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OGH vom 11.06.2008, 3Ob107/08v

OGH vom 11.06.2008, 3Ob107/08v

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Prückner, Hon.-Prof. Dr. Sailer und Dr. Jensik sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Sachwalterschaftssache des Josef-Friedrich A*****, Verfahrenssachwalter Erwin G*****, infolge Revisionsrekurses des Betroffenen, vertreten durch den Verfahrenshelfer Mag. Markus Weixlbaumer, Rechtsanwalt in Linz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom , GZ 15 R 7/08t-30, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Linz vom , GZ 36 P 126/07g-25, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung:

Der im 55. Lebensjahr stehende Betroffene bezieht seit längerer Zeit Sozialhilfe. Das Magistrat der Landeshauptstadt Linz regte am die Einleitung eines Verfahrens zur Bestellung eines Sachwalters an und legte dazu ein Gutachten eines gerichtlich beeideten Sachverständigen vor, der zur Arbeitsfähigkeit des Betroffenen Stellung genommen hatte (ON 1). Dieser Gutachter stellte eine „Affekterkrankung im Sinne einer manifesten Manie" fest. Mangels Krankheitseinsicht und medizinischer Betreuung sei eine „progrediente Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustands" zu erwarten. Der Betroffene sei zwar in kognitiv-intellektueller Hinsicht zumindest durchschnittlich leistungsfähig. Wegen Störungen der Konzentrations-, der Kommunikations- und Organisationsfähigkeit und wegen wiederkehrender Affektdurchbrüche (Aggressivität) sei die Einsetzbarkeit des Betroffenen am allgemeinen Arbeitsmarkt nicht gegeben.

Der Betroffene bezieht Sozialhilfe von 400 EUR im Monat. Im Bericht der Abteilungsleiterin des Amts für Soziales, Jugend und Familien vom wurden mehrere verbal aggressive Verhaltensweisen des Betroffenen im Zusammenhang mit der Auszahlung der Sozialhilfe geschildert (ON 3).

Bei der Erstanhörung durch das Erstgericht bestritt der Betroffene die Richtigkeit des Sachverständigengutachtens, gab über seinen Lebenslauf nur kursorisch Auskunft (er sei seit 2 Jahren arbeitslos und lebe derzeit von Sozialhilfe) und verweigerte Angaben über seine Wohnadresse (ON 5). Am wurde ein Verfahrenssachwalter bestellt (ON 7). Der vom Erstgericht bestellte Sachverständige gelangte zu demselben Ergebnis wie der schon zitierte erste Gutachter (ON 9). Im psychiatrischen Befund wird der Betroffene als verbal kontaktfähig, zeitlich, örtlich und situationsbedingt orientiert und kooperativ bezeichnet. Im affektiven Bereich zeige sich eine leicht gehobene Stimmungslage, teilweise eine Antriebsbeschleunigung, aber keine Affektlabilität. Der Gedankengang sei beschleunigt, Denkziele würden sehr schwer erreicht werden, der Untersuchte verzettele sich gedanklich, habe Schwierigkeiten, Sachverhalte logisch zu schildern, sei sehr sprunghaft im Gedankenablauf. Inhaltliche Denkstörungen, vor allem paranoide Ideen, seien derzeit nicht objektivierbar. Die Intelligenz sei im Normbereich. Die Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit seien reduziert, das Auffassungs- und Wahrnehmungsvermögen seien ungestört. Die Kritikfähigkeit sei eingeschränkt. Der Untersuchte sei teilweise distanzlos und „witzelsüchtig", habe Schwierigkeiten, einem Thema längere Zeit gedanklich zu folgen und Sachverhalte nachvollziehbar zu schildern. Er zeige auch ansatzweise Größenideen und Verkennungsideen.

In seiner gutachtlichen Beurteilung führte der Sachverständige aus, dass sich bei der Exploration deutliche Auffälligkeiten im affektiven Bereich im Sinne einer leicht gehobenen Stimmungslage und Antriebsbeschleunigung, eines beschleunigten, wenig zielorientierten, weitschweifigen Gedankengangs verbunden mit einer Kritiklosigkeit, Distanzlosigkeit, Witzelsüchtigkeit und Größenideen gezeigt hätten. Es liege eine „maniforme Störung" vor. Ob es sich dabei um eine Manie oder eine bipolare affektive Störung handle, lasse sich ohne Kenntnis der Vorgeschichte nicht beurteilen. Der Betroffene negiere, dass in der Vergangenheit depressive Phasen aufgetreten seien. Wenn man dem folgte, würde es sich um eine unipolare affektive Störung im Sinne einer Manie handeln. Der Betroffene sei in seiner Kritikfähigkeit eingeschränkt und derzeit nicht in der Lage, sich ausreichend selbst zu versorgen. Er bedürfe einer Hilfestellung.

