Berufungsentscheidung - Steuer (Referent), UFSF vom 08.07.2010, RV/0132-F/08

Abstandnahme von der Festsetzung bei untergegangener GmbH


Tabelle in neuem Fenster öffnen
Miterledigte GZ:
RV/0133-F/08
RV/0134-F/08
RV/0135-F/08
RV/0138-F/08

Beachte

VwGH-Beschwerde zur Zl. 2010/15/0150 eingebracht (Amtsbeschwerde). Mit Erk. v. , soweit der angefochtene Bescheid Umsatz- und Körperschaftsteuer 1999 bis 2004 betrifft, wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufgehoben. Fortgesetztes Verfahren mit BE zu Zl. RV/0162-F/11, RV/0163-F/11 erledigt.


Tabelle in neuem Fenster öffnen
Rechtssätze
Stammrechtssätze
RV/0132-F/08-RS1
Die Geltendmachung einer abgabenrechtlichen Haftung setzt wohl das Bestehen einer Abgabenschuld iS des § 4 BAO voraus, nicht aber die bereits erfolgte Erlassung des Abgabenbescheides gegenüber dem Primärschuldner.

Entscheidungstext

Berufungsentscheidung

Der Unabhängige Finanzsenat hat durch den Vorsitzenden Dr. Romuald Kopf und die weiteren Mitglieder Dr. Gerhild Fellner, Dr. Reinhold Lexer und Mag. Klaus Schönach über die Berufungen des Adr2, vertreten durch Breinbauer & Partner Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungs- GmbH, 4021 Linz, Bockgasse 2a, vom gegen die Bescheide des Finanzamtes Innsbruck vom betreffend

1) Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 303 Abs. 4 BAO hinsichtlich Körperschaftsteuer für den Zeitraum 1999 bis 2003,

2) Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 303 Abs. 4 BAO hinsichtlich Umsatzsteuer für den Zeitraum 1999 bis 2003,

3) Körperschaftsteuer für den Zeitraum 1999 bis 2004,

4) Umsatzsteuer für den Zeitraum 1999 bis 2004,

5) Anspruchszinsen für den Zeitraum 2000 bis 2004

nach der am in 6020 Innsbruck, Innrain 32, durchgeführten Berufungsverhandlung entschieden:

1) Die Berufungen gegen die Bescheide betreffend Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 303 Abs. 4 BAO hinsichtlich Körperschaftsteuer für den Zeitraum 1999 bis 2003 werden als unbegründet abgewiesen.

2) Die Berufungen gegen die Bescheide betreffend Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 303 Abs. 4 BAO hinsichtlich Umsatzsteuer für den Zeitraum 1999 bis 2003 werden als unbegründet abgewiesen.

3) Die Körperschaftsteuerbescheide für den Zeitraum 1999 bis 2004 werden abgeändert. Von der Festsetzung der Körperschaftsteuer wird gemäß § 206 lit. b BAO in nachstehendem Umfang Abstand genommen (Beträge in €):


Tabelle in neuem Fenster öffnen
1999
2000
2001
2002
2003
2004
KöSt
66.120,65
106.099,43
103.872,59
102.605,40
103.305,60
76.698,78

4) Die Umsatzsteuerbescheide für den Zeitraum 1999 bis 2004 werden abgeändert. Von der Festsetzung der Umsatzsteuer wird gemäß § 206 lit. b BAO in nachstehendem Umfang Abstand genommen (Beträge in €):


Tabelle in neuem Fenster öffnen
1999
2000
2001
2002
2003
2004
USt
46.018,76
71.571,40
73.736,70
83.679,19
70.461,24
59.770,07

5) Die Berufungen betreffend Bescheide über die Festsetzung von Anspruchszinsen für den Zeitraum 2000 bis 2004 werden als unbegründet abgewiesen.

Entscheidungsgründe

Streitgegenstand sind die nach Durchführung einer Betriebsprüfung ergangenen Bescheide.

Im Prüfungszeitraum 1999 bis 2004 betrieb die OW GmbH in NadK, O, das Tanzcafé S. Mit Vertrag vom wurde die OW GmbH rückwirkend auf den als übertragende Gesellschaft mit der ND GmbH mit Sitz in I als übernehmende Gesellschaft nach Art. I UmgrStG verschmolzen.

