OGH vom 09.10.2014, 6Ob167/14y

OGH vom 09.10.2014, 6Ob167/14y

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ. Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Außerstreitsache des Antragstellers M***** K*****, Deutschland, vertreten durch Dr. Robert Kugler und Mag. Michael Wohlgemuth, Rechtsanwälte in Klagenfurt am Wörthersee, gegen die Antragsgegnerin S***** T*****, wegen Rückführung des minderjährigen Jeremy Cheikh T*****, geboren am , über den Revisionsrekurs des Antragstellers gegen den Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Rekursgericht vom , GZ 4 R 237/14s 29, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Klagenfurt vom , GZ 4 Ps 272/13a 21, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidung des Erstgerichts wird wiederhergestellt.

Ein Kostenersatz findet nicht statt.

Text

Begründung:

Der am geborene Jeremy Cheikh ist der außereheliche Sohn des M***** K*****, geboren am in Prokhane (Senegal), und der S***** T*****, geboren am in Rathenow (Deutschland). Der Vater ist senegalesischer Staatsbürger, die Mutter deutsche Staatsbürgerin.

Mit Notariatsakt vor dem Notar Dirk Siegfried in Berlin vom anerkannte der Vater die Vaterschaft, die Mutter stimmte der Anerkennung zu. Die Eltern vereinbarten des weiteren die gemeinsame Obsorge für das Kind. Mit Zusatzvereinbarung vom November 2010 wurde der hauptsächliche Aufenthaltsort von Jeremy Cheikh bei der Mutter festgelegt.

Im November 2010 trennten sich die Eltern, wohnten jedoch noch bis Februar 2011 in einer gemeinsamen Wohnung. Während der gesamten gemeinsamen Zeit absolvierte die Mutter eine Ausbildung zur Bürokauffrau. Das Kind wurde hauptsächlich vom Vater betreut. Dieser verfügt über eine unbegrenzte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis.

Im Februar 2011 zog die Mutter mit dem Kind aus der gemeinsamen Wohnung aus und lebte in einer neuen Beziehung, aus der für November 2011 ein Kind erwartet wurde.

Nach dem Auszug betreute der Vater das Kind anfänglich noch von Freitag bis Montag. Im Februar 2011 brach der Kontakt des Vaters zum Kind wegen der problematischen Kommunikation zwischen den Eltern jedoch zur Gänze ab.

Der Vater strebte den Kontakt weiter an. Im Herbst 2011 kam es zu Gesprächen bei der Abteilung für Jugend des Bezirksamts Reinikendorf. Anfangs lehnte die Mutter den Kontakt zwischen dem Kind und dem Vater ab. Im Oktober 2011 erklärte sie, dass nur ein begleiteter Umgang in Frage käme; ein solcher konnte jedoch nicht umgesetzt werden. Die Abteilung für Jugend und Familie bahnte den Kontakt zur Erziehungs- und Familienberatungsstelle an.

Am stellte der Vater beim Amtsgericht Pankow einen Antrag auf Durchsetzung des Umgangsrechts. Mit gerichtlichem Beschluss vom wurde geregelt, dass der Lebensmittelpunkt des Kindes bei der Mutter ist, dem Vater ein regelmäßiger Umgang mit dem Kind zusteht und zur Verbesserung der Verständigung der Eltern Elterngespräche mit professioneller Begleitung notwendig sind. Der Umgang sollte vorerst in begleiteter Form mit dem Ziel, nach Beendigung in unbegleiteter Form fortgesetzt werden zu können, stattfinden. Beginn war der in der Zeit von 14:30 bis 16:00 Uhr, wobei die Übergabe an den Vater und Besuchsbegleiter in der KITA zu erfolgen hatte, ebenso die Übernahme durch die Mutter. Die Besuchskontakte fanden bis zum regelmäßig statt. Lediglich im Sommer 2012 kam es zu einer dreimonatigen Unterbrechung, als sich der Vater unangekündigt in den Senegal begab. In der Zeit der Kontakte konnte sich eine stabile Beziehung zwischen dem Vater und dem Kind entwickeln. Ab fand der Umgang in unbegleiteter Form statt.

Im Mai/Juni 2013 teilte die Mutter dem Vater mit, sie wolle mit dem Kind nach Österreich übersiedeln. Der Vater sprach sich dagegen aus und wollte, dass das Kind in Deutschland verbleibt.

