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OGH vom 21.11.2017, 4Ob197/17z

OGH vom 21.11.2017, 4Ob197/17z

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Jensik, Dr. Schwarzenbacher, Dr. Rassi und MMag. Matzka als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj S***** P***** und der mj S***** P*****, beide im Haushalt ihrer Mutter N***** H*****, aus Anlass des Rekurses der Minderjährigen, vertreten durch ihre Mutter N***** H*****, diese vertreten durch Dr. Stefan Gloss und andere Rechtsanwälte in St. Pölten, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten vom , GZ 23 Nc 4/17w-3, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Oberste Gerichtshof ist für die Behandlung des Rekurses funktionell unzuständig. Die Rechtssache wird dem dafür zuständigen Oberlandesgericht Wien überwiesen.

Text

Begründung:

Die Eltern der beiden Minderjährigen sind verheiratet, leben aber getrennt. Zwischen Oktober 2015 und Mai 2016 bezog die Mutter gemeinsam mit den Kindern im Sprengel des Bezirksgerichts Melk eine Wohnung unweit des ehemals gemeinsam mit dem Vater bewohnten Hauses. Im Mai 2017 zog die Mutter gemeinsam mit ihren Kindern in das Haus ihres nunmehrigen Lebensgefährten, das im Sprengel des Bezirksgerichts St. Pölten liegt.

Am beantragte der Vater beim Bezirksgericht Melk, die gemeinsame Obsorge beizubehalten und den hauptsächlichen Aufenthalt der Kinder in seinem Haushalt festzulegen. Die Mutter trat diesem Antrag entgegen und beantragte ihrerseits die hauptsächliche Betreuung der Kinder in ihrem Haushalt. Gegenüber der Familien und Jugendgerichtshilfe Amstetten erklärten die Eltern zwar ihr Einverständnis mit einer weiterhin gemeinsamen Obsorge bei hauptsächlichem Aufenthalt der Kinder im Haushalt der Mutter, vor Gericht konnte aber keine Einigung erzielt werden. Das vom Vater eingeleitete Verfahren ist daher beim Bezirksgericht Melk nach wie vor anhängig.

Die Minderjährigen beantragten am beim Bezirksgericht St. Pölten die Festsetzung der Geldunterhaltsverpflichtung des Vaters. Das Bezirksgericht St. Pölten übermittelte diesen Antrag dem Bezirksgericht Melk gemäß § 44 JN zuständigkeitshalber.

Am übertrug das Bezirksgericht Melk die Zuständigkeit zur Besorgung des Unterhaltsteilakts der beiden Kinder an das Bezirksgericht St. Pölten und wies auf den ständigen Aufenthalt beider Minderjährigen im Sprengel dieses Gerichts hin. Dieser Beschluss wurde den Parteien zugestellt und erwuchs in Rechtskraft.

Das Bezirksgericht St. Pölten verweigerte die Übernahme der Zuständigkeit und begründete dies mit der aufrechten Ehe der Eltern, dem beim Bezirksgericht Melk nach wie vor anhängigen Obsorgeverfahren und der Unzweckmäßigkeit der Zuständigkeit zur Führung von Teilakten in einem Pflegschaftsverfahren durch unterschiedliche Erstgerichte.

Mit dem angefochtenen Beschluss verweigerte das Landesgericht St. Pölten als beiden Bezirksgerichten übergeordneter Gerichtshof die Genehmigung der Übertragung. Zwar sei wegen der Eigenständigkeit der in einem gemeinschaftlichen Pflegschaftsakt zusammengefassten Verfahren die Teilübertragung der Zuständigkeit nach § 111 JN für einen Teilakt an ein anderes Gericht grundsätzlich möglich, diese Möglichkeit sei aber äußerst restriktiv zu nutzen. Im Allgemeinen liege es im Interesse des Pflegebefohlenen, wenn für die Entscheidung über mehrere offene Anträge auch ein und dasselbe Pflegschaftsgericht zuständig sei. Das Bezirksgericht Melk solle daher auch das Unterhaltsteilverfahren führen.

Dagegen richtet sich der beim Landesgericht St. Pölten eingebrachte Rekurs der durch ihre Mutter vertretenen Kinder, mit dem sie die Genehmigung der Zuständigkeitsübertragung anstreben.

