OGH vom 08.03.2007, 2Ob187/05x
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Baumann als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Veith, Dr. Grohmann, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Jasmin W*****, vertreten durch das Amt für Jugend und Familie - Rechtsfürsorge, Wien 10., infolge Revisionsrekurs der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom , GZ 44 R 228/05p-U-12, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom , GZ 31 P 66/03v-U-7, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung folgenden
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Der Beschluss des Rekursgerichts wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Begründung:
Das Erstgericht erhöhte die monatliche Unterhaltsverpflichtung des Vaters ab 1/2005 antragsgemäß von EUR 160,- auf EUR 174,-, wobei es sich auf die Bemessungsgrundlage von EUR 26,59 täglich an Notstandshilfe stützte und die Unterhaltsbemessung entsprechend dem Alter des Kindes von über 15 Jahren mit 22 % vornahm. Das Rekursgericht änderte diesen Beschluss wegen Überschreitung der Belastbarkeitsgrenze des Vaters im Sinne der Abweisung des Unterhaltserhöhungsantrages ab. Nach Abzug des neu festgesetzten Unterhaltsbeitrages von EUR 174,- würde dem Vater nämlich nur mehr EUR 634,78 verbleiben, sodass das absolute Unterhaltsexistenzminimum von EUR 643,- um rund EUR 10,- unterschritten würde. Einem Unterhaltspflichtigen müsse der Betrag verbleiben, der zur Erhaltung seiner existenziellen Bedürfnisse erforderlich sei. Wohl dürfe im Rahmen eines Exekutionsverfahrens auch das jeweilige Unterhaltsexistenzminimum in Einzelfällen unterschritten werden, doch dürfe dadurch nicht die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung der eigenen Existenz beeinträchtigt werden. Eine dauernde Unterschreitung unter das absolute Unterhaltsexistenzminimum von EUR 643,- erscheine nicht zumutbar, zumal eine Richtsatzpension ohne Sonderzahlungen geringfügig gerundet EUR 663,- monatlich betrage, einschließlich Sonderzahlung vor Abzug der Sozialversicherung EUR 773,50, nach Abzug der Sozialversicherung daher rund EUR 750,- monatlich. Dieser Betrag werde vom Gesetzgeber als unbedingt notwendig zur Deckung der existenziellen Bedürfnisse angesehen. Beim zuletzt festgesetzten Unterhaltsbeitrag bleibe das Unterhaltsexistenzminimum gerade noch gewahrt und die beibehaltene Unterhaltserhöhung übersteige nicht den Rundungsbereich. Der Beschluss der ersten Instanz sei daher wegen Überschreitung der Belastbarkeitsgrenze des Vaters im Sinne der Abweisung des Unterhaltserhöhungsantrages abzuändern. Da hinsichtlich der Zulässigkeit der Unterschreitung des Unterhaltsexistenzminimums noch keine einheitliche Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs bestehe, sei der ordentliche Revisionsrekurs zulässig. Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs der Minderjährigen wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung, mit dem Antrag, den Unterhaltsbetrag auf monatlich EUR 174,- anzuheben. Der Vater beantragt erkennbar, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben, indem er auf die „Unterschreitung seines Existenzminimums" verweist.
Text
Beschluss
gefasst:
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu den für die Ermittlung der Leistungsgrenze des Unterhaltsschuldners zu beachtenden Kriterien abgewichen ist; der Revisionsrekurs ist auch berechtigt. Die Revisionsrekurswerberin führt aus, dass die Gerichte derzeit davon ausgingen, dass dem Verpflichteten EUR 600,- zur Abdeckung der eigenen Bedürfnisse zu verbleiben hätten. Dies stelle allerdings keine absolute Untergrenze dar. Von einem Unterhaltspflichtigen sei zu verlangen, dass er strengste Einschränkungen bei der Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse in Kauf nehme, um seinem Kind einen angemessenen Unterhalt leisten zu können. Unterhaltsforderungen würden Priorität genießen. Ein pflichtbewusster Familienvater werde seine Kinder im Normalfall an seinen - wenn auch fallweise kärglichen - Einkommensverhältnissen teilhaben lassen. In diesem Fall müsse sich die Minderjährige mit Unterhaltsbeträgen begnügen, die weit unter dem Durchschnittsbedarf Gleichaltriger liegen. Es könne dem Vater daher zugemutet werden, sich einzuschränken und für sein Kind den monatlichen Betrag von EUR 174,- zu leisten.