Im Juni 2013 kündigte die Mutter beim letzten Elterngespräch vor dem Bezirksamt Reiniken, Abteilung für Jugend, an, im August mit dem Kind nach Österreich übersiedeln zu wollen. Der Vater sprach sich neuerlich dagegen aus. Ebenfalls im Juni 2013 fand der letzte Kontakt zwischen dem Vater und dem Kind statt.

Am stellte die Mutter beim Amtsgericht Pankow einen Antrag auf einstweilige Anordnung der Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts hinsichtlich des Kindes. Eine Entscheidung in dieser Sache ist noch nicht ergangen.

Die Mutter teilte dem Vater mit, sie werde mit dem Kind ihre Eltern in Rostock besuchen, übersiedelte jedoch stattdessen gegen den Willen des Vaters mit dem Kind nach Österreich.

Die Mutter lebt jetzt mit dem Kind, ihrer Tochter aus zweiter Beziehung und ihrem jetzigen Lebensgefährten in S***** in einem Haus mit Garten. Das Kind besucht den Kindergarten und erfuhr eine eigene Sprachförderung in Deutsch. Die mittlerweile zweijährige Tochter der Mutter besucht in S***** die Krabbelstube. Die Mutter ist beim Arbeitsamt arbeitssuchend gemeldet, ihr Lebensgefährte ist berufstätig.

Der Vater hat ab eine 55 m² große 2 Zimmerwohnung mit Küche, Toilette, Bad, Diele und Kellerraum in Berlin gemietet. Seit hat er ein Gewerbe mit Tätigkeitsbereich Tele-Café, Einzelhandel mit Restposten, Geschenkartikel, Kosmetik, An- und Verkauf von Haushaltsgeräten und Elektrogeräten angemeldet. Sein Führungszeugnis vom weist keine Eintragungen auf.

Mit der Rückführung des Kindes nach Deutschland ist keine schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden.

Der Vater beantragte am die Rückführung des Kindes nach Deutschland nach dem Haager Übereinkommen vom über die zivilrechtlichen Ansprüche internationaler Kindesentführung (HKÜ).

Die Mutter sprach sich gegen eine Rückführung des Kindes aus. Der Vater sei nicht ausreichend der deutschen Sprache mächtig, zudem unzuverlässig und habe die Obsorge über das Kind während seiner Kontaktzeiten auch an andere Personen übergeben. Während ihrer Zeit in Deutschland sei es auch zu Hausdurchsuchungen wegen des Vaters gekommen, dieser habe auch zu einer Verhandlung vor Gericht wegen Drogenhandels erscheinen müssen. Das Kind habe sich in S***** (in Österreich) sehr gut eingelebt.

Das Erstgericht ordnete die Rückführung des Kindes auf deutsches Staatsgebiet an. Der Vater habe sich bis zur Trennung überwiegend um das Kind gekümmert, es anfänglich auch noch nach der Trennung ausgiebig betreut und sich nach dem Auszug der Mutter über das Bezirksamt Reinikendorf und das Amtsgericht Pankow um weiteren regelmäßigen Kontakt zu seinem Sohn bemüht. Gemeinsame Obsorge bedeute, dass auch der Vater das Recht habe, bei wesentlichen Entscheidungen mitzureden. Zur Obsorge gehöre auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht, über das die Eltern hier nur gemeinsam bestimmen könnten. Dagegen habe die Mutter mit ihrer Übersiedlung mit dem Kind nach Österreich gegen den Willen des Vaters verstoßen.

Das Rekursgericht wies den Antrag des Vaters auf Rückführung des Kindes ab. Es verneinte eine Bindung österreichischer Gerichte an Widerrechtlichkeitsbe-scheinigungen (auch) deutscher Gerichte. Im Übrigen habe der Vater vor der Verbringung des Kindes nach Österreich lediglich sein Kontaktrecht ausgeübt, eine weitergehende Beteiligung am Leben seines Sohnes sei nicht festgestellt worden. Die Voraussetzung der tatsächlichen Ausübung eines Obsorgerechts nach Art 3 HKÜ sei nicht erfüllt, wenn ein Elternteil bloß sein Umgangsrecht ausgeübt habe.

Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs zu: Z ur Frage, ob ein Entführungsfall vorliege, wenn die tatsächliche Kontaktausübung zwischen Kind und nicht betreuendem Elternteil im Ursprungsstaat über ein bloßes Kontaktrecht nicht hinausgeht, nähmen Lehre und Rechtsprechung unterschiedliche Standpunkte ein; außerdem bestehe keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage, welche Wirkung eine von einem deutschen Gericht ausgestellte Widerrechtlichkeitsbescheinigung nach Art 15 HKÜ für die österreichischen Gerichte im Rückführungsverfahren nach sich ziehe.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Vaters ist zulässig; er ist auch berechtigt.

1. Nach der zu RIS-Justiz RS0106625 (vgl auch RS0106624) indizierten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, auf die sich das Rekursgericht stützte, ist Voraussetzung für die Anwendung des Art 3 HKÜ die Verletzung eines tatsächlich ausgeübten Obsorgerechts oder Mitobsorgerechts. Bei einer Trennung der Eltern erfüllt diese Voraussetzung in der Regel nur der Elternteil, bei dem das Kind wohnt, die Ausübung eines bloßen Umgangsrechts genügt nicht. Dabei ging es regelmäßig um Fälle, in denen der eine Elternteil (allein) obsorgeberechtigt und der andere (lediglich) umgangsberechtigt war (etwa 7 Ob 35/97s; 1 Ob 167/08b; 6 Ob 73/12x; vgl auch 8 Ob 368/97v).

Ein solcher Fall liegt hier allerdings nicht vor; beide Elternteile verfügen über die (gemeinsame) Obsorge nach deutschem Recht.

2. Der Oberste Gerichtshof hat diesen Grundsatz zwar auch in Fällen angewendet, in denen beiden Elternteilen die (gemeinsame) Obsorge zukam, der entführende Elternteil also (lediglich) in die Mitobsorge des anderen Elternteils eingriff.

2.1. Dabei ging es allerdings zum einen um Fälle, in denen das dem anderen Elternteil eingeräumte Umgangsrecht „weit über ein klassisches Wochenend- beziehungsweise Ferienbesuchsrecht“ hinausging (1 Ob 163/09s; 5 Ob 227/10h: „Sorgerecht … ausgeübt“; vgl auch 6 Ob 36/13g), weshalb eine Sorgerechtsverletzung bejaht wurde.

2.2. Zum anderen ging es um Fälle, in denen die tatsächliche Kontaktausübung zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil in einem Ausmaß erfolgt war, welches ein „klassisches Wochenend- beziehungsweise Ferienbesuchsrecht bei Weitem unterschritt“, und dieser Elternteil außerdem jenseits der Besuchskontakte am Leben des Kindes keinen Anteil nahm, keinerlei Entscheidungen mittraf und insbesondere auch sein Recht nicht ausübte, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen (6 Ob 139/10z; ebenso 6 Ob 230/12k, wo der andere Elternteil mehr als ein Jahr vor dem Verbringen des Kindes keinen Besuchskontakt mehr mit dem Kind gehabt hatte); in diesen Fällen wurde die Sorgerechtsverletzung verneint.

2.3. Die Entscheidungen 8 Ob 25/05t, 1 Ob 219/10b, 6 Ob 39/13y und 6 Ob 66/14w erwähnen zwar die zu 1. dargestellte Rechtsprechung; diese war dort jedoch jeweils nicht entscheidungsrelevant. Die Entscheidungen 6 Ob 135/03a, 8 Ob 121/03g und 6 Ob 116/14y sind überhaupt nicht einschlägig.

3. In der österreichischen Literatur wurde die zu 1. dargestellte Rechtsprechung kritisiert. Vor allem Nademleinsky/Neumayr (Internationales Familienrecht [2007] Rz 09.07) meinten, richtigerweise sei die tatsächliche Ausübung der Obsorge im Sinn des Art 3 HKÜ nur in Situationen zu verneinen, in welchen ein sorgeberechtigter Elternteil sich objektiv nicht mehr für das Kind interessiert. Auch Gitschthaler (in Schwimann/Kodek , ABGB 4 ErgBd 1a zum KindNamRÄG 2013 [2013] § 162 Rz 15) äußerte zuletzt Bedenken und wollte in der Entscheidung 6 Ob 36/13g „Tendenzen für einen möglichen Judikaturwandel erkennen“.

