OGH vom 05.07.2017, 7Ob102/17a
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache der Bewohnerin H***** G*****, geboren ***** 1981, *****, vertreten durch ifs Bewohnervertretung (Bewohnervertreter Dr. H***** S*****) Institut für Sozialdienste, *****, diese vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, Sachwalterin E***** G*****-K*****, Einrichtungsleiter N***** S*****, wegen Überprüfung einer Freiheitsbeschränkung gemäß § 11 HeimAufG, über den Revisionsrekurs des Vereins gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch als Rekursgericht vom , GZ 2 R 87/17k-15, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Feldkirch vom , GZ 27 HA 1/17y-6, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung:
Bei der Bewohnerin liegt eine schwere psychomentalmotorische Entwicklungsstörung vor. Sie kann Gefahren und Risiken nicht realistisch einschätzen und nur mit personeller Begleitung am öffentlichen Leben teilnehmen. Die Bewohnerin hält sich von Montag bis Freitag untertags zur Betreuung in einer Lebenshilfe-Werkstätte auf. Sie zeigt dort ein weitgehend passives Verhalten und muss zu allen Aktivitäten angehalten werden. Sie geht nicht zielgerichtet in andere Räumlichkeiten, auch großteils nicht aktiv auf die Betreuer zu, kann Wünsche und Bedürfnisse nicht verbal artikulieren und benötigt bei Spaziergängen außerhalb der Einrichtung eine 1:1-Betreuung mit Handführung. Sie reagiert vor allem auf akustische Reize dahin, dass sie sich selbständig primär in Bereiche bewegt, aus denen sie Geräusche wahrnehmen kann. Ihr Bewegungsradius in der Werkstätte umfasst grundsätzlich nur den Gruppen- und Speiseraum. In alle anderen Bereiche, insbesondere auch in den Außenbereich, geht sie nur mit Begleitung. Sie zeigt von sich aus keine Willensäußerungen. Die Bewohnerin ist noch nie selbständig und alleine aus dem Gebäude in den Außenbereich der Werkstätte gegangen.
Die Lebenshilfe-Werkstätte verfügt über einen Außenbereich, der direkt über die nicht versperrte Haustür und die Garage erreicht werden kann. Im Bereich des Vorplatzes vor der Garage besteht ein ca 1,95 m hoher Außenzaun (Baustellenzaun), der auf dieser Seite das Werkstättenareal nach außen abgrenzt. In diesem Baustellenzaun existiert eine Türöffnung und daneben ein Tor, durch das auch Autos durchfahren können. Die Tür im Baustellenzaun ist außen mit einer Türschnalle und innen mit einem sehr leichtgängigen, „teilweise defekten“ Drehknopf versehen. Ein Türschloss ist nicht vorhanden. Am oberen Ende des Bauzauns wird die Tür durch eine Türfalle („Oberfalle“) gesichert, die von innen mit Hilfe eines am Zaun durch eine Seilschnur befestigten Holzstücks nach oben geschoben werden kann. Die Bewohnerin hat bislang nie versucht, die Tür mit der Oberfalle zu öffnen und sie ist dazu auch nicht in der Lage. Sie kann weder den Drehknopf noch den Mechanismus zur Öffnung der Oberfalle betätigen.
Links neben der Tür befindet sich das Tor, das nicht versperrt, durch Pflanzenbewuchs aber schwergängig ist. Dieses Tor hat kein Schloss und ist auf der Innenseite ebenfalls mit einem leichtgängigen Drehknopf versehen. Das Tor kann durch einfaches Drehen am Drehknopf und Heranziehen des Tores geöffnet werden.
Das Werkstättengebäude verfügt zudem an der Nordseite über eine nicht verschlossene Fenstertür mit normaler Türschnalle, durch die man direkt in den Bereich der angrenzenden öffentlichen Straße gelangen kann. Diese Tür ist nicht als Ausgang gekennzeichnet und stellt für die Bewohnerin aufgrund ihrer kognitiven Einschränkung keinen Ausgang dar. Wenn sie vor einer geschlossenen Tür mit normaler Türschnalle steht, versucht sie infolge Antriebslosigkeit nicht, diese zu öffnen.
