OGH vom 16.10.2015, 7Ob117/15d

OGH vom 16.10.2015, 7Ob117/15d

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und durch die Hofräte Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und Dr. Singer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M***** H*****, vertreten durch Mag. Helmut Gruber, Rechtsanwalt in St. Jakob in Haus, gegen die beklagte Partei H***** AG (vormals: B*****), *****, vertreten durch Dr. Christoph Arbeithuber, Rechtsanwalt in Linz, wegen 36.000 EUR sA, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom , GZ 2 R 59/15g 16, womit das Zwischenurteil des Landesgerichts Linz vom , GZ 65 Cg 6/14i 11, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

I. Die Bezeichnung der beklagten Partei wird auf „H***** AG, *****“ berichtigt.

II. Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Zu I.: Die Änderung des Firmenwortlauts der Beklagten „B*****“ auf „H***** AG“ wurde am im Firmenbuch eingetragen.

Nach der am von den Hauptversammlungen beider Gesellschaften beschlossenen und am zu FN ***** und FN ***** im Firmenbuch eingetragenen Verschmelzung der übertragenden H***** AG mit der übernehmenden H***** AG ist diese gemäß § 225a Abs 3 AktG Gesamtrechtsnachfolgerin der übernommenen AG. Die Parteibezeichnung der Beklagten ist daher gemäß § 235 Abs 5 ZPO von Amts wegen zu berichtigen.

Zu II.: Zwischen den Streitteilen besteht ein Unfallversicherungsvertrag mit einer Versicherungssumme von 60.000 EUR. Diesem Vertrag liegen die Allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung (AUVB 2008) und die Besondere Bedingung Nr U805 zugrunde.

Die AUVB 2008 lauten auszugsweise:

„...

Artikel 7

Dauernde Invalidität

1. Voraussetzungen für die Leistung:

Die versicherte Person ist durch den Unfall auf Dauer in ihrer körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt.

Die Invalidität ist innerhalb eines Jahres nach dem Unfall eingetreten.

5. Ein Anspruch auf Leistung für Dauernde Invalidität ist innerhalb von 3 Jahren ab Unfalltag schriftlich geltend zu machen und unter Vorlage eines ärztlichen Befundberichtes zu begründen.

...

6. Steht der Grad der Dauernden Invalidität nicht eindeutig fest, sind sowohl die versicherte Person als auch der Versicherer berechtigt, den Invaliditätsgrad jährlich bis 4 Jahre ab dem Unfalltag ärztlich neu bemessen zu lassen.

Artikel 25

Obliegenheiten

2. Obliegenheiten nach Eintritt des Versicherungsfalles:

2.4. Die Unfallanzeige ist dem Versicherer unverzüglich zuzusenden; außerdem sind dem Versicherer alle verlangten sachdienlichen Auskünfte zu erteilen.

2.7. Der Versicherer kann verlangen, dass sich die versicherte Person durch die von ihm bezeichneten Ärzte untersuchen lässt.

...“

Die Besondere Bedingung Nr U805 lautet:

„ STANDARD 300 Verbesserung der Invaliditätsentschädigung bis zu 300 %

Die Entschädigungsleistung betreffend die Dauerinvalidität gemäß Art. 7 AUVB wird folgendermaßen ermittelt:

bei einem Invaliditätsgrad bis einschließlich 49 %: Leistung aufgrund der einfachen Versicherungssumme,

bei einem Invaliditätsgrad ab 50 % bis einschließlich 75 %: Leistung 100 % der Versicherungssumme,

bei einem Invaliditätsgrad ab 76 % bis einschließlich 95 %: Leistung 200 % der Versicherungssumme,

bei einem Invaliditätsgrad ab 96 %: Leistung 300 % der Versicherungssumme.“

Der Kläger wurde am bei einem Verkehrsunfall an der Hals- und Brustwirbelsäule schwer verletzt. Die von der Beklagten beauftragte unfallchirurgische Sachverständige kam in ihrem zusammenfassenden Gutachten vom aus unfallchirurgischer Sicht zu einer bleibenden Invalidität von 30 %. Dem von ihr beigezogenen neurologischen Sachverständigen war es hingegen aufgrund widersprüchlicher Befundergebnisse und eines hochgradig funktionell-demonstrativen, aggravierenden Verhaltens des Klägers anlässlich der Untersuchung vom aus neurologischer Sicht nicht möglich, eine ausreichend exakte Diagnose in Bezug auf eventuell vorhandene Verletzungsfolgen zu stellen.

