Berufungsentscheidung - Steuer (Referent), UFSI vom 20.08.2013, RV/0320-I/12

Beihilfenanspruch bei Suchterkrankung

Entscheidungstext

Berufungsentscheidung

Der Unabhängige Finanzsenat hat über die Berufung des [Berufungswerbers], [Adresse], vom gegen den Bescheid des Finanzamtes [FA] vom betreffend Abweisung eines Antrages auf Gewährung der Familienbeihilfe und erhöhten Familienbeihilfe ab entschieden:

Die Berufung wird als unbegründet abgewiesen.

Der angefochtene Bescheid bleibt unverändert.

Entscheidungsgründe

Mit der Einreichung der Erklärung "Beih 3" am beantragte der Beihilfenwerber die Gewährung des Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe wegen erheblicher Behinderung. Das Finanzamt forderte ihn in der Folge auf, das Formular "Beih 1" nachzureichen und weitere Angaben zu machen. Am langte das Formular "Beih 1" beim Finanzamt ein. Beantragt wurde eine rückwirkende Gewährung "ab Eintritt der Krankheit".

Nach Befassung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen wurde der Antrag auf Familienbeihilfe und erhöhte Familienbeihilfe im Eigenbezug abgewiesen. Laut Sachverständigengutachten und Bescheinigung bestünde ab Juli 2011 zwar ein Grad der Behinderung von 60% und wäre der Beihilfenwerber auch erwerbsunfähig. Eine Bestätigung dieser Umstände rückwirkend zu einem Zeitpunkt vor Vollendung des 21. Lebensjahres wäre jedoch nicht erfolgt.

In der Berufung gegen diesen Bescheid verwies der Beihilfenwerber darauf, dass der begutachtende Arzt den Eintritt der Erwerbsunfähigkeit vor Vollendung des 21. Lebensjahres bestätigt hätte. Er verstehe nicht, wie der leitende Arzt des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen das Attest "einfach abändern" könne.

Mit Berufungsvorentscheidung wurde die Berufung als unbegründet abgewiesen und beantragte der Einschreiter daraufhin die Entscheidung über die Berufung durch die Abgabenbehörde zweiter Instanz.

Über die Berufung wurde erwogen:

Im vorliegenden Fall beantragte der am [Geb.Dat] geborene Berufungswerber die Gewährung der Familienbeihilfe und des Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe wegen erheblicher Behinderung. Dazu gab er an, dass er an einer Suchterkrankung leide und belegte diesen Umstand, wie dem ärztlichen Sachverständigengutachten zu entnehmen ist, mit vier ärztlichen Bescheinigungen aus dem Jahr 2011. Im Gutachten wurde sodann eine Abhängigkeitserkrankung, Hepatitis C und eine Patellafraktur diagnostiziert. In der Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen wurde - entgegen der Ansicht des begutachtenden Arztes, der von einem Eintritt bereits vor Vollendung des 21. Lebensjahres ausging - vom leitenden Arzt die Erwerbsfähigkeit rückwirkend erst mit als nicht (mehr) gegeben beurteilt. Dies mit der Begründung, dass mit den vorgelegten Befunden ein früherer Eintritt nicht belegt worden sei. Die Schulausbildung beendete der Berufungswerber nach der 2. Klasse Hauptschule. Eine weitere Berufsausbildung wurde nicht absolviert.

In rechtlicher Hinsicht sind für die Beurteilung des vorliegenden Falles folgende Gesetzesstellen relevant:

Nach § 6 Abs 2 FLAG 1967 haben volljährige Vollwaisen Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn auf sie die Voraussetzungen des § 6 Abs 1 lit a bis c FLAG 1967 zutreffen und wenn sie wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, und sich in keiner Anstaltspflege befinden. § 6 Abs 4 FLAG 1967 schließt einen Anspruch auf Familienbeihilfe aus, wenn das in einem Kalenderjahr erzielte Einkommen eine bestimmte Grenze übersteigt. Gemäß Abs 5 der zitierten Gesetzesstelle haben Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und die sich nicht auf Kosten der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe in Heimerziehung befinden, unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs 1 bis 3).

Gemäß § 8 Abs 4 FLAG 1967 erhöht sich die Familienbeihilfe für jedes Kind, das erheblich behindert ist, monatlich um € 138,30. Als erheblich behindert gilt nach § 8 Abs 5 FLAG 1967 ein Kind, bei dem eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung besteht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von voraussichtlich mehr als drei Jahren. Der Grad der Behinderung muss mindestens 50 vH betragen, soweit es sich nicht um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Für die Einschätzung des Grades der Behinderung sind § 14 Abs 3 des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl Nr. 22/1970, in der jeweils geltenden Fassung, und die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung) vom , BGBl II Nr 261/2010, in der jeweils geltenden Fassung anzuwenden. Die erhebliche Behinderung ist spätestens nach fünf Jahren neu festzustellen, soweit nicht Art und Umfang eine Änderung ausschließen. Der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, ist gemäß Abs 6 der zitierten Bestimmung durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen. Die diesbezüglichen Kosten sind aus Mitteln des Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen zu ersetzen. Die Abs 4 bis 6 gelten sinngemäß für Vollwaisen, die gemäß § 6 Anspruch auf Familienbeihilfe haben.