Der Oberste Gerichtshof ist zur Behandlung des Rekurses funktionell nicht zuständig, weshalb die Rechtssache dem Oberlandesgericht Wien zur Erledigung des Rechtsmittels zu überweisen ist.

Rechtliche Beurteilung

1.1 Die Bestimmung des § 111 JN regelt die Übertragung der pflegschaftsgerichtlichen Zuständigkeit wie folgt:

(1) Wenn dies im Interesse eines Minderjährigen oder sonst Pflegebefohlenen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch die wirksame Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich gefördert wird, kann das zur Besorgung der pflegschaftsgerichtlichen Geschäfte zuständige Gericht von Amts wegen oder auf Antrag seine Zuständigkeit ganz oder zum Teil einem anderen Gericht übertragen.

(2) Die Übertragung wird wirksam, wenn das andere Gericht die Zuständigkeit oder die ihm übertragenen Geschäfte übernimmt. Im Falle der Weigerung des anderen Gerichtes bedarf die Übertragung zu ihrer Wirksamkeit der Genehmigung des den beiden Gerichten zunächst übergeordneten gemeinsamen höheren Gerichtes.

1.2 Die Regelung des § 111 Abs 2 JN dient auch dem Schutz der Parteien davor, dass sich das Pflegschaftsgericht „einer lästigen Vormundschaft oder Kuratel“ oder „der Verantwortung in schwierigen Fällen“ entledigt (Materialien zu den neuen österreichischen Civilprozessgesetzen I 86). Während nach der Stammfassung des § 111 Abs 2 JN bei einer Übertragung innerhalb eines Sprengels eines Oberlandesgerichts stets auch dieses Gericht für die Genehmigung gemäß Satz 2 zuständig war, ist seit der ZVN 1983 das beiden (Bezirks-)Gerichten zunächst übergeordnete gemeinsame „höhere Gericht“ zuständig, sodass – wie im Anlassfall – auch ein Landesgericht einschreiten kann.

2. Nach einhelliger Ansicht zum AußStrG 1854 und auch zum geltenden AußStrG ist die nach § 111 Abs 2 Satz 2 JN getroffene Entscheidung, mit der die Übertragung nicht genehmigt wurde, mit Rechtsmittel anfechtbar (RISJustiz RS0047005; 5 Ob 151/69 = SZ 42/86; 6 Ob 630/86; 4 Ob 37/09h; 8 Ob 115/12p uvm; Fucik in Fasching/Konecny3 § 111 JN Rz 17; Mayr in Rechberger4 § 111 JN Rz 6; Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth § 111 AußStrG Rz 44). Ob und in welchem Umfang ein Rekurs auch gegen die Genehmigung der Übertragung erhoben werden kann (vgl dazu 6 Ob 154/13k und 9 Ob 65/14w), ist hier nicht zu prüfen.

3.1 In der ersten zu § 111 Abs 2 JN idF der ZVN 1983 ergangenen Entscheidung 6 Ob 580/84 (NZ 1985, 228 [kritisch Mayr] = RIS-Justiz RS0046097) zog der Oberste Gerichtshof Parallelen zur Rechtslage bei der amtswegigen Delegation nach § 30 JN. Das Höchstgericht ging in Anschluss an die Lehrmeinung von Fasching (in Fasching I1 234) und die daran anknüpfende Judikatur (4 Ob 51/75 = JBl 1976, 385; 6 Ob 703/80 [„in sinngemäßer Anwendung des § 3 Abs 2 JN“]; 5 Ob 542/81 = RZ 1982/35 = RIS-Justiz RS0046094), wonach die amtswegige Delegation vom Gerichtshof oder Oberlandesgericht immer nur als Gericht zweiter Instanz verfügt werden könne, davon aus, dass auch die Entscheidung nach § 111 Abs 2 JN vom Gerichtshof in „seiner Funktion als Rechtsmittelgericht“ getroffen wird. Demnach geht der Rechtszug an den Obersten Gerichtshof. Nach dieser Ansicht beschränkt sich die Überordnung– abgesehen von den der Gerichtsbarkeit nicht zuzurechnenden Justizverwaltungssachen – auf den Instanzenzug.