Mit Schreiben vom errechnete die Beklagte unter Zugrundelegung der Sachverständigengutachten auf Basis der Versicherungssumme von 60.000 EUR und einer Gesamtinvalidität von 30 % entsprechend den Versicherungsbedingungen eine Entschädigungsleistung von 18.000 EUR. Zur Erledigung des Schadensfalls ersuchte sie, die beigelegte Entschädigungsquittung ausgefüllt und unterfertigt an sie zu retournieren. Diese enthielt folgende Erklärung: „Nach Bezahlung des obgenannten Betrages sind meine (unsere) Ansprüche, die aus dem gegenständlichen Vorfall aufgrund des mit Ihnen abgeschlossenen Versicherungsvertrages erhoben wurden oder erhoben werden könnten, zur Gänze befriedigt.“ Auf eine Obliegenheitsverletzung des Klägers wies die Beklagte nicht hin.

Mit E-Mail vom ersuchte die V***** GmbH als Vertreterin des Klägers unter Verweis auf das Schreiben vom um Überweisung des angebotenen Betrags auf das Treuhandkonto. Die Entschädigungsquittung wurde nicht an die Beklagte retourniert. Diese überwies dennoch 18.000 EUR.

Unter Verweis auf weitere Gutachten ersuchte die V***** GmbH mit E-Mails vom 24. 4. und die Beklagte um Beauftragung einer neuerlichen neurologischen Begutachtung. Die Beklagte lehnte dies mit E-Mails vom 30. 4. und unter anderem unter Hinweis auf deutliche Aggravationstendenzen des Klägers ab, welche als Verstoß gegen die Mitwirkungsobliegenheit des Versicherten an der Schadensfeststellung gewertet und in diesem Umfang ihre Leistungsfreiheit begründen würden. Das E-Mail vom enthielt folgenden Hinweis: „Halten Sie unsere Ablehnung für ungerechtfertigt, so haben Sie nach § 12 Abs. 3 des Versicherungsvertragsgesetzes das Recht, innerhalb von zwölf Monaten ab Zustellung dieses Schreibens gegen uns Klage auf Feststellung des Versicherungsschutzes beim zuständigen Gericht einzubringen. Nach Ablauf dieser Frist ist unsere Leistungsfreiheit rechtswirksam festgestellt.“

Am brachte der Kläger eine Mahnklage über 6.000 EUR sA gegen die Beklagte mit nachfolgender (auszugsweisen) Begründung ein: „... Die unfallchirurgische Invalidität ist unstrittig. Strittig ist, ob und in welchem Ausmaß zusätzlich zur unfallchirurgischen Invalidität eine neurologische Invalidität besteht. Unter Berücksichtigung der unfallchirurgischen Invalidität von 30 % (von 100 %) und der neurologischen Invalidität von 30 % (von 70 % = 21 % von 100 %) ergibt sich eine Gesamtinvalidität von 51 %. Da Überschneidungen zwischen der unfallchirurgischen und der neurologisch-psychiatrischen Einschätzung nicht ausgeschlossen werden können, besteht beim Kläger zumindest eine Gesamtinvalidität von 40 % (von 100 %). ...“ Den dazu ergangenen bedingten Zahlungsbefehl ließ die Beklagte rechtskräftig werden.

Mit Schreiben vom forderte der Kläger die Beklagte zur Neubemessung des Invaliditätsgrads unter Bezugnahme auf die Begutachtungen von Dr. G*****l und Dr. G*****r auf. Nach dem Gutachten von Dr. G*****l waren am Spätfolgen im Sinn medizinischer Komplikationen im Bereich der Brust- und Halswirbelsäule nicht auszuschließen. Nach dem Gutachten von Dr. G*****r bestand am beim Kläger als Dauerfolge aus neurologischer Sicht unfallkausal neben einer Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule und Narbenbildung eine gering ausgeprägte Scapula alata Symptomatik.