In der Tagsatzung vom (ON 17) deponierte der Verfahrenssachwalter, dass er ein guter Freund des Betroffenen sei und diesen seit 40 Jahren kenne. Er berichtete aus dem Lebenslauf des Betroffenen (wohnhaft bis zum Jahr 2004 in Wien, danach in Lebensgemeinschaft mit einer Frau; Betreuung der kranken Mutter in Linz; Beendigung der Lebensgemeinschaft in Form eines „Rosenkriegs"; Anzeige gegen den Betroffenen nach dem Meldegesetz; Arbeit als Immobilienmakler uam). Der Sachverständige bestätigte in der Tagsatzung seine Beurteilung über das Vorliegen entweder einer Manie oder einer „bipolaren affektiven Störung", die nicht auf exogene Umstände (etwa wegen der Auseinandersetzungen des Betroffenen mit seiner damaligen Lebensgefährtin) zurückzuführen sei (Gutachten S 5 in ON 17).

Das Erstgericht bestellte für den Betroffenen gemäß § 268 Abs 3 Z 2 ABGB einen Rechtsanwalt zum Sachwalter für die Einkommens- und Vermögensverwaltung sowie zur Vertretung vor Ämtern, Behörden und Gerichten. Es traf aus dem Sachverständigengutachten Feststellungen (die ausführlicher eingangs schon wiedergegeben wurden) und stellte darüber hinaus nur fest, dass der Betroffene monatlich 400 EUR Sozialhilfe beziehe. Sonstige Vermögenswerte bestünden nicht. Der Betroffene sei aufgrund seiner psychischen Erkrankung nicht in der Lage, die von der Sachwalterschaft umfassten Angelegenheiten ohne die Gefahr eines Nachteils selbst zu besorgen.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Der Rekurswerber könne die Richtigkeit des Sachverständigengutachtens nicht in Frage stellen. Er benötige einen Sachwalter, auch wenn dessen Bestellung nur die ultima ratio sein könne. Der Betroffene habe jedenfalls Umgang mit Ämtern, beziehe er doch Sozialhilfe.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfragen nicht zulässig sei.

Mit seinem Revisionsrekurs beantragt der durch einen Verfahrenshelfer vertretene Betroffene die Aufhebung zur Verfahrensergänzung durch das Rekursgericht, hilfsweise die Aufhebung zur Verfahrensergänzung durch das Erstgericht.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Rekursgerichts zulässig und im Sinne des Aufhebungsantrags zur Verfahrensergänzung durch das Erstgericht auch berechtigt.

I. Die Revisionsrekursausführungen wenden sich ganz überwiegend gegen die von den Vorinstanzen festgestellte psychische Erkrankung. Die Richtigkeit der Beweiswürdigung (des Gutachtens) ist vor dem Obersten Gerichtshof, der nur Rechtsinstanz, nicht aber Tatsacheninstanz ist (RIS-Justiz RS0007236), nicht anfechtbar. Die gerügte Mangelhaftigkeit des Verfahrens wegen Unterlassung der Einholung eines weiteren Gutachtens liegt nicht vor.

II. Berechtigt sind aber die gerügten Feststellungsmängel unter dem Gesichtspunkt der sich aus § 268 Abs 2 ABGB ergebenden Subsidiarität der Bestellung eines Sachwalters:

I. Noch zur alten Rechtslage, aber bereits unter Bezug auf das durch das Sachwalterrechts-Änderungsgesetz (SWRÄG 2006, BGBl I 2006/92) verstärkte Subsidiaritätsprinzip hat der erkennende Senat seiner Entscheidung 3 Ob 208/06v (= iFamZ 2007/69, 141 [Panapatits] = EF-Z 2007/40, 65 = Zak 2007/14, 16) folgende Grundsätze vorangestellt:

a) Die Bestellung eines Sachwalters hat subsidiären Charakter und darf nur dann erfolgen, wenn der Betroffene nicht anders, nämlich durch die [damals im § 273 Abs 2 ABGB, jetzt im § 268 Abs 2 ABGB] erwähnten Möglichkeiten, in die Lage versetzt werden kann, seine Angelegenheiten im erforderlichen Ausmaß zu besorgen (RIS-Justiz RS0049088).

b) Die Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer Bestellung eines Sachwalters für eine behinderte Person müssen konkret und begründet sein. Sie müssen sich sowohl auf die psychische Krankheit oder geistige Behinderung als auch auf die Schutzbedürftigkeit beziehen (6 Ob 196/97k). Die Sachwalterbestellung setzt voraus, dass überhaupt Angelegenheiten zu besorgen sind (4 Ob 2299/96h).

c) Die Bestellung eines Sachwalters ist dann unzulässig, wenn der Betroffene sich der Hilfe anderer in rechtlich einwandfreier Weise bedienen kann, beispielsweise durch Vollmachtserteilung oder durch Genehmigung einer Geschäftsführung (RIS-Justiz RS0048997).

d) Die Hilfe durch einen Vertreter ist nur dann möglich, wenn die behinderte Person noch zu eigenem Handeln fähig ist, also noch über ein bestimmtes Maß an Einsichtsfähigkeit und Urteilsfähigkeit verfügt (RIS-Justiz RS0049004).