3.2 Dieser Ansicht folgte der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 1 Ob 588/91 ohne nähere Begründung und legte auch weiteren Rechtsmittelentscheidungen zu § 111 Abs 2 Satz 2 JN implizit einen direkten Instanzenzug vom Landesgericht zum Obersten Gerichtshof zugrunde, ohne einen solchen ausdrücklich zu deklarieren (vgl 7 Ob 2435/96f und 2 Ob 161/00s).

3.3 Ungeachtet der kritischen Stimmen in der Lehre (dazu unten) und des Umstands, dass bereits die Entscheidung 5 Ob 151/69 (SZ 42/86) die Qualifikation der Entscheidung nach § 111 Abs 2 Satz 2 JN als Rechtsmittelentscheidung abgelehnt hat, sah sich der Oberste Gerichtshof auch in der Entscheidung 6 Ob 154/13k nicht veranlasst, von der referierten Linie abzugehen. Er verwies vielmehr erneut auf die „gebotene Parallele zur Anfechtung von Delegierungsentscheidungen“.

3.4 Zuletzt ging der Senat 10 in der Entscheidung 10 Ob 99/15d (NZ 2016/40 [abl Mayr] = EF-Z 2016/33 [abl Mayr]) davon aus, dass es sich bei dem Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof „um einen Rekurs gegen eine erstinstanzliche Entscheidung handelt“ (in diesem Sinn auch 6 Ob 87/12f). Dennoch erachtete sich der Oberste Gerichtshof in dieser Entscheidung als funktionell zuständiges Rechtsmittelgericht.

4.1 Im Schrifttum vertritt Fucik im Anschluss an die referierte Judikatur die Meinung, dass der Rechtszug stets an den Obersten Gerichtshof geht, „weil die Landesgerichte ebenso wie die Oberlandesgerichte als Rechtsmittelinstanz tätig werden“ (Fucik in Fasching/Konecny3 § 111 JN Rz 17).

4.2 Demgegenüber lehnt die überwiegende Lehre die oben referierte Rechtsprechung ab.

4.2.1 Bereits Kremzow hob hervor, dass sich der Instanzenzug im Bereich des § 111 Abs 2 JN nach § 4 JN richtet (Kremzow, Österreichisches Sachwalterrecht [1984], 221). Es handle sich um keine Rechtsmittelentscheidung. Für den Rechtsmittelzug sei daher § 4 JN maßgebend.

4.2.2 Am umfassendsten hat sich Mayr mit der Problematik auseinandergesetzt.

In seiner Entscheidungsanmerkung zu 6 Ob 580/84 (NZ 1985, 228) beschäftigte sich dieser Autor in Anknüpfung an seine bereits zur Delegation nach § 30 JN vertretene Ansicht (Mayr, Die Delegation im zivilgerichtlichen Verfahren, JBl 1983, 295) ausführlich mit der Problematik. Die glossierte Entscheidung stehe im Widerspruch zur Rechtsprechung, nach der es sich bei einem Delegationsbeschluss gerade nicht um eine Entscheidung der zweiten Instanz handle, sondern das Oberlandesgericht als Erstgericht tätig werde. Der Rekurs sei daher auch nicht beim Prozessgericht erster Instanz, sondern bei jenem Gericht einzubringen, welches über die Delegation entschieden habe. Auch ein Vergleich mit dem früheren § 109 Abs 2 JN zeige die Unrichtigkeit der kritisierten Auffassung. Wie bei § 111 Abs 2 Satz 2 JN handle es sich „der Sache nach“ um eine „erstmalige Regelung des Verfahrensgegenstandes“. Zudem habe der Oberste Gerichtshof bei einer vergleichbaren Regelung nach der aufgehobenen Entmündigungsordnung die Meinung vertreten, dass der Rechtszug zum Oberlandesgericht gehe.

