OGH vom 20.10.2010, 1Ob123/10k

OGH vom 20.10.2010, 1Ob123/10k

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Hofrätin Dr. Fichtenau als Vorsitzende sowie die Hofräte Univ. Prof.Dr.Bydlinski, Dr.Grohmann, Univ. Prof. Dr.Kodek und Dr. E. Solé als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei V***** AG, *****, vertreten durch Fiebinger Polak Leon Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei K***** GmbH, *****, vertreten durch SchneideR'S Rechtsanwalts KG in Wien, wegen 223.082,36 EUR sA und Feststellung (Streitwert 35.000 EUR), infolge Rekurses der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom , GZ 3 R 49/10s 10, mit dem das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom , GZ 26 Cg 197/09f 6, im Umfang der Entscheidung über das Feststellungsbegehren einschließlich des erstinstanzlichen Verfahrens als nichtig aufgehoben und das Feststellungsbegehren zurückgewiesen wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der Beschluss des Berufungsgerichts wird aufgehoben und diesem eine Entscheidung über die Berufung unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.959,48 EUR (darin 356,58 EUR USt) bestimmten Kosten des Rekurses binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

Die Klägerin betreibt ein Elektrizitätsunternehmen mit zahlreichen Wasserkraftwerken in Österreich; sie ist damit ein „Erzeuger“ iSd § 7 Z 11 Elektrizitätswirtschafts und Organisationsgesetz (ElWOG). Die Beklagte betreibt in Kärnten ein Elektrizitäts Verteilernetz; sie ist als „Verteilernetzbetreiber“ iSd § 7 Z 43a ElWOG verantwortlich für den Betrieb, die Wartung sowie erforderlichenfalls den Aufbau des Verteilernetzes in einem bestimmten Gebiet und gegebenenfalls der Verbindungsleitungen zu anderen Netzen sowie für die Sicherstellung der langfristigen Fähigkeiten des Netzes, eine angemessene Nachfrage nach Verteilung von Elektrizität zu befriedigen. Aufgrund der Novelle 2009 zur Systemnutzungstarife Verordnung 2006 stellt die Beklagte der Klägerin unter anderem auch Netzverlustentgelt gemäß § 25 Abs 1 Z 3 ElWOG in Rechnung.

Die Klägerin begehrte nun gestützt auf § 16 Abs 1 Z 5 Energie Regulierungsbehördengesetz (E RBG) und § 21 Abs 2 ElWOG bei der Energie Control Kommission (ECK) unter anderem die Erlassung eines Bescheids gegen die Beklagte als Antragsgegnerin, in dem festgestellt werden möge, dass die Antragstellerin (Klägerin) nicht verpflichtet ist, für die Einspeisung von Elektrizität aus ihren Wasserkraftwerken, die an das Netz der Antragsgegnerin angeschlossen sind, an letztere ein Netzverlustentgelt zu entrichten. Nachdem der diesen Antrag abweisende Bescheid der ECK der Klägerin am zugestellt worden war, gab sie am die Klage in diesem Verfahren zur Post, in der sie unter anderem die Feststellung begehrte, die Beklagte habe ihr gegenüber keinen Rechtsanspruch, für die Einspeisung von Elektrizität aus den Wasserkraftwerken der Klägerin, die an das Netz der Beklagten angeschlossen sind, ein Netzverlustentgelt zu fordern.

Die Beklagte erhob neben meritorischen Einwendungen in ihrer Klagebeantwortung die Einrede der „Unzuständigkeit“ des Gerichts, weil die Klage nicht innerhalb von vier Wochen nach Zustellung des Bescheids der ECK bei Gericht anhängig gemacht worden sei. Weiters erachtete sie das Gericht hinsichtlich des Feststellungsbegehrens für „unzuständig“, weil mit dem Feststellungsantrag etwas anderes begehrt werde, als im Streitschlichtungsantrag der Klägerin bei der ECK. Sei dort die Feststellung begehrt worden, die Klägerin sei nicht verpflichtet, Netzverlustentgelte zu entrichten, solle nun festgestellt werden, dass die Beklagte keinen Rechtsanspruch habe, ein Netzverlustentgelt zu fordern.

Das Erstgericht verwarf die [Einrede der] Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts und wies das Klagebegehren ab. Zu seiner Formalentscheidung führte es allein aus, der Bescheid der ECK sei der Klägerin am zugestellt worden, sodass die am zur Post gegebene Klage jedenfalls binnen vier Wochen nach Zustellung des Bescheids erhoben worden sei, weshalb der diesbezügliche Einwand der Beklagten zu verwerfen sei. Auf die von der Beklagten weiters aufgeworfene Frage der Übereinstimmung zwischen dem Gegenstand des Streitschlichtungsantrags vor der ECK und dem Feststellungsbegehren ging das Erstgericht nicht ein.