Der Kläger begehrte unter Zugrundelegung einer Dauerinvalidität von 50 % eine weitere Zahlung von 36.000 EUR sA aus der Unfallversicherung. Zwischenzeitlich hätten die schmerzhaften Bewegungseinschränkungen im Bereich der Wirbelsäule und der rechten Schulter zugenommen und sei es zu einer Verschlechterung der unfallkausalen neurologischen Funktionseinschränkungen gekommen. Nunmehr liege eine Schädigung des nervus thoracicus longus samt dazugehöriger Scapula alata vor. Der Kläger habe seine Mitwirkungspflicht nicht verletzt. Im Übrigen habe die Beklagte auf die Geltendmachung einer darauf aufbauenden Obliegenheitsverletzung stillschweigend verzichtet, indem sie diese weder bei der Erstabrechnung noch im Vorprozess eingewendet habe. Der Kläger habe die Entschädigungsvereinbarung nicht unterfertigt; der Versicherer sei verpflichtet, die jedenfalls zustehende Versicherungsleistung auszuzahlen; eine als Vergleich zu wertende Enderledigungsvereinbarung liege nicht vor. Der Vorprozess stehe einer Neubemessung nicht entgegen. Ein Versicherter habe bis zum Ende der Vierjahresfrist des Art 7.6. AUVB 2008 die Möglichkeit, aufgrund einer eingetretenen Verschlechterung eine Neubemessung zu beantragen; diese Frist könne mit einer qualifizierten Ablehnung nach § 12 Abs 3 VersVG nicht verkürzt werden.

Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage. Eine unfallkausale Zustandsverschlechterung sei nicht eingetreten. Der Invaliditätsgrad sei bereits aufgrund der bei der Erstbemessung eingeholten Gutachten festgestanden; schon dies stehe nach Art 7.6. AUVB 2008 einer Neubemessung entgegen. Eine restlose Klärung aus neurologischer Sicht sei an der beträchtlichen Aggravation des Klägers anlässlich seiner Untersuchung durch den Sachverständigen gescheitert. Diese Obliegenheitsverletzung führe zur Leistungsfreiheit der Beklagten. Aufgrund der Annahme des Entschädigungsanbots der Beklagten durch den Kläger sei der Versicherungsfall vergleichsweise abschließend erledigt. Der Zahlungsbefehl sei nur aus Kostengründen nicht beeinsprucht worden; dies begründe keinen Verzicht auf den Einwand der verglichenen Sache. Innerhalb der Jahresfrist des § 12 Abs 3 VersVG habe der Kläger nur einen weiteren Betrag von 6.000 EUR gerichtlich geltend gemacht. Darüber hinausgehende Ansprüche seien verfristet.