In seinem Besprechungsaufsatz zur Entscheidung 10 Ob 99/15d wiederholte Mayr seine Kritik und hob hervor, dass der Senat 10 zwar von einem Rekurs gegen eine erstinstanzliche Entscheidung ausgegangen sei, gleichzeitig aber sofort über das Rechtsmittel entschieden habe (Mayr, Die komplizierte vereinfachte Zuständigkeitsübertragung nach § 111 JN, EF-Z 2016/33). Das könne nicht richtig sein (in diesem Sinne auch Mayr in Rechberger4 § 30 JN Rz 3 und § 111 JN Rz 6; Mayr, NZ 2016/40 [Entscheidungsanmerkung]): Entweder es handle sich beim landesgerichtlichen Beschluss um einen erstinstanzlichen Beschluss, dann gehe der Instanzenzug nach § 4 JN zum Oberlandesgericht und erst danach mittels Revisionsrekurs zum Höchstgericht. Oder das Landesgericht habe als Rechtsmittelgericht entschieden, dann gehe der Rechtsmittelzug nach § 3 JN an den Obersten Gerichtshof. „Eine Vermischung dieser beiden Varianten ist jedoch nicht möglich.“

4.2.3 Der Ansicht Mayrs sind auch Ballon (in Fasching2 § 30 JN Rz 8) und Gitschthaler (in Gitschthaler/Höllwerth AußStrG § 111 JN Rz 44) gefolgt. Letzterer hob hervor, dass das gemeinsam übergeordnete Gericht nicht als Rechtsmittel-, sondern als Erstgericht entscheide. § 111 Abs 2 JN spreche nicht vom Rechtszug wie § 3 JN, sondern vom zunächst übergeordneten gemeinsamen höheren Gericht. Darüber hinaus könne ein Oberlandesgericht (in Pflegschaftssachen) nie ein Rechtsmittelgericht sein.

5. Der Senat schließt sich der zutreffenden Kritik der Lehre an und kommt zum Ergebnis, dass eine nach § 111 Abs 2 Satz 2 JN von einem Landesgericht getroffene Entscheidung beim Oberlandesgericht anfechtbar ist.

5.1 Das Instanzenverhältnis der Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtssachen wird grundsätzlich durch die Bestimmungen der §§ 2 bis 4 JN geregelt. Demnach sind die Bezirksgerichte, die Landesgerichte und die Handelsgerichte zur Ausübung dieser Gerichtsbarkeit berufen (§ 2 Abs 1 JN). Während der Rechtszug gegen Urteile und Beschlüsse der Bezirksgerichte (Berufung, Rekurs) in zweiter Instanz an die Landesgerichte (§ 3 Abs 1 Satz 1 JN) und in dritter Instanz an den Obersten Gerichtshof geht (§ 3 Abs 2 JN), geht der Rechtszug gegen die in erster Instanz von den Landes- und Handelsgerichten gefällten Urteile und Beschlüsse in zweiter Instanz (Berufung, Rekurs) an die Oberlandesgerichte und in dritter Instanz an den Obersten Gerichtshof (§ 4 JN). Für den Bereich der Arbeits- und Sozialrechtssachen verweist § 2 Abs 1 ASGG (ua) auch auf die §§ 2 bis 4 JN. Dieses System wird durch Sonderregeln ergänzt (vgl etwa § 24 Abs 2 JN, § 615 ZPO, § 54 Abs 4 ASGG, § 85 Abs 5 GOG, § 58 Abs 2 KartG 2005, § 142 Abs 2 PatentG 1970 ua).

5.2 Für die Frage des Instanzenzugs ergibt sich aus § 111 JN keine Sonderregel, die diesen in Abweichung zu den §§ 3 f JN regelt. Die funktionelle Zuständigkeit für die Behandlung eines Rechtsmittels gegen die Entscheidung eines Landesgerichts als den beiden Bezirksgerichten „zunächst übergeordneten gemeinsamen höheren Gerichtes“ hat sich daher entweder nach § 3 JN oder nach § 4 JN zu bestimmen.

5.3 Nach § 3 JN ist ein „Rechtszug“ durch die Existenz einer Berufung oder eines Rekurses gegen eine bezirksgerichtliche Entscheidung (Urteil, Beschluss) geprägt. Damit setzt eine auf § 3 JN gestützte funktionelle Zuständigkeit des Obersten Gerichtshofs voraus, dass das Landesgericht bei seiner Entscheidung nach § 111 Abs 2 Satz 2 JN wegen eines Rechtsmittels gegen eine Entscheidung eines Bezirksgerichts (bzw als Rechtsmittelgericht) eingeschritten ist.