Das Berufungsgericht hob aus Anlass der Berufung der Klägerin das Ersturteil über das Feststellungsbegehren sowie das darüber durchgeführte erstinstanzliche Verfahren als nichtig auf und wies das Feststellungsbegehren zurück; es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands insoweit 30.000 EUR übersteige und der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Eine Partei, die sich mit der Entscheidung der ECK gemäß § 16 Abs 1 Z 5 E RBG nicht zufrieden gibt, könne zwar gemäß § 16 Abs 3a E RBG die Sache bei Gericht anhängig machen, das im Sinne einer sukzessiven Kompetenz zuständig sei. Vor Gericht dürfe der bei der ECK erhobene Antrag aber weder erweitert noch geändert werden. Das bei Gericht erhobene Feststellungsbegehren sei mit dem vor der ECK gestellten Antrag allerdings nicht identisch. Dies ergebe sich schon daraus, dass der Gläubiger einen Rechtsanspruch auf Zahlung einer verjährten Forderung, der Schuldner aber keine Verpflichtung zur Tilgung dieser verjährten Schuld habe. Die Verjährung führe nicht zum Erlöschen des Rechts, sie hindere bloß dessen klageweise Durchsetzung, wenn der Beklagte die Verjährungseinrede erhebt. Die Änderung (Ausdehnung) des Antrags der Klägerin nach Wahrnehmung der sukzessiven Zuständigkeit durch das Gericht führe von Amts wegen wegen des Fehlens der zwingenden Prozessvoraussetzung der Anrufung der ECK und der daraus resultierenden Unzulässigkeit des Rechtswegs zur Nichtigkeitserklärung des Verfahrens und zur Zurückweisung des Feststellungsbegehrens.

Der „Vollrekurs“ (§ 519 Abs 1 Z 1 ZPO) komme gegen diesen berufungsgerichtlichen Beschluss nicht in Betracht, weil das Prozesshindernis bereits Gegenstand des Verfahrens erster Instanz und der erstgerichtlichen Entscheidung gewesen sei. Ein Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof unterliege daher den Beschränkungen des § 528 Abs 2 ZPO. Da erhebliche Rechtsfragen iSd § 528 Abs 1 ZPO nicht zu beantworten gewesen seien, bestehe kein Anlass, den ordentlichen Revisionsrekurs zuzulassen.

Dagegen richtet sich der Rekurs der Klägerin, in dem die Auffassung vertreten wird, die Rechtsmittelbeschränkungen des § 528 ZPO kämen im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung. Die Beklagte schloss sich in ihrer Rekursbeantwortung der Rechtsansicht des Berufungsgerichts an, das Begehren auf Feststellung, dass keine Zahlungsverpflichtung einer Vertragspartei bestehe, sei nicht ident mit dem Begehren auf Feststellung, dass die andere Vertragspartei keinen Rechtsanspruch hätte, ein Entgelt zu fordern, und beantragte, den angefochtenen Beschluss auf Zurückweisung des Feststellungsbegehrens zu bestätigen.

Rechtliche Beurteilung

Das Berufungsgericht hat zwar richtig darauf hingewiesen, dass der „Vollrekurs“ gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO nach herrschender Rechtsprechung dann nicht zur Anwendung kommt, wenn die Frage des Vorliegens eines (bestimmten) Prozesshindernisses bereits Gegenstand des erstgerichtlichen Verfahrens und der erstgerichtlichen Entscheidung war (RIS Justiz RS0116348). Hier war aber die Einrede der Unzulässigkeit des Rechtswegs wegen unterlassener Anrufung der ECK gerade nicht Gegenstand der Entscheidung des Erstgerichts. Dieses hatte die entsprechende Prozesseinrede der Beklagten offenbar übersehen und sich ausschließlich mit der Frage der „Rechtzeitigkeit“ der Klageerhebung nach Zustellung des Bescheids der ECK befasst. Vielmehr hat sich erstmals das Berufungsgericht mit der Frage der Rechtswegzulässigkeit (wegen unterlassener vorheriger Anrufung der ECK) auseinandergesetzt und einen Nichtigkeitsgrund angenommen, weil es die Auffassung vertrat, der Gegenstand des Feststellungsbegehrens sei mit jenem des Feststellungsantrags vor der ECK nicht ident.

Zutreffend verweist daher die Rekurswerberin darauf, dass in einem Fall wie dem vorliegenden § 519 Abs 1 ZPO anzuwenden ist, ist doch das Gericht zweiter Instanz insoweit wegen des Fehlens einer erstgerichtlichen Entscheidung über die Prozesseinrede nicht als Rekursgericht tätig geworden, sondern hat es in seiner Funktion als Berufungsgericht einen (vermeintlichen) Nichtigkeitsgrund, der vom Erstgericht auch nicht implizit behandelt worden war, erstmals aufgegriffen. Gegen eine solche Entscheidung des Berufungsgerichts ist nun der Rekurs gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO jedenfalls zulässig, auch wenn keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 528 Abs 1 bzw § 502 Abs 1 ZPO zu beantworten ist (RIS Justiz RS0043861).