Im Mai 2005 fanden aufgrund einer Anzeige an die Staatsanwaltschaft I wegen des Verdachts der Abgabenhinterziehung betreffend KHW, RO (Anm.: Geschäftsführer der OW GmbH) u.a., Hausdurchsuchungen in den Geschäftsräumlichkeiten der ND GmbH als Rechtsnachfolgerin der OW GmbH und in den Wohnräumlichkeiten der Geschäftsführer statt. Die vorgefundenen Unterlagen waren Ausgangspunkt für eine Außenprüfung gemäß § 147 Abs. 1 BAO in Verbindung mit § 99 Abs. 2 FinStrG. Prüfungsauftrag und Prüfungsbeginn fielen auf den .

Insgesamt wurden von den Betriebsprüfern schwerwiegende formelle und materielle Mängel der Bücher und Aufzeichnungen der Firma OW GmbH für die Streitjahre 1999 bis 2004 festgestellt und die Voraussetzungen für eine Schätzung gemäß § 184 Abs. 3 BAO als Grundlage für die Abgabenerhebung als gegeben erachtet.

Es kam zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens betreffend die Umsatzsteuerbescheide und die Körperschaftssteuerbescheide 1999 bis 2004 und zur Erlassung neuer Bescheide.

Für die Jahre 1999 und 2000 wurden Zuschätzungen in Höhe festgestellter und nicht verbuchter Wareneinkäufe gemacht sowie 30%-ige Sicherheitszuschläge veranschlagt. Für die Jahre 2001 bis 2004 wurden Erlöshinzurechnungen vorgenommen, die sich an den Verkürzungsprozentsätzen der Registrierkassen orientierten (nach den Feststellungen der BP waren nämlich einzelne Erlössparten des Tanzcafé S systematisch unter Einsatz einer in dem ab verwendeten Verbundkassensystem implementierten, automationsgestützten Manipulationsfunktion verkürzt worden. Die Verkürzungsautomatik war demnach seitens des Programmierers GH nur auf Kundenwunsch aktiviert worden bzw. wurden die Verkürzungssätze entsprechend dem Wunsch des Kunden gestaltet). Ein entsprechender kalkulatorischer Wareneinsatz wurde bei der Schätzung berücksichtigt.

Die Nachforderungen an Umsatzsteuer beliefen sich für die Gesamtheit der Streitjahre auf 405.237,36 €, jene an Körperschaftssteuer auf 558.702,45 €, zusammen auf 963.939,81 €. Hinzu kamen Anspruchszinsen für die Jahre 2000 bis 2004 in Gesamthöhe von 59.772,85 €. Streitgegenstand sind also insgesamt Mehrvorschreibungen von 1,023.712,66 €.

In ihren Berufungen bestritt die Berufungswerberin durch ihren steuerlichen Vertreter die seitens der Betriebsprüfung für ihre Schätzungsbefugnis herangezogenen Gründe der Nichtordnungsmäßigkeit der Buchführung sowie des Vorliegens von Erlösverkürzungen, insbesondere durch eine in das Kassensystem eingebaute Verkürzungsfunktionalität. Sie stellte umfangreiche Beweisanträge, insbesondere auf Einvernahme von Zeugen und Einholung von Sachverständigengutachten. Die Berufungen wurden der Abgabenbehörde II. Instanz ohne Erlassung von Berufungsvorentscheidungen direkt zur Entscheidung vorgelegt. Es wurde ein Antrag auf Abhaltung einer mündlichen Verhandlung vor dem gesamten Berufungssenat gestellt.

Die Referentin des Unabhängigen Finanzsenates richtete am mittels E-Mail das Ersuchen an den Masseverwalter, die wirtschaftliche Lage der Berufungswerberin klarzulegen, dies insbesondere im Hinblick auf die Einbringlichkeit der Steuerforderungen und eine allfällig zu erwägende Vorgangsweise gemäß § 206 lit. b BAO.