Das Erstgericht erkannte mit Zwischenurteil das Leistungsbegehren dem Grunde nach als zu Recht bestehend. Der Versicherungsfall sei durch die Anforderung der von der Beklagten angebotenen Versicherungsleistung nicht endgültig bereinigt. Der Kläger habe die Entschädigungsquittung nicht unterfertigt; es liege bloß eine Abschlagszahlung nach § 11 Abs 2 VersVG vor. Der nunmehr geltend gemachte ergänzende Versicherungsanspruch sei nicht nach § 12 Abs 3 VersVG verfristet, weil die Vierjahresfrist des Art 7.6. AUVB 2008 nicht zum Nachteil des Versicherten durch die Abgabe einer qualifizierten Ablehnung nach § 12 Abs 3 VersVG verkürzt werden könne. Auf die Geltendmachung der in der Aggravation des Klägers gelegenen Obliegenheitsverletzung habe die Beklagte stillschweigend verzichtet; diese sei ihr bereits bei der Unterbreitung ihres Entschädigungsanbots bekannt gewesen.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Zwischenurteil und ließ die ordentliche Revision mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage nicht zu. Die Beklagte habe infolge der Annahmeerklärung des Klägers ohne Unterfertigung und Zurücksendung der Entschädigungsquittung davon ausgehen müssen, dass er den Versicherungsfall als noch nicht endgültig bereinigt erachtet habe. Davon sei auch die Beklagte ausgegangen, weil sie gegen den Zahlungsbefehl keinen Einspruch erhoben habe. Prozesskostenüberlegungen der Beklagten stünden dem nicht entgegen, zeige dies doch, dass sie von einem Prozesserfolg nicht überzeugt gewesen sei. Die Frist des § 12 Abs 3 VersVG hindere nicht die Geltendmachung von Ansprüchen, die nach Ablauf dieser Frist entstünden. Ein rechtskräftiges Leistungsurteil schließe eine Neubemessung nicht aus. Nur bei einer abschließenden Einigung in einem Gerichtsverfahren über die Feststellung des Invaliditätsgrades scheide eine Neubemessung aus. Davon könne aber nach dem Inhalt der Mahnklage und des darauf basierenden Zahlungsbefehls keine Rede sein. Die Beklagte habe auf die Geltendmachung der Rechtsfolgen einer Obliegenheitsverletzung stillschweigend verzichtet. Das Entschädigungsanbot samt Abfindungstext stelle klar, dass die Beklagte für den Versicherungsfall Deckungsschutz gewähre, ohne die Obliegenheitsverletzung zu relevieren. Dieses Vorgehen habe die Beklagte wiederholt, indem sie zwar in ihrem E-Mail vom zunächst auf die Obliegenheitsverletzung des Klägers Bezug genommen habe, dann aber den Zahlungsbefehl rechtskräftig werden habe lassen. Aus dem neurologischen Gutachten im Rahmen der Erstbemessung ergebe sich, dass die Einschätzung des Invaliditätsgrades aus neurologischer Sicht (noch) nicht möglich gewesen sei; schon daraus folge, dass von einem eindeutigen Feststehen der Graduierung nicht auszugehen sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger beantragt in der ihm vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, sie ist auch im Sinne des Eventualantrags berechtigt.

1. Die Revisionswerberin meint, dass dem Antrag des klagenden Versicherungsnehmers auf Neubemessung nach Art 7.6. AUVB 2008 bereits der Umstand entgegenstehe, dass die dauernde Invalidität bei der Erstbemessung eindeutig festgestanden sei.

1.1. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach ständiger Rechtsprechung nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914, 915 ABGB) auszulegen, und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RIS Justiz RS0050063 [T71], RS0112256). Bei Unklarheiten findet § 915 ABGB Anwendung. Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RIS Justiz RS0050063 [T3]).

Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut (RIS-Justiz RS0008901) aus ihrem Zusammenhang heraus auszulegen (RIS-Justiz RS0008901 [T8]).

Gegenüber der Auslegungsregel des § 915 ABGB kommt den Auslegungsgrundsätzen des § 914 ABGB Anwendungsvorrang zu. Kann mit den Auslegungsregeln des § 914 ABGB das Auslangen gefunden werden, liegt der Fall des § 915 2. Halbsatz ABGB (undeutliche Äußerung) nicht vor (RIS Justiz RS0017752). Es ist daher zu prüfen, ob sich nach den Auslegungsregeln des § 914 ABGB ein eindeutiger Sinn der Vertragserklärungen ergibt.

1.2. Mit Art 7.6. AUVB 2008 wortgleiche oder vergleichbare Klauseln waren bereits Gegenstand zahlreicher oberstgerichtlicher Entscheidungen. Derartige Klauseln enthalten eine Ausschlussfrist: Wird die Antragstellung auf Neubemessung innerhalb von vier Jahren ab dem Unfalltag versäumt, bleibt es bei der bisherigen Bemessung des Invaliditätsgrades (RIS Justiz RS0122119). Ein allenfalls von der Erstbemessung abweichender Invaliditätsgrad ist nur dann zu bemessen und zu berücksichtigen, wenn dies bis zu vier Jahre ab dem Unfalltag vom Versicherten oder vom Versicherer begehrt wird (RIS Justiz RS0116097 [T3], RS0109447 [T2], RS0082292 [T11], RS0082173 [T1]).

Der Zweck der Regelung liegt in der möglichst raschen Herstellung von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden (RIS Justiz RS0082216 [T1]). Beide Parteien sollen innerhalb eines überblickbaren Zeitraums Klarheit über den Grad der Invalidität erlangen können, um letztlich Beweisschwierigkeiten zu vermeiden und eine alsbaldige Klärung der Ansprüche herbeizuführen. Die durch Setzung der Ausschlussfrist vorgenommene Risikobegrenzung soll also im Versicherungsrecht eine Ab- und Ausgrenzung schwer aufklärbarer und unübersehbarer (Spät )Schäden herbeiführen. Maßgeblich ist der Invaliditätsgrad bis maximal zum Ablauf der (Vierjahres )Frist (7 Ob 195/14y mwN).