Der Ausspruch des Berufungsgerichts über die Unzulässigkeit des ordentlichen Revisionsrekurses entspricht somit nicht dem Gesetz und ist unbeachtlich, weil eben ein Ausspruch über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines Rechtsmittels an den Obersten Gerichtshof gar nicht zu erfolgen gehabt hätte.

Auch in der Sache vermag sich der erkennende Senat der Argumentation der Revisionsgegnerin und des Berufungsgerichts nicht anzuschließen. Inwiefern die Verjährungsfrage bei der Auslegung der unterschiedlich formulierten Begehren im Verfahren vor der ECK und dem gerichtlichen Verfahren eine Rolle spielen könnte, ist schon deshalb nicht zu erkennen, weil die Klägerin (durchgehend) eine negative Feststellung anstrebt, die alle Formen von Forderungen bzw Verbindlichkeiten erfassen kann. Letztlich erscheint auch nicht nachvollziehbar, warum der Gläubiger zwar einen Rechtsanspruch auf Zahlung einer verjährten Forderung habe, den Schuldner aber keine Verpflichtung zur Tilgung dieser verjährten Schuld treffen sollte. Auch im Falle der Erhebung einer Verjährungseinrede des Schuldners besteht die Forderung (= Rechtsanspruch) des Gläubigers als (bloße) Naturalobligation weiter, wobei den Schuldner weiterhin die wenn auch nicht gerichtlich durchsetzbare, sondern ebenfalls „natürliche“ bzw „unvollkommene“ Verbindlichkeit trifft, diese Forderung zu begleichen (vgl dazu nur Rummel in Rummel I 3 , § 859 Rz 12 mwN). Auch wenn man also der Klägerin unterstellen wollte, mit ihrem Feststellungsbegehren auch verjährte Forderungen erfassen zu wollen, kann dies für die Beurteilung der Identität des Streitgegenstands in den beiden Verfahren keine entscheidungserhebliche Bedeutung haben.

Der erkennende Senat hat keine Bedenken gegen die Auffassung der Klägerin, die Begehren, sie sei nicht verpflichtet an die Beklagte ein Netzverlustentgelt zu entrichten bzw die Beklagte habe ihr gegenüber keinen Rechtsanspruch, ein Netzverlustentgelt zu fordern, als ident anzusehen, liegt doch auch dann Identität des Streitgegenstands vor, wenn das begriffliche Gegenteil begehrt wird (vgl nur Fasching , Lehrbuch 2 Rz 1517; Rechberger in Rechberger 3 § 411 Rz 8 mwN). Das Gleiche muss gelten, wenn in einem zweipersonalen Rechtsverhältnis die begehrte negative Feststellung einmal aus der Sicht des möglichen Gläubigers („kein Rechtsanspruch“) und einmal aus der Sicht des möglichen Schuldners („keine Zahlungspflicht“) formuliert wird.

Hat nun das Berufungsgericht zu Unrecht die Unzulässigkeit des Klagewegs wegen vermeintlich fehlender Identität des Klagebegehrens mit dem Begehren vor der ECK angenommen, muss der auf dieser Rechtsansicht basierende Zurückweisungsbeschluss der Aufhebung verfallen. Das Berufungsgericht wird im fortgesetzten Verfahren auch über diesen Teil der Berufung der Klägerin meritorisch zu entscheiden haben.

Der Vollständigkeit halber wird darauf hingewiesen, dass eine Entscheidung über die im Zusammenhang mit dem (abgewiesenen) Zahlungsbegehren erhobene Revision der Klägerin erst erfolgen wird, wenn die (aufgetragene) Entscheidung des Berufungsgerichts über das Feststellungsbegehren in Rechtskraft erwachsen ist bzw dem Obersten Gerichtshof ein Rechtsmittel dagegen vorgelegt wird.

Bei der Entscheidung über die Kosten des Rekursverfahrens ist zu berücksichtigen, dass insoweit ein Zwischenstreit über die Zulässigkeit des Rechtswegs vorliegt, hat die Beklagte doch schon in erster Instanz die Identität der Streitgegenstände bestritten und noch in ihrer Rekursbeantwortung die Zurückweisungsentscheidung des Berufungsgerichts verteidigt. Infolge des Obsiegens der Klägerin in diesem Zwischenstreit hat ihr die Beklagte die auf einer Bemessungsgrundlage von 35.000 EUR (Teilstreitwert des Feststellungsbegehrens) berechneten Rekurskosten zu ersetzen.