5.3.1 Derartiges könnte prima vista auf den Umstand gestützt werden, dass das übergeordnete Gericht nach § 111 JN nur dann entscheidet, wenn das Adressatgericht die Übernahme abgelehnt hat. Demnach könnte bei rein inhaltlicher Betrachtung eine rechtsmittelartige Kontrollfunktion des Gerichtshofs bejaht werden. Allerdings ist für das Einschreiten des Gerichtshofs nach § 111 Abs 2 Satz 2 JN gerade kein Rechtsmittel einer Partei erforderlich, an das aber im Anwendungsbereich des § 3 JN angeknüpft werden muss, um eine zweitinstanzliche Funktion eines Landesgerichts zu begründen. Ein Rechtsmittel wird gemeinhin als Antrag einer Partei auf Überprüfung einer Entscheidung definiert, die dem Rechtsschutzbegehren des Antragstellers nicht oder nicht vollständig stattgegeben hat; das Rechtsmittel soll zur Abänderung oder Aufhebung dieser Entscheidung führen (RIS-Justiz RS0006413; Fasching, Lehrbuch2 Rz 1667; Rechberger/Simotta, ZPR8 Rz 980).

5.3.2 Allein das Vorliegen einer kontrollierenden Tätigkeit eines Gerichts reicht nicht hin, um darauf eine Tätigkeit als Rechtsmittelgericht iSd § 3 Abs 1 JN zu stützen. So werden die Landesgerichte bei Klagen zur Aufhebung eines Schiedsspruchs nach § 617 ZPO ungeachtet des Überprüfungscharakters ihrer Tätigkeit als Erstgerichte iSd § 4 JN tätig, deren Entscheidungen beim Oberlandesgericht anfechtbar sind (vgl auch § 45 Abs 3 GOG).

5.4 Unter diesem Blickwinkel erweist sich die Grundannahme der Entscheidung 6 Ob 580/84, wonach der Gerichtshof die Entscheidung nach § 111 Abs 2 Satz 2 JN „in seiner Funktion als Rechtsmittelgericht“ trifft, als unrichtig, zumal die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Genehmigung gerade nicht an den Instanzenzug in der Pflegschaftssache anknüpft. Das wird – im Sinne der zutreffenden Ausführungen von Gitschthaler (in Gitschthaler/Höllwerth AußStrG § 111 JN Rz 44) – durch die mögliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts für eine Genehmigungsentscheidung dokumentiert. Damit ist auch die Annahme in der Entscheidung 6 Ob 580/84 widerlegt, die in § 111 Abs 2 Satz 2 JN normierte „Überordnung“ beschränke sich auf „den Instanzenzug“.

5.5 Damit ist die Annahme zutreffend, dass es sich bei einer Genehmigung nach § 111 Abs 2 Satz 2 JN um eine erstinstanzliche Entscheidung handelt (idS 3 Ob 84/08m; 6 Ob 87/12f; 10 Ob 99/15d; Schneider in Fasching/Konecny3 § 31 JN Rz 19 ua). Das trifft im Übrigen auch auf eine amtswegige Delegation nach § 30 JN zu (5 Ob 151/69 = SZ 42/86), sodass die hier abgelehnte Judikatur gerade nicht auf § 30 JN gestützt werden kann, selbst man wenn darüber hinwegsieht, dass nach dieser Bestimmung in Abweichung zu § 111 JN die Anzeige an das „im Instanzenzug übergeordnete Gerichte anzuzeigen“ ist.

5.6 Das Gesagte korrespondiert auch mit der konkreten Behandlung eines Rechtsmittels gegen einen Beschluss nach § 111 Abs 2 Satz 2 JN. Ungeachtet dessen, dass es sich dabei in der Regel um faktische Gepflogenheiten handelt, die für sich alleine nicht geeignet sind, eine Rechtsmittelfunktion des Landesgerichts zu widerlegen, werden auch damit Zweifel an der hinterfragten Judikatur erweckt: Ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung nach § 111 Abs 2 Satz 2 JN wird etwa beim Gerichtshof (Landesgericht, Oberlandesgericht) und nicht beim Bezirksgericht eingebracht. In den Entscheidungen, die der herrschenden Rechtsprechung zugrundelagen, entschied der Oberste Gerichtshof über einen Rekurs und nicht über einen Revisionsrekurs (Mayr, EF-Z 2016/33 [Besprechungsaufsatz]), ohne dass dabei auf das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage abgestellt wurde (vgl zur Delegation: RISJustiz RS0116349 und RS0106758; Schneider in Fasching/Konecny3 § 31 JN Rz 19), während das Landesgericht seinen Beschluss in einem Nc-Akt nach § 472 Geo fasste (dazu Danzl, Geo7 § 472 Anm 1).