Der Senat hat dazu erwogen:
1. Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung ist die Unterhaltsbemessung nach der Prozentsatzkomponente für durchschnittliche Verhältnisse eine brauchbare Handhabe, um den Unterhaltsberechtigten an den Lebensverhältnissen des Unterhaltspflichtigen angemessen teilhaben zu lassen. Dabei handelt es sich jedoch um eine bloße Orientierungshilfe. Nach ständiger Rechtsprechung können die Prozentsätze bei überdurchschnittlichem Einkommen unterschritten, bei unterdurchschnittlichem Einkommen aber überschritten werden (siehe jüngst 6 Ob 184/06m).
Bei der - von den Vorinstanzen vorgenommenen - Anwendung der Prozentkomponente ergibt sich hier ein monatlicher Unterhaltsbetrag von knapp über EUR 174,-.
2. Bei der Unterhaltsbemessung ist jedoch eine absolute Leistungsgrenze zu berücksichtigen, die nicht zu Lasten des Unterhaltsschuldners überschritten werden darf. Ihm hat jener Betrag zu verbleiben, der zur Erhaltung seiner Körperkräfte und seiner geistigen Persönlichkeit unbedingt notwendig ist (vgl 6 Ob 184/06m; 2 Ob 569/94).
3. Hilfestellung für die Ermittlung dieser Leistungsgrenze im Einzelfall bieten die Bestimmungen über das Existenzminimum nach §§ 291a, 292b EO. Dabei ist zunächst der erhöhte allgemeine Grundbetrag nach § 291a Abs 2 Z 1 EO maßgeblich, weil im Unterhaltsrecht grundsätzlich sämtliche Jahreseinkünfte auf zwölf Monate umgelegt werden.
Nach § 291a Abs 2 Z 1 EO erhöht sich der Betrag nach § 291a Abs 1 EO iVm § 293 Abs 1 lit a ASVG um ein Sechstel, wenn der Verpflichtete keine Leistungen nach § 290b EO erhält.
Gemäß § 291b Abs 2 EO haben dem Verpflichteten (nur) 75 % des unpfändbaren Freibetrags nach § 291a EO zu verbleiben (6 Ob 184/06m mwN).
4. Der - gemäß § 291a Abs 1 EO maßgebliche - Ausgleichszulagenrichtsatz für alleinstehende Personen nach § 293 Abs 1 lit a ASVG betrug zum Zeitpunkt der Entscheidung erster Instanz EUR 662,99. Unter Hinzurechnung von einem Sechstel (§ 291a Abs 2 Z 1 EO) ergibt dies einen erhöhten allgemeinen Grundbetrag von EUR 773,48 zwölf Mal im Jahr (wie vom Rekursgericht richtig ermittelt).
5. Die Schlussfolgerung des Rekursgerichtes, dass ein Unterschreiten des „absoluten Unterhaltsexistenzminimums von EUR 643,-" die Belastbarkeit des Vaters überspannen würde, vermag der Senat allerdings nicht zu teilen.
Bei der Bemessung des gesetzlichen Unterhalts ist, wenn laufende gesetzliche Unterhaltsforderungen mangels vorhandener Mittel nicht in einer den Lebensbedarf deckenden Höhe gewährt werden können, in sinngemäßer Anwendung des § 292b Z 1 EO zu ermitteln, welche Einschränkungen der Unterhaltspflichtige hinnehmen muss, um seinen Alimentationsverpflichtungen - wie es § 94 Abs 1 und § 140 Abs 1 ABGB verlangen - nach Kräften nachzukommen (5 Ob 48/04a). Der vom Rekursgericht herangezogene Betrag von EUR 643,- stellt nicht das Unterhaltsexistenzminimum dar, sondern den allgemeinen Grundbetrag des Existenzminimums gemäß Anlage ./1, I.1.a) der ExMinV 2003 iVm § 291a Abs 1 EO.
Bei der Exekution wegen eines gesetzlichen Unterhaltsanspruchs haben jedoch - wie schon erwähnt - nach § 291b Abs 2 EO dem Verpflichteten lediglich 75 % des unpfändbaren Freibetrages nach § 291a EO zu verbleiben (6 Ob 184/06m). Dies ergibt im vorliegenden Fall - auf Basis des zu 4. ausgewiesenen erhöhten allgemeinen Grundbetrags von EUR 773,48 - einen Betrag von EUR 580,11.
Dieser Betrag verbleibt dem Vater auch nach Abzug eines monatlichen Unterhaltsbeitrags von EUR 174,- an die Minderjährige (welcher im Übrigen weit unter dem Regelbedarf liegt) von seinem Einkommen, sodass sein „Unterhaltsexistenzminimum" jedenfalls gewahrt bleibt. Dem Revisionsrekurs war somit Folge zu geben und die Entscheidung der ersten Instanz wiederherzustellen.