Die Neubemessung der Invalidität innerhalb der vereinbarten Frist setzt voraus, dass die dauernde Invalidität bereits grundsätzlich feststand, ärztlich bemessen wurde und der Versicherer dazu eine entsprechende Erklärung abgegeben hat (7 Ob 153/12v = RIS-Justiz RS0122859 [T1]).

1.3. Vor dem Hintergrund des Regelungszwecks kann ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer Art 7.6. AUVB 2008 nur so verstehen, dass immer dann, wenn nach einer Erstbemessung (oder einer zwischenzeitigen Neubemessung) eine den Invaliditätsgrad betreffende Änderung des Gesundheitszustands eingetreten ist, eine (jährliche) ärztliche Neubemessung innerhalb der Vierjahresfrist in Betracht kommt (vgl 7 Ob 221/12v). Die Feststellung einer entsprechenden Zustandsänderung führt nämlich zwingend dazu, dass bei der vorangegangenen Bemessung der Invaliditätsgrad nicht eindeutig (und demnach unveränderbar) festgestanden ist. Daher genügt es im hier vorliegenden Fall, dass der Kläger eine zwischenzeitlich eingetretene unfallkausale Verschlechterung der Funktionseinschränkungen behauptet.

2. Damit stellt sich aber die weitere Frage, ob nach einem rechtskräftigen Zahlungsbefehl eine Neubemessung zulässig ist.

2.1. Zur im gegebenen Zusammenhang vergleichbaren deutschen Rechtslage schließt nach der Rechtsprechung des BGH und der deutschen Lehre ein vom Versicherungsnehmer erstrittenes rechtskräftiges Leistungsurteil einen Antrag auf Neubemessung grundsätzlich nicht aus (BGH IV ZR 328/07 = VersR 2009, 920; BGH IV ZR 181/07 = NJW-RR 2010, 546; Dörner , Münchener Kommentar zum VVG, § 188 Rn 7; Knappmann in Prölss/Martin , VVG 29 § 188 Rn 4; Brömmelmeyer in Schwintowsky/Brömmelmeyer , PK-VersR², § 188 VVG Rn 10; Grimm , Unfallversicherung 5 , AUB 2010 Z 9 Rn 22 [dieser fordert allerdings bei einer Leistungsklage den ausdrücklichen Vorbehalt des bedingungsgemäßen Rechts auf erneute Bemessung]), außer die Parteien haben nachweislich eine abschließende Invaliditätsfeststellung gewollt oder auf eine Neufestsetzung verzichtet ( Dörner aaO; Brömmelmeyer aaO). Zu berücksichtigen sind dann aber nur Änderungen nach Erlassung des Urteils oder nach dem Zeitpunkt, an dem das - gerichtlich eingeholte - Gutachten erstattet wurde, das Grundlage dieses Urteils war (BGH IV ZR 328/07 = Vers 2009, 920; Knappmann aaO).

2.2. Diese Grundsätze sind auch für die hier vorliegende Bedingungslage maßgeblich. Mit der Vierjahresfrist des Art 7.6. AUVB 2008 wird der Zeitraum begrenzt, in dem Zustandsänderungen noch in eine Neubemessung einfließen und damit die Versicherungsleistung beeinflussen können. Es ist kein Grund ersichtlich, warum hier ein zeitlich davor gelegenes rechtskräftiges Leistungsurteil das Recht des Versicherten oder des Versicherers auf Neubemessung im Fall einer zwischenzeitlich eingetretenen Zustandsänderung abschneiden sollte. Dass die Parteien eine abschließende Festsetzung gewollt oder auf eine Neufestsetzung verzichtet hätten, wurde ohnehin nicht behauptet. Damit steht im vorliegenden Fall der rechtskräftige Zahlungsbefehl der vom Kläger begehrten Neubemessung nicht entgegen. Allerdings ist nur eine danach eingetretene Zustandsverschlechterung relevant.