5.7 Die hier vertretene Ansicht kann auch mit der zu § 12 Abs 3 der (aufgehobenen) Entmündigungsordnung ergangenen Rechtsprechung gestützt werden (idS auch Mayr, NZ 1985, 228 [Entscheidungsanmerkung]). Nach dieser – mit § 111 Abs 2 Satz 2 JN durchaus vergleichbaren – Regel musste bei Ablehnung der Übernahme des Verfahrens durch ein Bezirksgericht „der Gerichtshof erster Instanz, der dem ablehnenden Gerichte übergeordnet ist“ entscheiden. Der Oberste Gerichtshof judizierte dazu, dass der Rekurs gegen eine Entscheidung eines Gerichtshofs erster Instanz „nicht an den Obersten Gerichtshof, sondern an das übergeordnete Oberlandesgericht geht“ (8 Ob 169/66 = SZ 39/119).

6.1 Der von der bisherigen Judikatur vertretene Instanzenzug kann auch nicht mit einer analogen Anwendung des § 3 JN begründet werden. Eine solche Analogie, die auch im Verfahrensrecht zulässig ist, setzt das Bestehen einer Gesetzeslücke, also einer planwidrigen Unvollständigkeit der rechtlichen Regelung voraus. Eine solche Lücke ist hier zu verneinen, weil der Gesetzgeber den Instanzenzug mit §§ 3 und 4 JN bzw den oben referierten Sonderregeln umfassend geregelt hat.

6.2 Gegen die Richtigkeit der hier vertretenen Ansicht spricht auch nicht, dass sich (im Anlassfall) mehr als drei Gerichte mit der Frage der Zuständigkeit inhaltlich befassen müssen. Bedenkt man, dass das zivilgerichtliche Verfahren grundsätzlich von einem Dreiinstanzenzug geprägt ist, erscheint das wohl prima vista ungewöhnlich. Der Gesetzgeber hat diesen Umstand aber in Kauf genommen, was dadurch deutlich wird, dass sich auch dann vier Gerichte mit der Zuständigkeit befassen könnten, wenn das Oberlandesgericht zur Genehmigung nach § 111 Abs 2 Satz 2 JN berufen ist.

7. Zusammengefasst ist daher festzuhalten, dass eine vom Landesgericht nach § 111 Abs 2 Satz 2 JN getroffene Entscheidung mit Rekurs an das Oberlandesgericht anfechtbar ist. Damit ist die funktionelle Unzuständigkeit des Obersten Gerichtshofs auszusprechen und die Rechtssache nach § 44 JN (G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth AußStrG § 54 Rz 4) dem Oberlandesgericht Wien zur weiteren Behandlung zu überweisen.

8. Ungeachtet des Umstands, dass der Senat mit dieser Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung abweicht, und der Tatsache, dass die relevante Frage, ob ein Gerichtshof bei einer Entscheidung nach § 111 Abs 2 Satz 2 JN als Erstgericht oder als Rechtsmittelgericht einschreitet, von der bisherigen Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet wurde, lagen die Voraussetzungen für einen verstärkten Senat nach § 8 Abs 1 OGHG nicht vor. Die geprüfte Rechtsfrage hat keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Bestimmung. Darunter können nur Rechtsfragen verstanden werden, deren Lösung von großer Bedeutung für die Rechtsordnung (vgl Fasching,Lehrbuch2 Rz 1951) – so etwa für weite Teile der Bevölkerung von unmittelbarer rechtlicher oder wirtschaftlicher Bedeutung (E. Kodek in Rechberger4 § 502 Rz 11 mwN) – ist. Die Frage des Instanzenzugs nach einer Entscheidung iSd § 111 Abs 2 JN war und ist jedoch nur von überschaubarer praktischer Relevanz.

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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2017:0040OB00197.17Z.1121.000

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