OGH vom 31.08.2010, 5Ob103/10y
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden und die Hofrätinnen Dr. Hurch und Dr. Lovrek sowie die Hofräte Dr. Höllwerth und Dr. Roch als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen Benjamin M*****, vertreten durch die mütterliche Großmutter Monika M*****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Melanie W*****, vertreten durch Dr. Bertram Grass, Mag. Christoph Dorner, Rechtsanwälte in Bregenz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Rekursgericht vom , GZ 4 R 115/10v-31, womit über Rekurs der Mutter der Beschluss des Bezirksgerichts Wolfsberg vom , GZ 1 PS 304/09y 28, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Pflegschaftssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung über den Antrag der Mutter vom , ihr die Obsorge über den Minderjährigen rückzuübertragen, zurückverwiesen.
Text
Begründung:
Gegenstand des Verfahrens ist der Antrag der Mutter , ihr die Obsorge für ihren mj Sohn Benjamin, geboren , wieder zu übertragen, nachdem sie ihr Ende 2008 im Wesentlichen wegen einer gar nicht näher untersuchten und konkretisierten „psychischen Störung“ (Ritzen, ärztliche Behandlung mit Antidepressiva) und der Unfähigkeit, dem Kind „ein gesichertes Aufwachsen in einer ungefährdeten Umgebung zu ermöglichen“, entzogen und der mütterlichen Großmutter rechtskräftig übertragen wurde. Die Mutter behauptet eine positive Veränderung ihrer Lebensverhältnisse (Heirat, Umzug nach Vorarlberg) und Überwindung der psychischen Probleme.
Das Erstgericht holte Stellungnahmen der Bezirkshauptmannschaft W***** und der Bezirkshauptmannschaft B***** ein, vernahm die Mutter und ihren Ehegatten, die mütterliche Großmutter sowie eine Sozialarbeiterin; eine Anhörung des Kindes (oder eine Begründung für die Unterlassung) iSd § 105 AußStrG ist dem Akt nicht zu entnehmen. Die „Feststellungen“ im antragsabweisenden Beschluss des Erstgerichts beschränken sich überwiegend auf die Wiedergabe von Inhalten der Jugendamts-Berichte; Konkretes zur Haltung des Kindes zum Obsorgewechsel und seiner allfälligen Gefährdung im Fall eines solchen, zur nunmehrigen Erziehungsfähigkeit der Mutter und zu einer Prognose für die künftige Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Pflege und Erziehung des Kindes durch die Mutter fehlen. Die Rückübertragung der Obsorge wurde (dennoch) abgelehnt, weil sie wegen des Umzugs nach Vorarlberg und der Aufgabe der bei der mütterlichen Großmutter gewonnenen Stabilität im Leben des Kindes eine Unterbrechung der Kontinuität der Erziehung bedeute. Verschärft werde die Situation durch die „fragliche psychische Stabilität“ der Mutter. Es könne nicht mit Sicherheit angenommen werden, dass die Mutter tatsächlich zur Ausübung der Obsorge in der Lage sei.
Mit ihrem Rekurs legte die Mutter ein Attest des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie und Gerichtssachverständigen Dr. Helmut K***** vor, wonach sich derzeit () bei der Mutter ein unauffälliger psychiatrischer Befund zeige. Es ließen sich keine psychischen Störungen feststellen, sie wirke psychopathologisch unauffällig und psychisch stabil; Hinweise für eine aktuelle Drogenabundanz oder einen erhöhten Alkoholkonsum seien nicht zu finden, ebenso wenig Hinweise auf eine Suchterkrankung sowie Drogen- oder Alkoholabusus. Obwohl sich keine Auffälligkeiten für eine Borderline-Störung ergeben hätten, könne eine solche nicht ausgeschlossen werden; für eine solche Diagnose seien Vorbefunde und Längsschnittdiagnosen erforderlich.
Das Rekursgericht bestätigte die Antragsabweisung. Es sei zwar durch das Attest dokumentiert, dass derzeit seitens der Mutter keine Gefährdungspotentiale mehr gesehen werden könnten und sie sich ganz offenbar bemüht und es auch geschafft habe, ihre gesundheitlichen Probleme in den Griff zu bekommen. Allerdings sei die Zeitspanne ihrer Konsolidierung noch viel zu kurz, um eine verlässliche und gesicherte hohe Wahrscheinlichkeit ihrer Eignung als Obsorgeträgerin indizieren zu können. Es entspreche sicher auch dem Wohl des Kindes besser, in vertrauter Umgebung und im bekannten sozialen Umfeld eingeschult zu werden. Eine Beurteilung der Gesamtumstände gebe gegenwärtig () jedenfalls den Ausschlag für eine Beibehaltung der aktuellen Situation.
Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter mit dem Antrag auf Abänderung im antragsstattgebenden Sinn, hilfsweise Aufhebung und Zurückverweisung an die erste Instanz.
Die freigestellte Möglichkeit der Einbringung einer Revisionsrekursbeantwortung nahm die mütterliche Großmutter nicht wahr.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt , weil das Rekursgericht ohne ausreichende Tatsachengrundlagen eine negative Zukunftsprognose abgab und damit eine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung des Einzelfalls vornahm.
