpunkt der Geburt nicht verheiratet sind, der Mutter die alleinige Obsorge zu, was grundsätzlich verfassungsrechtlich unbedenklich ist(Hopf in KBB5 § 177 Rz 2).

Seit dem KindNamRÄG 2013 kann aber der Vater auch gegen den Willen der Mutter an der Obsorge beteiligt oder zur Gänze mit ihr betraut werden. Nach dieser neuen Rechtslage ist für die Obsorgeregelung ausschließlich das Kindeswohl maßgeblich. Das Kindesinteresse ist dem Willen der Eltern übergeordnet. Für die Anordnung der beiderseitigen Obsorge ist daher die Beurteilung maßgebend, ob die Interessen des Kindes auf diese Weise am besten gewahrt werden können (RS0130247). Im Gegensatz zur Rechtslage davor soll nunmehr die Obsorge beider Elternteile eher die Regel sein (RS0128811), insbesondere, wenn eine „normale“ familiäre Situation zwischen den Eltern und auch zwischen den Eltern und dem Kind besteht (8 Ob 40/15p = RS0128811 [T2]).

3. § 180 Abs 1 ABGB ordnet eine vorläufige Regelung der elterlichen Verantwortung an, sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht. Das Gericht hat von Amts wegen zu beurteilen, ob es eine solche Phase der vorläufigen elterlichen Verantwortung einleitet oder ob es ohne eine solche endgültig über die Obsorge und den Elternteil, in dessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut werden soll, entscheidet (RS0128813).

4. Das Gesetz stellt keine näheren Kriterien dafür auf, ob eine Alleinobsorge eines Elternteils oder eine Obsorge beider Eltern anzuordnen ist. Es kommt darauf an, ob die Alleinobsorge eines Elternteils oder die Obsorge beider Eltern dem Wohl des Kindes besser entspricht. Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Eltern setzt aber ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit beider voraus. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und einen Entschluss zu fassen. Es ist also eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob bereits jetzt eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder ob zumindest in absehbarer Zeit mit einer solchen gerechnet werden kann (RS0128812). Zu beachten ist aber, dass der die Alleinobsorge anstrebende bzw innehabende Elternteil die Kooperation und Kommunikation nicht schuldhaft verweigern oder erschweren darf, weil er es ansonsten in der Hand hätte, die Belassung bzw Anordnung der beiderseitigen Obsorge einseitig zu verhindern (9 Ob 51/16i; 8 Ob 146/15a). Zur Herstellung der erforderlichen Gesprächsbasis kann bei ausreichender Aussicht auf Erfolg auch auf die vom Gesetzgeber zur Verfügung gestellten Mittel des § 107 Abs 3 AußStrG zurückgegriffen werden (8 Ob 152/17m).

5. Das Rekursgericht hat das Hindernis für eine gemeinsame Obsorge in der zukünftigen räumlichen Entfernung der Eltern gesehen. Wann die Mutter tatsächlich nach Norwegen zurückzukehren plant, steht aber noch nicht konkret fest. Abgesehen davon steht dieser Umstand der Anordnung der gemeinsamen Obsorge grundsätzlich nicht entgegen:

Die Obsorge beider Eltern setzt ein gewisses Mindestmaß an Kontakt zwischen den Eltern und zum Kind voraus (10 Ob 55/18p; 8 Ob 40/15p), sodass bei räumlicher Entfernung der Eltern elektronische Kommunikationsmedien an Wichtigkeit gewinnen. Ob diese ausreichen, ist eine Frage des Einzellfalls. Es wurde wiederholt betont, dass es in der Kommunikation zwischen den Eltern als Grundlage für eine verantwortungsvolle Kooperation in erster Linie auf die jeweilige Bereitschaft zum Informationsaustausch und nicht auf die Art der Nachrichtenübermittlung ankommt. Auch mittels elektronischer Kommunikationsmedien kann durchaus auf einer sachlichen Ebene miteinander kommuniziert werden (8 Ob 152/17m; 9 Ob 51/16i; 10 Ob 22/16g; 10 Ob 55/18p; RS0132055). Dies wurde auch schon bei Wohnsitzen der Eltern in verschiedenen Staaten grundsätzlich bejaht (10 Ob 55/18p; 1 Ob 7/19i; 9 Ob 51/16i).

Der Rechtsansicht des Rekursgerichts, dass bereits die Distanz der geplanten Wohnsitze der Eltern gegen die gemeinsame Obsorge spricht, widerspricht damit der Judikatur.

6. Damit abschließend über die Anträge des Vaters entschieden werden kann, bedarf es aber weiterer Feststellungen:

Es sind für jetzt und die absehbare Zukunft allfällige Planung der Rückkehr der Mutter nach Norwegen einerseits die besonderen Betreuungsbedürfnisse des Kindes und andererseits die jeweilige berufliche Situation der Eltern und ihre Betreuungsmöglichkeiten genauso zu klären, wie die Frage, wie die Eltern die Kommunikation und die Betreuung des Kindes in diesem Fall gestalten wollen.

Erst nach dieser Verbreiterung des Sachverhalts kann abschließend beurteilt werden, ob für die gemeinsame Obsorge eine ausreichende Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit und Bereitschaft dazu zwischen den Eltern besteht und ob diese im Interesse des Kindeswohls liegt, zutreffendenfalls, in welchem Haushalt das Kind seinem Wohl entsprechend hauptsächlich betreut werden soll (RS0128811).

7. Es sind daher die Beschlüsse der Vorinstanzen aufzuheben.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2019:0070OB00123.19T.0918.000

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