3. Eine Verfristung nach § 12 Abs 3 VersVG liegt nicht vor:

3.1. Nach § 12 Abs 3 VersVG ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Anspruch auf die Leistung nicht innerhalb eines Jahres gerichtlich geltend gemacht wird. Die Frist beginnt erst, nachdem der Versicherer dem Versicherungsnehmer gegenüber den erhobenen Anspruch unter Angabe der mit dem Ablauf der Frist verbundenen Rechtsfolgen schriftlich abgelehnt hat. Vor der Erhebung von Ansprüchen ist eine Ablehnung unwirksam; der Versicherer kann den Versicherungsnehmer nicht zu einer vorzeitigen Klage zwingen. „Anspruch auf die Leistung“ ist enger als „Anspruch aus dem Versicherungsvertrag“ (RIS Justiz RS0080368; vgl auch RS0080505 [T1], RS0080563). Ein Anspruch auf die Leistung kann demnach immer nur ein ganz konkreter, aus dem Versicherungsvertrag abgeleiteter Anspruch sein (7 Ob 16/86).

3.2. Im vorliegenden Fall wollte der Kläger unter Verweis auf weitere Gutachten die Berücksichtigung neurologischer Aspekte bei der Invaliditätsbemessung erreichen. Diesen Anspruch hat die Beklagte im Sinn des § 12 Abs 3 VersVG abgelehnt. Demnach musste der Kläger bei Gefahr des sonstigen Verlusts bezüglich dieses Anspruchs eine Klage innerhalb eines Jahres ab der Ablehnung einbringen. Dem hat er auch durch Einbringung einer Mahnklage innerhalb der Jahresfrist entsprochen, indem er darin eine Erhöhung der Gesamtinvalidität um 10 % aufgrund der zu berücksichtigenden neurologischen Komponente behauptete. Der darüber erlassene Zahlungsbefehl wurde rechtskräftig.

Dem nunmehrigen Klagebegehren liegt ein Anspruch auf ergänzende Versicherungsleistung infolge einer zwischenzeitig eingetretenen unfallkausalen Verschlechterung des Gesundheitszustands und eines daraus folgenden Invaliditätsgrads von 50 % zu Grunde. Dieser Anspruch war nicht Gegenstand der Ablehnung der Beklagten im Jahr 2012. Eine verfristete Klagsführung nach § 12 Abs 3 VersVG liegt daher nicht vor.

4. Mit dem vorbehaltlosen Abruf der von der Beklagten errechneten Versicherungsleistung ist keine vergleichsweise Bereinigung des Versicherungsfalls verbunden:

4.1. Ein Vergleich ist die unter beiderseitigem Nachgeben einverständliche neue Festlegung strittiger oder zweifelhafter Rechte (RIS-Justiz RS0032681). Ein Recht ist dann strittig oder zweifelhaft, wenn die Parteien sich nicht darüber einigen können, ob oder in welchem Umfang es entstanden ist oder noch besteht (RIS-Justiz RS0032654). Es reicht, wenn bloß die Höhe des Anspruchs zweifelhaft ist (RIS-Justiz RS0032537). Ein Vergleich bedarf zu seiner Gültigkeit keiner bestimmten Form und kann daher auch schlüssig zustande kommen (RIS-Justiz RS0014333). Für die Schlüssigkeit eines Verhaltens im Hinblick auf einen rechtsgeschäftlichen Willen legt § 863 ABGB einen strengen Maßstab an (RIS-Justiz RS0014146). Für die Maßgeblichkeit einer stillschweigenden Willenserklärung ist der Eindruck entscheidend, den der Erklärungsempfänger von der Erklärung haben musste (RIS-Justiz RS0014158). Bei der Beurteilung dieser Frage kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an (RIS-Justiz RS0014158 [T8]).