1. Ein Elternteil kann mit einem Antrag auf Aufhebung einer Obsorgeübertragung nur dann durchdringen, wenn die Voraussetzungen für ihre Anordnung weggefallen sind und anzunehmen wäre, dass eine Gefahr für das Wohl der Kinder nun nicht mehr besteht (RIS-Justiz RS0048731 [T1]; RS0109080 [T1]). Während die Entziehung oder Einschränkung elterlicher Rechte und Pflichten nur als äußerste Notmaßnahme gerechtfertigt werden kann und das Gericht nur einzuschreiten hat, wenn ihm Missbrauch oder Vernachlässigung der Erziehung angezeigt oder amtlich bekannt wird und eine konkrete ernste Gefahr für die Entwicklung der Kinder besteht (SZ 51/112; RIS-Justiz RS0048699; RS0047961), ist dann, wenn eine Einschränkung der elterlichen Rechte und Pflichten bereits stattfinden musste, bei einem Antrag auf Rückführung der Kinder in Pflege und Erziehung der leiblichen Eltern ein anderer Maßstab anzulegen. Es muss mit großer Wahrscheinlichkeit klargestellt sein, dass nunmehr die ordnungsgemäße Pflege und Erziehung durch den antragstellenden Elternteil, dem schon einmal die Obsorge wegen Gefährdung des Kindeswohls entzogen werden musste, gewährleistet ist und keine Gefahr mehr für das Wohl des Kindes und dahin besteht, dass wieder eine Maßnahme nach § 176 Abs 2 ABGB angeordnet werden müsste (RIS-Justiz RS0009676, insbesondere [T6]). Da das Kindeswohl auch bei der Aufhebung von Maßnahmen dem Elternrecht vorgeht (8 Ob 99/03x = RIS-Justiz RS0118080), muss eindeutig feststehen, dass die Wiederherstellung der Obsorge der Mutter dem Kindeswohl dient (vgl RIS-Justiz RS0009676 [T3]). Dabei ist nicht nur von der aktuellen Situation auszugehen, sondern auch eine Zukunftsprognose anzustellen; ein Obsorgewechsel hat zu unterbleiben, wenn keine sichere Prognose über dessen Einfluss auf das Kind vorliegen (RIS Justiz RS0048632 [T2, T 3 und T 6]). Bei der Entscheidung ist zu berücksichtigen, ob - vor allem bei einem längeren Aufenthalt bei einem Dritten - die Notwendigkeit der Trennung von diesem zu psychischen Beeinträchtigungen des Kindes und damit zu einer Gefährdung des Kindeswohls führen würde; dabei stehen aber nur solche zu erwartenden Beeinträchtigungen einer Rückführung des Kindes entgegen, die als nicht bloß vorübergehende Umstellungsschwierigkeiten zu werten sind, sondern eine konkrete, ernste Gefahr für die Entwicklung der Kinder ergeben würden (9 Ob 28/04i = RIS-Justiz RS0009673 [T4]). Dem Grundsatz der Kontinuität der Erziehung kommt zwar bei der Gesamtbeurteilung des Kindeswohls Bedeutung zu, er darf aber nicht um seiner selbst Willen jedenfalls aufrecht erhalten werden (RIS-Justiz RS0047928).
2. Nach der Aktenlage (auch schon vor der Vorlage des ärztlichen Attests im Rekurs) erscheint eine grundlegende Änderung der Lebensverhältnisse und Situation der Mutter zum Positiven (Heirat, gesicherte Wohnversorgung, Überwindung der psychischen Probleme) und damit ein Wegfall jener Gründe, die zur Entziehung der Obsorge geführt haben, keineswegs ausgeschlossen.
Daher war das Pflegschaftsgericht - ungeachtet des spärlichen Vorbringens der (in erster Instanz unvertretenen) Mutter - gehalten (§§ 13, 16 AußStrG), sowohl über die bei der Mutter gegebene Situation (auch in gesundheitlicher Hinsicht) und ihre Erziehungsfähigkeit als auch über jene des Kindes unter Bedachtnahme auf sein Anhörungsrecht (§ 105 AußStrG) ein Beweisverfahren durchzuführen und die erforderlichen Tatsachenfeststellungen zu treffen, um die relevanten Fragen der Gefährdung des Kindeswohls und der notwendigen Zukunftsprognose im Sinne der wiedergegebenen Rechtslage beurteilen zu können. Dies ist aber bislang im Wesentlichen unterblieben. Daran ändert auch die Berücksichtigung des (positiven) Inhalts des ärztlichen Attests zugunsten der Mutter durch das Rekursgericht nichts, weil sowohl die Einschätzung der Konsolidierung der Mutter als zu kurzfristig als auch der Hinweis auf die Problematik des Schuleintritts in neuer nicht vertrauter Umgebung jeglicher Konkretisierung und Grundlage im erhobenen Sachverhalt entbehren.
3. In Stattgebung des Revisionsrekurses waren daher die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und dem Erstgericht aufzutragen, das Verfahren im aufgezeigten Umfang zur aktuellen und künftigen Situation zu ergänzen und sodann über den Antrag der Mutter neuerlich zu entscheiden.