Die Bewohnerin hat keinen Antrieb und auch keine Tendenz, sich eigenständig in den Außenbereich der Werkstätte zu begeben bzw das Werkstättengebäude zu verlassen und hat dies auch seit 2005, seit sie sich in der Werkstätte zur Betreuung aufhält, noch nie versucht.
Wenn die Bewohnerin das Areal der Werkstätte eigenständig verlassen würde, wäre aufgrund ihrer schweren kognitiven Defizite und der damit verbundenen Unfähigkeit, Gefahren und Risiken realistisch einzuschätzen, eine ernstliche und erhebliche Selbstgefährdung etwa durch Orientierungslosigkeit, den Straßenverkehr und den in der Nähe der Werkstätte befindlichen Werkskanal gegeben.
Das Erstgericht wies den Antrag des Vereins auf Überprüfung der Zulässigkeit der an der Bewohnerin in der Lebenshilfe-Werkstätte vorgenommenen Maßnahme, nämlich des „Hinderns am Verlassen eines versperrten Bereichs mittels Außenzauns mit Oberfalle ab “ ab. Rechtlich führte es aus, dass eine Maßnahme nur dann eine Freiheitsbeschränkung sei, wenn diese eine gewisse Mindestwirkung auf eine Person entfalte und deren Möglichkeit zur Ortsveränderung nicht nur völlig abstrakt, sondern auch konkret unterbinde. Wenn eine Maßnahme – wie hier – zwar grundsätzlich und theoretisch den Bereich, in dem sich eine Person aufhält, abgrenze, auf die betreffende Person aber keine beschränkende Wirkung entfalte, weil diese den Bereich aus eigenem Antrieb noch nie bis zur Begrenzung in Anspruch genommen habe und auch keine Ambitionen zeige, dies jemals zu tun, liege keine Freiheitsbeschränkung iSd § 3 Abs 1 HeimAufG vor.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Vereins nicht Folge. Es vertrat die Rechtsansicht, dass die Bewohnerin nur in Begleitung in den Außenbereich gehe. Das krankheitsbedingte Erfordernis einer Begleitung eröffne der Bewohnerin aber gleichzeitig die Möglichkeit, über ein entsprechendes Verlangen an die jeweilige Begleitperson die Einrichtung verlassen zu können. Selbst wenn die Bewohnerin von sich aus keine Willensäußerung zeige bzw eine solche nicht kundzutun vermöge, könnte sie ihr allfälliges Verlangen nonverbal, etwa durch Zugehen auf das Tor, zum Ausdruck bringen. Damit sei ihr, wenn auch möglicherweise nur theoretisch, das kontrollierte Verlassen der Einrichtung jederzeit möglich. Die zu überprüfende Maßnahme sei daher keine Freiheitsbeschränkung.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Soweit überblickbar existiere keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage, ob im Fall der krankheitsbedingten Unfähigkeit einer Bewohnerin, eine mechanische Maßnahme (hier: die am Außenzaun angebrachte Oberfalle) zu öffnen, bereits die krankheitsbedingte Notwendigkeit einer Begleitung bei Aufenthalten im Außenbereich der Einrichtung ausreiche, das Vorliegen einer Freiheitsbeschränkung zu verneinen.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Vereins wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen dahin abzuändern, dass die an der Bewohnerin vorgenommene Maßnahme, nämlich das Hindern am Verlassen eines versperrten Bereichs mittels Außenzauns mit Oberfalle ab , für unzulässig erklärt werde.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; er ist aber nicht berechtigt.
1. Die Lebenshilfe-Werkstätte fällt nach der Novellierung des § 2 Abs 2 HeimAufG durch das Bundesgesetz, mit dem das Heimaufenthaltsgesetz geändert wird, BGBl I 2006/94, in den Anwendungsbereich dieses Gesetzes (vgl JAB 1512 BlgNR 22. GP 1).