Aus dem Gutachten ist zu entnehmen, dass der Berufungswerber im Alter von 15 bis 16 Jahren Haschisch, Benzodiazepine und Alkohol konsumierte, ab [Geb.Dat.+17] intravenös Substitol und andere Drogen. Beginnend mit dem Jahr [Geb.Dat.+19] war er mehrfach in Haft wegen "Drogenhandel usw". Ab dem Jahr [Geb.Dat.+20] ist er im Substitutionsprogramm und hat Beikonsum (Kokain, Heroin, Morphium, Alkohol). Im Jahr [Geb.Dat.+23] wurde Hepatitis C erstmals diagnostiziert. Als Untersuchungsbefund ist dem Gutachten zu entnehmen, dass sowohl der internistische, als auch der neurologische Status unauffällig sind, das Sensorium (Gesamtheit des Wahrnehmungsapparates) ohne Befund ist und sich der Berufungswerber mental-kongnitiv im weiten Rahmen der Norm befindet.

Vorauszuschicken ist, dass der Anspruch auf den Grundbetrag der Familienbeihilfe (eine) Voraussetzung für die Gewährung des Erhöhungsbetrages wegen erheblicher Behinderung ist. Beim vorliegenden Sachverhalt kommt es somit entscheidend darauf an, ob der Berufungswerber einen Anspruch auf den Grundbetrag an Familienbeihilfe hat, welcher gegenständlich nur bestehen könnte, wenn er bereits vor Vollendung des 21. Lebensjahres wegen einer eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außer Stande gewesen wäre, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Dazu ergibt sich aus dem Gesetzestext und der Rechtsprechung (vgl zB , , und ), dass der Gesetzgeber nicht nur die Frage des Grades der Behinderung, sondern auch die Frage der voraussichtlich dauernden Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, der eigenständigen Beurteilung der Familienbeihilfenbehörden entzogen und dafür ein qualifiziertes Nachweisverfahren eingeführt hat, bei dem eine für diese Aufgabenstellung besonders geeignete Institution eingeschaltet wird und der ärztliche Sachverstand die ausschlaggebende Rolle spielt. Der Gesetzgeber hat daher mit gutem Grund die Beurteilung der Selbsterhaltungsfähigkeit jener Institution übertragen, die auch zur Beurteilung des Behinderungsgrades berufen ist. Die Beihilfenbehörden haben bei ihrer Entscheidung jedenfalls von dieser durch ärztliche Gutachten untermauerten Bescheinigung auszugehen und könnten von ihr nur nach entsprechend qualifizierter Auseinandersetzung abgehen. Daraus folgt, dass der unabhängige Finanzsenat für seine Entscheidungsfindung das ärztliche Sachverständigengutachten und die darauf beruhende Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen heranzuziehen hat, sofern dieses als schlüssig anzusehen ist.

Im Berufungsfall ist eine Suchterkrankung - wie im Gutachten ausgeführt - gegeben. Die gegenständliche Antragstellung erfolgte im Jahr 2011 und somit [x] Jahre nach dem entscheidungsrelevanten Zeitpunkt. Die Beurteilung eines medizinischen Sachverhaltes zu einem Zeitpunkt, der über Jahre zurückliegt, bereitet vor allem in jenen Fällen besondere Schwierigkeiten, in denen ein entsprechendes Krankheitsbild - im Gegensatz zu beispielsweise unfallbedingten körperlichen Beeinträchtigungen - in unterschiedlichsten Ausprägungen und unterschiedlicher Schwere bestehen kann. In derartigen Fällen kann auch ein medizinischer Sachverständiger lediglich auf Grund von Indizien, insbesondere an Hand von vorliegenden Befunden, in Verbindung mit seinem spezifischen Fachwissen Rückschlüsse darauf ziehen, zu welchem Zeitpunkt nun tatsächlich eine erhebliche Behinderung oder die Unfähigkeit sich selbst den Unterhalt zu verschaffen eingetreten ist. Damit liegt aber auf der Hand, dass es insbesondere beim vorliegenden Sachverhalt eines Drogenabusus, bei dem Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit in unterschiedlichster Ausprägung zu Tage treten können, Sache des Berufungswerbers gewesen wäre, den Sachverständigen durch Vorlage entsprechender Beweismittel in die Lage zu versetzen, eine verlässliche Beurteilung für den für die gegenständliche Entscheidung relevanten Zeitpunkt im Jahr [Geb.Dat.+21] abgeben zu können. Dies umso mehr, als durch den Drogenmissbrauch hervorgerufene, sich erst im Laufe eines länger andauernden Missbrauches manifestierende zusätzliche Erkrankungen, wesentlichen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit haben. Auf die Notwendigkeit der Vorlage entsprechender Beweismittel ("sämtlicher Behandlungsunterlagen") wird im Vordruck Beih 3 (Antragsformular für den Erhöhungsbetrag) auch deutlich hingewiesen. Es liegen aber keinerlei Unterlagen vor, die auf die tatsächlichen Auswirkungen in den ersten Jahren und darauf schließen lassen, dass der Berufungswerber tatsächlich bereits vor Vollendung des 21.Lebensjahres auf Grund eines Handicaps voraussichtlich dauernd außer Stande gewesen wäre, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Dies umso mehr als dem Gutachten zu entnehmen ist, dass anfänglich hauptsächlich eine sogenannte leichte Droge (Haschisch) und Medikamente konsumiert wurden und der Berufungswerber im Jahr [Geb.Dat.+20] ein Substitutionsprogramm begonnen hat. Eine mangelnde Schulausbildung oder fehlende Arbeitswilligkeit und die dadurch verminderten Chancen auf eine Erwerbstätigkeit stellen keinen Grund für die Gewährung der Familienbeihilfe dar.