Die in der Folge () schriftlich einlangende Antwort des Masseverwalters lautet wie nachstehend:

Zu Ihrer vorerwähnten E-Mail vom halte ich wunschgemäß fest, dass das derzeitige Masseguthaben EUR 21.413,65 beträgt. Aus heutiger Sicht kann jedenfalls nicht damit gerechnet werden, dass sich an diesem Ergebnis Wesentliches ändern wird. Zu Ihrer Information darf ich weiters mitteilen, dass im Falle einer Verteilung auf dieser Grundlage und unter Berücksichtigung (a) der voraussichtlichen Verfahrenskosten und (b) sämtlicher (derzeit jedoch noch bestrittener) Steuer- und Krankenkassenforderungen sowie Tourismusabgaben sich eine beinahe schon zu vernachlässigende Quote in Höhe von rund 0,34 % ergeben würde.

Mit gleichem Schriftsatz zog der Masseverwalter seine Anträge auf Abhaltung einer mündlichen Berufungsverhandlung und Entscheidung durch den gesamten Berufungssenat zurück.

Das Schreiben wurde dem Repräsentanten der Abgabenbehörde I. Instanz in Kopie mit der Bitte um Stellungnahme übermittelt. Gleichzeitig wurde er ersucht bekanntzugeben, ob die Abgabennachforderungen in voller Höhe aushafteten bzw. ob (Teil-)zahlungen erfolgt seien.

Seine Antwort lautete wie nachstehend:

Innerhalb der gewährten Frist wird wie folgt Stellung genommen: Aus der beiliegenden Buchungsabfrage zu St.Nr. xy ergibt sich die Höhe der aushaftenden Abgaben. Anzuführen ist, dass verschiedene Haftungsbescheide ebenso im Rechtsmittelverfahren anhängig sind. Das Ansinnen eine allfällige Vorgangsweise gern. § 206 lit. b BAO in Erwägung zu ziehen, kommt aus Sicht des Finanzamtes I absolut nicht in Frage, weil zum einen das Strafverfahren beim OGH behängt und darüber hinaus nach einer etwaigen rechtskräftigen Verurteilung eine Haftung nach § 11 BAO Platz greift. Auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wird nicht verzichtet.

Aus der beigelegten Buchungsabfrage, umfassend den Zeitraum bis , sind die am verbuchten Mehrvorschreibungen an Umsatzsteuer, Körperschaftssteuer sowie Anspruchszinsen von zusammen 1,023.712,66 € als unberichtigt aushaftend ersichtlich.

In einem späteren Schreiben wies der Vertreter der Abgabenbehörde I. Instanz nochmals darauf hin, dass er eine Vorgangsweise iS des § 206 lit. b BAO nicht für sachgerecht halte, weil die Haftungen gemäß §§ 9 und 11 BAO zu bedenken seien.

Ein weiteres Mal wurde der Abgabenbehörde I. Instanz Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Per E-Mail langte am die abschließende Stellungnahme ein, die nachstehende, wesentliche Punkte enthielt:

  • Vorgangsweise gemäß § 206 lit. b BAO ohne Straf-, Vollstreckungs- und Konkursakt nicht sachgerecht;

  • Quote, die sich im Konkursverfahren ergeben wird und rechtskräftiger Abschluss des Konkursverfahrens unbekannt;

  • Unbekannt, ob Gelder und Vermögenswerte vorhanden sind und wie diese zuzuordnen sind;

  • Haftungsgeltendmachung nach §§ 9 und 11 BAO im Gefolge einer Inanspruchnahme des § 206 lit. b BAO nicht mehr möglich; Bestimmtheit der Uneinbringlichkeit muss auch bei Mitschuldner und Haftendem gegeben sein (Stoll, BAO, 2153 ff);

  • Keine Bestimmtheit der Nichtdurchsetzbarkeit des Abgabenanspruches;

  • Haftender nach § 9 BAO kann wiederum gegen die Abgabenforderung dem Grunde nach berufen;

  • Keine Begründung mit "Ressourcenschonung", da derartige Vorgangsweisen systematische Steuerhinterziehungen fördern;

  • § 206 lit. b BAO nach dem Willen des Gesetzgebers nur in seltenen Einzelfällen möglich.