Der zitierten Vorentscheidung lag der Fall einer im obersten Stockwerk eines Hauses ohne Lift wohnhaften, gehbehinderten, leicht dementen und alleinstehenden Betroffenen (geboren 1925) zugrunde, die bei den Geschäften des täglichen Lebens von einem guten Bekannten unterstützt worden war. Die Vorinstanzen hatten einen Sachwalter bestellt. Der Oberste Gerichtshof vermisste Feststellungen über die Art der Angelegenheiten, die zu besorgen waren, sowie über die Einsichtsfähigkeit der Betroffenen über die Eignung eines von ihr selbst zu wählenden Bevollmächtigten. Bei gegebener Einsichtsfähigkeit könne sich ein Betroffener selbst fremde Hilfe organisieren.

II. Die in der Vorentscheidung angestellten Überlegungen gelten hier umso mehr, als mit den am in Kraft getretenen neuen Bestimmungen im Sachwalterrecht das Subsidiaritätsprinzip und die Selbstbestimmung der behinderten Person gestärkt werden sollten (Hopf in KBB2, § 268 ABGB Rz 1). Gemäß § 268 Abs 2 ABGB ist die Bestellung eines Sachwalters unzulässig, soweit Angelegenheiten der behinderten Person durch einen anderen gesetzlichen Vertreter oder im Rahmen einer anderen Hilfe, besonders in der Familie, in Pflegeeinrichtungen, in Einrichtungen der Behindertenhilfe und im Rahmen sozialer oder psychosozialer Dienste, im erforderlichen Ausmaß besorgt werden. Ein Sachwalter darf auch dann nicht bestellt werden, soweit durch eine Vollmacht, besonders eine Vorsorgevollmacht, oder eine verbindliche Patientenverfügung für die Besorgung der Angelegenheiten der behinderten Person im erforderlichen Ausmaß vorgesorgt ist.

III. Schon aus diesem Gesetzestext allein folgt die Verpflichtung der Gerichte zu ausreichenden Feststellungen über die Art der zu besorgenden Angelegenheiten (so schon 4 Ob 2299/96h) und die Einsichtsfähigkeit der behinderten Person zur Bevollmächtigung eines geeigneten Vertreters. Nach den erstinstanzlichen Feststellungen hätte der Betroffene ausschließlich im Zusammenhang mit der Erlangung und Auszahlung der Sozialhilfe mit einem Amt in Kontakt zu treten, allenfalls auch mit dem Arbeitsmarktservice, AMS, (nach dem Gutachten ON 1 ist er freilich auf dem allgemeinem Arbeitsmarkt nicht vermittelbar, sodass eine Verweisung des Betroffenen an das AMS unwahrscheinlich erscheint), weitere zu erwartende Berührungspunkte mit Ämtern, Behörden und Gerichten wurden ebenso wenig festgestellt wie weiteres Einkommen oder Vermögenwerte des Betroffenen. Nach dem Akteninhalt liegt die Ursache der Sachwalterbestellung, bei der es sich immerhin um einen massiven Eingriff in Persönlichkeitsrechte der betroffenen Person handelt, wohl nur darin, dass sich der Betroffene bei der Erlangung und Auszahlung der Sozialhilfe „verbal ausfällig" verhielt. Die Gefahr, dass die weitere Auszahlung der Sozialhilfe (die er offenkundig bislang weiterbezieht) ohne Sachwalterbestellung gefährdet wäre, ist nicht indiziert. Ins Auge zu fassen ist schließlich die naheliegende Möglichkeit, dass der Betroffene beispielsweise seinem einstweiligen Sachwalter Vollmacht erteilt (dieser hat bisher nur seine Bestellung zum Sachwalter abgelehnt, sich immerhin aber als jahrzehntelanger Freund des Betroffenen deklariert) und sich vor dem Magistrat in Angelegenheiten der Sozialhilfe vertreten lässt.

IV. Im fortgesetzten Verfahren werden daher in Entsprechung des Untersuchungsgrundsatzes (§ 13 Abs 1 AußStrG) die erforderlichen Erhebungen durchzuführen und Feststellungen zu folgenden Themen zu treffen sein:

a) Über allfälliges weiteres Einkommen und allfällige Vermögenswerte (zu diesem Thema werden geeignete Beweismittel auszuforschen, jedenfalls wird aber der einstweilige Sachwalter ergänzend zu vernehmen sein);

b) Über die Möglichkeit einer Vollmachtserteilung durch den Betroffenen an eine geeignete Person, also über die Einsichtsfähigkeit bei der Auswahl des Vertreters (zur Einsichtsfähigkeit ist auf die Befundaufnahme des Sachverständigen zu verweisen, wonach der Betroffene immerhin über die Intelligenz im Normbereich und ein ungestörtes Auffassungs- und Wahrnehmungsvermögen verfügt);

c) Über die Art der zu besorgenden Angelegenheiten.

Erst nach Ergänzung des Verfahrens wird die Frage der Zulässigkeit der Sachwalterbestellung iSd § 268 Abs 2 ABGB abschließend beurteilt werden können.