4.2. Im vorliegenden Fall war im Zeitpunkt des Schreibens der Beklagten vom aufgrund der ihr vorliegenden Gutachten der Invaliditätsgrad und damit die Höhe der von ihr zu erbringenden Versicherungsleistung insoweit fraglich, als die neurologische Komponente - insbesondere aufgrund der Aggravation des Klägers - nicht verlässlich abgeklärt werden konnte. Die Beklagte ersuchte zwar den Kläger im Zuge der Mitteilung der von ihr auf Grundlage der Gutachten errechneten Versicherungsleistung, zur Erledigung des Schadensfalls die beigelegte Entschädigungsquittung, worin der Versicherungsnehmer die gänzliche Befriedigung seiner Ansprüche aus dem Versicherungsfall nach Auszahlung der Versicherungssumme erklärt, ausgefüllt und unterfertigt an sie zu retournieren. Zur Auszahlung dieser Versicherungsleistung wäre sie aber - mangels Geltendmachung ihrer Leistungsfreiheit - bereits gemäß § 11 Abs 1 Satz 1 VersVG infolge Beendigung der zur Feststellung des Versicherungsfalls und des Umfangs der Leistung des Versicherers nötigen Erhebungen auch ohne Unterfertigung einer Entschädigungsquittung verpflichtet gewesen. Vor diesem Hintergrund konnte die Beklagte nicht auf eine endgültige Bereinigung des Versicherungsfalls vertrauen, wenn sie von der Vertreterin des Klägers zur Auszahlung der Versicherungsleistung ohne Rücksendung einer unterfertigten Entschädigungsquittung aufgefordert wurde. Dazu wäre vielmehr eine nähere Abklärung erforderlich gewesen, ob auch der von der Beklagten beabsichtigten Generalbereinigung des Versicherungsfalls zugestimmt wird; dies ist aber nicht erfolgt. Damit fehlt es aber an den Voraussetzungen für einen (schlüssigen) Vergleichsabschluss.

5. Der Kläger hat bei der neurologischen Untersuchung die Symptome deutlich übertrieben dargestellt. Dieses aggravierende Verhalten stellt - im Revisionsverfahren unstrittig - eine Obliegenheitsverletzung dar (vgl Art 25.2.4. AUVB 2008). Die Vorinstanzen haben jedoch insofern einen stillschweigenden Verzicht der Beklagten auf die Geltendmachung der Obliegenheitsverletzung angenommen.

5.1. Auf die Einhaltung der Erfüllung von Obliegenheiten kann ebenso wie auf die Einhaltung von Formvorschriften, soweit es sich um vertragliche Vereinbarungen handelt, von dem dadurch Berechtigten verzichtet werden (RIS-Justiz RS0106627). Bei der Beurteilung der Frage, ob auf ein Recht stillschweigend verzichtet wurde, ist besondere Vorsicht geboten. Ein Verzicht darf immer nur dann angenommen werden, wenn besondere Umstände darauf hinweisen, dass er ernstlich gewollt ist (RIS-Justiz RS0014190, RS0014420) und kein Zweifel möglich ist, dass das Verhalten des Berechtigten den Verzichtswillen zum Ausdruck bringen soll (RIS-Justiz RS0014217). Die aus der Erklärung abzuleitenden Folgen sind nicht danach zu beurteilen, was der Erklärende sagen wollte oder was der Erklärungsempfänger darunter verstanden hat, sondern danach, wie die Erklärung bei objektiver Beurteilung der Sachlage durch einen redlichen, verständigen Menschen zu verstehen war (RIS-Justiz RS0014205).

5.2. Die Beklagte bot in Kenntnis der bewussten Übertreibung der Symptome durch den klagenden Versicherungsnehmer die sich aus den Gutachten ergebende Versicherungsleistung von 18.000 EUR an, ohne die Aggravation des Klägers zu erwähnen, und leistete diesen Betrag vorbehaltlos nach Abruf durch ihn ohne Rücksendung einer unterfertigten Entschädigungsquittung. Schon dieses Verhalten der Beklagten konnte der Kläger im redlichen Geschäftsverkehr nur dahin verstehen, dass die Beklagte ihm sein aggravierendes Verhalten im Zuge der erstmaligen Abklärung der Gesamtunfallfolgen nicht negativ anlastet und daraus keine für den Kläger nachteiligen Folgen im Rahmen der Abwicklung des Versicherungsfalls ableitet.