Eingereicht wurde über Ersuchen der Referentin des Unabhängigen Finanzsenates ein Gutachten (des Sachverständigen für Geld-, Kredit-, Bank- und Börsenwesen Mag. RNK aus G), welchem das Finanzamt aufgrund der in ihm erfolgten wirtschaftlichen Zuordnung von Stiftungen an die Gesellschafter der untergegangenen GmbH Relevanz für eine allfällige Abstandnahme von der Abgabenfestsetzung zusprach. Der Sachverständige war im Zuge des Finanzstrafverfahrens von der Staatsanwaltschaft L beauftragt worden, Befund und Gutachten zu erstatten über jene Geldflüsse, die im Zusammenhang mit den Betrieben der Beschuldigten (Anm.: das sind gegenständlich KHW und RO ) auf Sparkonten und Wertpapierdepots gebucht, an Stiftungen weitergeleitet bzw. zur Besicherung von Krediten verwendet worden waren. Es sollte geklärt werden, welchen Personen bzw. Gesellschaften diese Zahlungen wirtschaftlich zuzurechnen wären. Im Weiteren war sein Auftrag auf Aufklärung darüber gerichtet, wer hinter den Stiftungen steht bzw. wem diese zuzuordnen sind und ob die - wie vermutet - hinterzogenen Abgaben in den abgeflossenen Beträgen Deckung finden.

Im Hinblick auf die divergierende Rechtsprechung des UFS zur Bedeutung allfälliger Haftungsfragen im Zusammenhang mit der Abstandnahme von der Abgabenfestsetzung (,; , RV/0568-G/06) verlangte die Referentin des Unabhängigen Finanzsenates die Entscheidung durch den gesamten Senat.

Über die Berufung wurde erwogen:

Ein vom steuerlichen Vertreter eingewendeter Verfahrensmangel, der insoweit vorliege, als der Prüfungs- und Nachschauauftrag gemäß § 147 Abs. 1 BAO in Verbindung mit § 86 EStG ausgestellt worden sei, wobei den Steuerpflichtigen bzw. Beschuldigten ihre Rechte iS des § 99 FinStrG vorenthalten worden seien, besteht laut aktenkundiger Stellungnahme seitens der BP nicht. Der Prüfungs- und Nachschauauftrag wurde nämlich gemäß § 147 Abs. 1 BAO in Verbindung mit § 99 FinStrG ausgestellt und die Prüfung auch iS des § 99 FinStrG durchgeführt. Einsichtnahme in den Prüfung- und Nachschauauftrag vom - die damalige steuerliche Vertretung CP bestätigte mit Unterschrift die Kenntnisnahme hievon - belegt diese Verantwortung.

1) und 2) Wiederaufnahmebescheide:

Vorab ist festzuhalten, dass - entgegen dem Vermerk der Abgabenbehörde I. Instanz im Vorlagebericht - die Wiederaufnahmebescheide betreffend Körperschaftssteuer und Umsatzsteuer zwar für die Jahre 1999 bis 2003, nicht aber für das Jahr 2004 mit Berufung angefochten wurden.

Die Berufungswerberin beantragt durch ihren steuerlichen Vertreter die ersatzlose Aufhebung der Wiederaufnahmebescheide (wie auch aller anderen angefochtenen Bescheide). Sie begründet ihre Berufungen gegen alle Bescheide mit ausschließlich materiellrechtlichen Überlegungen und führt keine speziell auf die Wiederaufnahmenbescheide bezogenen Begründungselemente an.

Gemäß § 303 Abs. 4 BAO ist eine Wiederaufnahme von Amts wegen u.a. in allen Fällen zulässig, in denen Tatsachen oder Beweismittel neu hervorkommen, die im Verfahren nicht geltend gemacht worden sind, und die Kenntnis dieser Umstände allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens einen im Spruch anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätte. § 307 Abs. 1 BAO normiert, dass mit dem die Wiederaufnahme des Verfahrens bewilligenden oder verfügenden Bescheid unter gleichzeitiger Aufhebung des früheren Bescheides die das wiederaufgenommene Verfahren abschließende Sachentscheidung zu verbinden ist.

Die Wiederaufnahmegründe sind in der Begründung anzuführen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sich die Berufungsbehörde nach der Judikatur des VwGH (Ritz, BAO Kommentar³, § 307, TZ 3 ff und die dort aufscheinenden Judikaturhinweise) bei der Erledigung der gegen die Wiederaufnahme gerichteten Berufung auf keine neuen Wiederaufnahmegründe stützen kann. Sie hat lediglich zu beurteilen, ob die von der Abgabenbehörde I. Instanz angeführten Gründe eine Wiederaufnahme rechtfertigen. Bei jeder Wiederaufnahme des Verfahrens ist im Übrigen zu differenzieren zwischen dem Vorliegen von Wiederaufnahmsgründen einerseits und - sofern solche Gründe als gegeben erachtet werden - der daran anschließenden Frage der Ermessensübung, liegt doch die Verfügung der Wiederaufnahme im behördlichen Ermessen.