2. Eine Freiheitsbeschränkung im Sinn des Heimaufenthaltsgesetzes kann nur an jemandem nicht vorgenommen werden, der überhaupt keine Möglichkeit zur willkürlichen Bewegungssteuerung mehr hat, das heißt, dem die Fortbewegungsfähigkeit völlig fehlt und der auch keinen Fortbewegungswillen bilden kann (RIS-Justiz RS0121221 [T6]). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor, weil die Bewohnerin noch auf akustische Reize reagieren und sich selbständig in Bereiche der Einrichtung bewegen kann, aus denen sie Geräusche wahrnimmt. Auf die Bildung eines
– vernünftigen – Fortbewegungswillens kommt es dabei nicht an (RIS-Justiz RS0121221 [T1]).
3. Da sich die Bewohnerin selbständig in Bereiche der Einrichtung bewegen und akustischen Reizen folgen kann, ist sie – anders als in dem zu 7 Ob 19/07f entschiedenen Fall – zur Fortbewegung und damit zum Verlassen der Einrichtung nicht generell auf die Hilfe Dritter angewiesen. Die im Bauzaun angebrachte Tür mit Oberfalle könnte daher grundsätzlich als eine Freiheitsbeschränkung der Bewohnerin zu beurteilen sein, ist diese doch nicht in der Lage die als Sperrvorrichtung zu wertende Oberfalle zu überwinden und die ständige Abhängigkeit der freien Aufenthaltsveränderung vom Willen eines Anderen (hier: eines Betreuers) stellt bereits eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit dar (RIS-Justiz RS0075871 [T1]).
4.1. Allerdings ist hier das Vorliegen einer Freiheitsbeschränkung dennoch zu verneinen, weil der Bewohnerin alternative und unbeschränkte Wege zur Verfügung stehen, um die Einrichtung zu verlassen. Abgesehen von jener Tür im Bauzaun, die mit einer Oberfalle versehen ist, befindet sich nämlich gleich daneben ein unversperrtes Tor, das mit einem handelsüblichen, leichtgängigen Drehknopf geöffnet werden kann. Das Gebäude kann überdies an der Nordseite über eine mit normaler Türschnalle versehene und nicht verschlossene Fenstertür in Richtung der angrenzenden Straße verlassen werden.
4.2. Nun entspricht es herrschender Ansicht, dass die Einrichtung eines für demente Personen nicht zu überwindenden „Labyrinths“ (vgl 8 Ob 121/06m [„Weg“ über eine „Balkontür“ und durch den Garten]), die Anbringung schwerer Türen, die von den Betroffenen nicht mehr geöffnet werden können (vgl RIS-Justiz RS0121662 [T2]) und die Installation spezieller Öffnungsmechanismen (vgl 4 Ob 149/09d = iFamZ 2010/66 [Ganner]) als eine Unterbindung der Ortsveränderung zu werten sein können (vgl Barth/Engel, Heimrecht, § 3 HeimAufG Anm 8; Strickmann, Heimaufenthaltsrecht² 107; Zierl/Wall/Zeinhofer, Heimrecht I³ 96; Bürger/Herdega, GmundKomm, § 3 HeimAufG Rz 4).
4.3. Hier stehen aber zum Verlassen der Einrichtung neben der Tür mit der Oberfalle eine Fenstertür und ein Tor zur Verfügung, die beide unversperrt und mit völlig alltäglichen (handelsüblichen) sowie leicht bedienbaren Mechanismen (normale Türschnalle bzw Drehknopf) versehen sind. Nach Ansicht des Fachsenats stellen aber eine unversperrte mit einer gewöhnlichen Türschnalle zu öffnende Haustüre (Glastüre) und ein mit einem simplen Drehknopf zu öffnendes, unversperrtes Gartentor unabhängig vom Ausmaß der psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung des Bewohners schon an sich keine mechanische Beschränkung dar, die die Erheblichkeitsschwelle einer Freiheitsbeschränkung iSd § 3 Abs 1 HeimAufG erreicht.
Der Revisionsrekurs ist daher im Ergebnis nicht berechtigt.
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2017:0070OB00102.17A.0705.000 |
Schlagworte: | 1 Generalabonnement,19 (zivilrechtl.)Entscheidungen |
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