Ein Gutachten zu einer Sachfrage ist die begründete Darstellung von Erfahrungssätzen und die Ableitung von Schlussfolgerungen für die tatsächliche Beurteilung eines Geschehens oder Zustands auf der Basis des objektiv feststellbaren Sachverhaltes durch einen oder mehrere Sachverständige. Sachverständige haben dabei fundierte und wissenschaftlich belegbare konkrete Aussagen zu treffen und dürfen ihre Beurteilungen und Feststellungen nicht auf Spekulationen, sondern ausschließlich auf die festgestellten Tatsachen verbunden mit ihrem fachspezifischen Wissen stützen. Alleine die Möglichkeit, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmter Sachverhalt vorgelegen sein könnte, reicht dabei keinesfalls aus, diesen Sachverhalt gutachterlich als gegeben anzusehen und zu bestätigen. Es ist somit durchaus schlüssig, wenn der leitende Arzt des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen das Gutachten des untersuchenden Arztes in der Form korrigierte, dass auf Grund der Krankengeschichte, die sich aus den vorgelegten Beweismitteln ergibt, eine fundierte und wissenschaftlich belegbare Bestätigung der Unfähigkeit sich vor Vollendung des 21. Lebensjahres selbst den Unterhalt zu verschaffen nicht möglich ist. Nur mit einer konkreten inhaltlichen Auseinandersetzung unter Vorlage entsprechender zeitpunktbezogener Beweismittel hätte die Möglichkeit bestanden, Zweifel an den - für die Abgabenbehörde durchaus schlüssigen - gutachterlichen Feststellungen zu erwecken (vgl , unter Hinweis auf ). An Stelle einer derartigen Auseinandersetzung wird im Vorlageantrag lediglich auf "Erkundigungen" und das Wissen um einen bestehenden Anspruch hingewiesen. Auch wird angemerkt, dass der Berufungswerber keiner Arbeit nachgegangen sei, weshalb für ihn bis zum 21. Lebensjahr Familienbeihilfe bezogen worden wäre. Ein derartiger Anspruch hat aber (nach der damals geltenden Gesetzeslage) nur dann bestanden, wenn der Berufungswerber beim zuständigen AMS als Arbeit suchend vorgemerkt gewesen ist. Wenn dadurch aber vom Berufungswerber selbst das Bestreben dokumentiert ist, eine Arbeit zu finden, kann von einer damals bestehenden krankheitsbedingten Unfähigkeit keine Rede sein. Im Übrigen wurde vom Berufungswerber ab [Geb.Dat.+25] über Jahre Arbeitslosengeld und Notstandshilfe bezogen; ein Bezug, für den unter anderem Arbeitsfähigkeit Voraussetzung ist.

Im vorliegenden Fall steht somit fest, dass vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen keine Bescheinigung ausgestellt wurde, mit welcher bestätigt wird, dass der Berufungswerber bereits vor Vollendung des 21. Lebensjahres wegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung dauernd außer Stande gewesen wäre, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Eine solche Bescheinigung würde aber die unverzichtbare Voraussetzung für die Gewährung der Familienbeihilfe nach § 6 Abs 5 iVm Abs 2 lit d FLAG 1967 darstellen. Wenn mangels entsprechender Bescheinigung kein Anspruch auf Familienbeihilfe besteht, kann auch der Erhöhungsbetrag wegen erheblicher Behinderung nicht gewährt werden.

Es war daher wie im Spruch ausgeführt zu entscheiden.

Innsbruck, am

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