Sämtliche angefochtenen Wiederaufnahmebescheide enthalten im Streitfall als Begründung einen Verweis auf die in der Niederschrift bzw. dem Prüfungsbericht enthaltenen Feststellungen der abgabenbehördlichen Prüfung (für 1999 bis 2001 nicht verbuchte Wareneinkäufe für das Tanzcafé S bei der Firma CW, ab Verwendung eines Kassensystems mit eingebauter Verkürzungsfunktion). In Begründung des Ermessens ist ausgeführt, dass das Interesse an der Rechtsrichtigkeit im vorliegenden Fall jenes an der Rechtsbeständigkeit überwog und dass die steuerlichen Auswirkungen nicht als bloß geringfügig angesehen werden konnten.

Alle Wiederaufnahmebescheide stammen vom . Laut Aktenlage wurden die endgültigen Prüfungsfeststellungen am dem Masseverwalter zur Würdigung übermittelt. Am fand die Schlussbesprechung statt, an der neben den Organen der Finanzverwaltung Rechtsanwalt Dr. SK als Masseverwalter und der steuerliche Vertreter Mag. GB teilnahmen. Dem Masseverwalter wurde eine Durchschrift der Niederschrift über die Schlussbesprechnug ausgehändigt.

Die Begründung der in Streit stehenden Wiederaufnahmebescheide definiert also die neu hervorgekommenen Tatsachen oder Beweise mit ihrem Hinweis auf die Feststellungen der Betriebsprüfung, von denen die Vertreter der Berufungswerberin zeitgerecht Kenntnis erlangen konnten, ausreichend konkret. Die nicht bloß geringfügigen steuerlichen Auswirkungen der Wiederaufnahmsgründe rechtfertigen die Ermessensentscheidung.

Zumal auch die Berufungen gegen die Wiederaufnahmebescheide kein substanziiertes, gegen eine Wiederaufnahme sprechendes Vorbringen enthalten, waren sie als unbegründet abzuweisen.

3) und 4) Körperschaftssteuerbescheide und Umsatzsteuerbescheide:

Die Abgabenbehörde kann gemäß § 206 lit. b BAO idF AbgÄG 2003, BGBl. I 2003/124, von der Festsetzung von Abgaben ganz oder teilweise Abstand nehmen, soweit im Einzelfall aufgrund der der Abgabenbehörde zur Verfügung stehenden Unterlagen und der durchgeführten Erhebungen mit Bestimmtheit anzunehmen ist, dass der Abgabenanspruch nicht durchsetzbar sein wird.

Aus dem Gesetzeswortlaut und der Gesetzessystematik ergibt sich nach Überzeugung des Senates klar, dass die Abgabenfestsetzung den Regelfall, die Abstandnahme davon den Ausnahmefall darstellt. Hierin stimmt der Senat dem Finanzamt zu. Dies wird insbesondere dann gelten, wenn die Abstandnahme von der Festsetzung im Berufungsverfahren erfolgt und sich das Finanzamt gegen eine solche Maßnahme ausspricht. In einem solchen Fall hat sich die Berufungsbehörde besonders intensiv mit der Frage auseinanderzusetzen, ob Gründe vorliegen, die gegen eine Maßnahme iS der zitierten Norm sprechen bzw inwieweit die vom Finanzamt vorgebrachten Gründe gegen eine solche Maßnahme sprechen. Entgegen der Auffassung des Finanzamtes ist der Senat aus den nachstehend angeführten Gründen, die vor allem auf dem Umstand basieren, dass ein entstandener Abgabenanspruch durch eine Maßnahme nach § 206 BAO nicht berührt wird (Ellinger/Iro/Kramer/Sutter/Urtz, BAO, § 206 , Anm 7) unter Bedachtnahme auf die Umstände des Einzelfalles allerdings der Überzeugung, dass die Voraussetzungen für eine Ausnahmemaßnahme nach § 206 lit. b BAO im Streitfall vorliegen.