4. In dieser Entscheidung hatte der erkennende Senat auf deutsche Literaturmeinungen (und zweitinstanzliche Rechtsprechung in Deutschland) verwiesen, die die Anwendungsvoraussetzung der tatsächlichen Ausübung des Sorgerechts oder Mitsorgerechts bei einer Trennung der Eltern auch bei Ausübung eines bloßen Umgangsrechts genügen lassen wollen.

5.1. Entgegen der vom Rekursgericht vertretenen Auffassung gibt es soweit ersichtlich keine Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs, in denen bei gemeinsamer Obsorge beider Eltern beziehungsweise jeweiliger Alleinobsorge die tatsächliche Ausübung dieser Mitobsorge schon allein deshalb verneint worden wäre, weil die tatsächlich ausgeübten Kontakte ein „klassisches Wochenend- beziehungsweise Ferienbesuchsrecht bei Weitem unterschritt[ en ]“ hätten. Tatsächlich handelte es sich jeweils um Fälle, in denen sich der (ebenfalls) sorgeberechtigte Elternteil objektiv nicht mehr für das Kind interessiert hatte (6 Ob 139/10z; 6 Ob 230/12k) und in denen auch Nademleinsky/Neumayr (Internationales Familienrecht Rz 09.07) eine tatsächliche Ausübung der Mitobsorge verneint hätten (vgl 6 Ob 139/10z). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor:

5.2. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen steht den Eltern im vorliegenden Fall die gemeinsame Obsorge zu. Zum (maßgeblichen [RIS-Justiz RS0119948]) Zeitpunkt unmittelbar vor dem Verbringen des Kindes nach Österreich übte der Vater sein Kontaktrecht regelmäßig aus, wobei sich in der Zeit der Kontakte eine stabile Beziehung zwischen Vater und Kind entwickelte und seit der Umgang in unbegleiteter Form stattfand. Zuvor hatten begleitete Kontakte im Ausmaß von rund 1,5 Stunden wöchentlich stattgefunden, bezüglich der unbegleiteten Kontakte trafen die Eltern jeweils „Verabredungen bezüglich des Umgangs“, wobei das Ausmaß dieser Kontakte dem Akteninhalt jedoch konkret nicht zu entnehmen ist.

Auch wenn somit der Vater vor dem Verbringen des Kindes nach Österreich möglicherweise lediglich Kontakte zu diesem hatte, die ein klassisches Wochenend- beziehungsweise Ferienbesuchsrecht unterschritten, ist doch zu berücksichtigen, dass sich der Vater zum einen um die Festsetzung eines Kontaktrechts bei Gericht und um ein Einvernehmen mit der Mutter bei unbegleiteten Kontakten bemüht und sich zum anderen auch gegen eine Übersiedlung von Mutter und Kind nach Österreich ausgesprochen hatte. Von einem objektiven Desinteresse des Vaters an den Kontakten bzw an seinem Kind kann somit nicht gesprochen werden. Dazu kommt wie bereits dargelegt , dass der Vater hier nicht auf ein reines Kontaktrecht beschränkt war, sondern auch über die Mitobsorge verfügte.

5.3. Selbst wenn man somit die zu 1. dargestellte Rechtsprechung aufrecht erhalten wollte, wäre sie auf den vorliegenden Sachverhalt nicht anwendbar. Der Vater hat vor der Verbringung des Kindes nach Österreich sein Mitsorgerecht tatsächlich ausgeübt, sodass die Verbringung widerrechtlich war, was sich im Übrigen ja auch aus der deutschen Widerrechtlichkeitsbescheinigung nach Art 15 HKÜ ergibt.

6. Nach den Feststellungen des Erstgerichts, die die Mutter in ihrem Rekurs auch nicht bekämpft hat (eine Revisionsrekursbeantwortung hat sie nicht erstattet), ist mit der Rückführung des Kindes nach Deutschland keine schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden. Damit war aber der erstinstanzliche Beschluss wieder herzustellen.

7. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 111a iVm § 107 Abs 5 AußStrG.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OGH0002:2014:0060OB00167.14Y.1009.000