In weiterer Folge hat sich die Beklagte zwar bei der Geltendmachung einer ergänzenden Versicherungsleistung durch den Kläger explizit auf die Obliegenheitsverletzung berufen; sie ließ aber den Zahlungsbefehl über 6.000 EUR, dem die Behauptung einer ursprünglich nicht berücksichtigten neurologischen Komponente zu Grunde lag, rechtskräftig werden. Auch diesem Verhalten musste ein redlicher Erklärungsempfänger die Bedeutung beimessen, dass die Beklagte die in der Aggravation gelegene Obliegenheitsverletzung im Zuge der Schadensabwicklung nicht geltend macht, fand doch das aggravierende Verhalten gerade bei der Abklärung der noch strittigen neurologischen Komponente statt.

Daraus folgt zusammengefasst, dass die Beklagte durch ihr Gesamtverhalten gegenüber dem Kläger unmissverständlich zu verstehen gegeben hat, sich auf seine Obliegenheitsverletzung im Zuge der neurologischen Untersuchung bei der Abwicklung des Versicherungsfalls nicht berufen zu wollen. Damit hat sie aber auf deren Geltendmachung wirksam (stillschweigend) verzichtet. Demnach kann sie sich im gegenständlichen Verfahren, dem eine vom Kläger angestrebte Neubemessung der Invalidität zu Grunde liegt, nicht mit Erfolg darauf berufen.

6. Die Revisionsausführungen, dass der Kläger den Nachweis der Invalidität zu erbringen habe, betreffen auch die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Zwischenurteil erlassen werden darf.

6.1. Trotz der durch die WGN 1989 geschaffenen Erleichterung, nach der ein Zwischenurteil auch dann gefällt werden kann, wenn noch strittig ist, ob der Anspruch überhaupt mit irgendeinem Betrag zu Recht besteht (§ 393 Abs 1 letzter Halbsatz ZPO), gilt weiterhin die Einschränkung, dass alle Anspruchsvoraussetzungen über den Grund des Anspruchs geklärt und alle diesbezüglichen Einwendungen erledigt sein müssen (RIS-Justiz RS0102003 [T3, T 5, T 9]; vgl auch RS0040990). Insbesondere ist ein Zwischenurteil erst dann zu fällen, wenn auch der Kausalzusammenhang mit der behaupteten Schadensfolge, deren Eintritt ebenfalls an sich feststehen muss, geklärt und bejaht ist (vgl RIS-Justiz RS0102003 [T10]). Es ist nicht zulässig, einzelne Vor- oder Teilfragen oder Einwendungen herauszugreifen und zum Gegenstand eines Zwischenurteils nach § 393 Abs 1 ZPO zu machen. Dies ist nur möglich, wenn die betreffenden Fragen von den Parteien ausdrücklich zum Gegenstand eines Zwischenfeststellungsantrags erhoben wurden, doch ist in einem solchen Fall ein Zwischenurteil nach § 393 Abs 2 ZPO zu fällen. Ein Grundurteil über das Bestehen einzelner rechtserheblicher Tatsachen ist unzulässig (RIS Justiz RS0102003 [T12]).

6.2. Im vorliegenden Fall setzt eine ergänzende Versicherungsleistung im Rahmen einer Neubemessung - dem Grunde nach - den Eintritt einer unfallkausalen Verschlechterung des Gesundheitszustands nach dem Zahlungsbefehl voraus. Den Ausführungen des Erstgerichts ist zwar zu entnehmen, dass es von einer Zustandsverschlechterung ausgeht; es fehlen aber Feststellungen dazu, wann diese eingetreten ist. Der Kläger hat aufgrund zweier Gutachten Kenntnis von der Zustandsverschlechterung erlangt. Zwischen dem zeitlich späteren Gutachten und dem Zahlungsbefehl liegt ein Zeitraum von nur rund 2 ½ Monaten. Es bedarf noch näherer Abklärung und Feststellungen dazu, welche Zustandsverschlechterung nach Erlassung des Zahlungsbefehls eingetreten ist, um abschließend über den Anspruchsgrund entscheiden zu können. Dies wird das Erstgericht im fortzusetzenden Verfahren nach Beweisergänzung nachzuholen haben. Dabei obliegt die Entscheidung darüber, ob nicht unter einem die Beweise zur allfälligen Anspruchshöhe aufgenommen werden, dem pflichtgemäßen Ermessen des Erstgerichts.

7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 ZPO.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OGH0002:2015:0070OB00117.15D.1016.000