a)Wirtschaftliche Verhältnisse:

Subjekt der Betriebsprüfung für die Streitjahre 1999 bis 2004 war die OW GmbH, die mit Vertrag vom rückwirkend auf den als übertragende Gesellschaft mit der übernehmenden Gesellschaft ND GmbH verschmolzen wurde. Sie büßte damit im Wege der Universalsukzession ihr Vermögen ein und war gleichzeitig aufgelöst und beendet (Koppensteiner/Rüffler, Kommentar zum GmbH-Gesetz, § 84, Rz 5), oder mit anderen Worten: Sie ist untergegangen (). Die Löschung im Firmenbuch erfolgte am . Mit Beschluss des Landesgerichtes I vom wurde über das Vermögen der ND GmbH das Konkursverfahren eröffnet. Mit Konkurseröffnung ist eine Gesellschaft aufgelöst (Koppensteiner/Rüffler, Kommentar zum GmbH-Gesetz, § 84, Rz 11). Eine Erwirtschaftung künftiger Gewinne durch das Steuersubjekt ist somit ausgeschlossen.

Aus der Aktenlage (Arbeitsbogen Betriebsprüfung) lässt sich ersehen, dass die gefährdete Einbringlichkeit auch der Abgabenbehörde I. Instanz seit geraumer Zeit bewusst war. So hat diese selbst im Bescheid vom als Begründung für die Abweisung eines Antrages auf Aussetzung der Einhebung eine - infolge des bereits am eröffneten Konkurses - gefährdete Einbringlichkeit aufgezeigt. Noch weiter zurückblickend findet sich im Akt ein Bescheid - Sicherstellungsauftrag des vormals zuständigen Finanzamtes L vom , der an USt, KöSt und KESt (hier nicht strittig) für die Jahre 2001 bis 2004 eine Summe von voraussichtlich 1,236.000,00 € zum Inhalt hat. Schon im Zeitpunkt der Erlassung dieses Bescheides wird "angesichts der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens (Anm.: ND GmbH nach Verschmelzung) mit einer erheblichen Erschwernis oder Gefährdung der Einbringung" gerechnet. "Verwertungsüberschüsse, wenn überhaupt möglich, da es sich um insgesamt schwer verwertbare Vermögenswerte handelt", seien "kaum zu erwarten".

Eine Nachfrage der Referentin des Unabhängigen Finanzsenates beim Vertreter der Abgabenbehörde I. Instanz dahingehend, ob der oben erwähnte Sicherstellungsauftrag zur Hinterlegung eines Geldbetrages oder zur Pfändung körperlicher Sachen geführt hätte, die nach Eintritt der Vollstreckbarkeit einer Verwertung zugänglich gewesen wären, erbrachte eine abschlägige Antwort. Der Sicherstellungsauftrag sei rein vorsorglich erlassen worden und habe nach Wissensstand der erstinstanzlichen Organe nicht zur Pfändung von Vermögenswerten geführt. D.h. also, dass keine vorkonkurslich erworbenen Sicherheiten vorliegen, die ihre Wirkung im Konkurs behalten hätten und im Vergleich zu den für unbesicherte Gläubiger erzielbaren, bescheidenen Konkursquoten eine Privilegierung bedeutet hätten (die Konkursquote errechnet sich aus dem Verhältnis des Verwertungserlöses der Konkursmasse zur Gesamtsumme der festgestellten Verbindlichkeiten). Bedacht zu nehmen ist auch auf die - gegenüber den Konkursforderungen privilegierten - Masseforderungen (§ 46 KO), die typischerweise erst nach Konkurseröffnung begründet werden, etwa Kosten des Konkursverfahrens, und die aus der Konkursmasse zur Gänze befriedigt werden müssen.

Die Vermögenssituation wird im Akt weiter wie nachstehend beschrieben:

"Die Betriebe, MISL sowie das Tanzcafe "S " werden in gemieteten Lokalen betrieben, wobei das Anlagevermögen aus den baulichen Investitionen in fremden Liegenschaften sowie Betriebs- und Geschäftsausstattung besteht. Im Anlagevermögen der ND GmbH befindet sich auch ein auf fremdem Grund und Boden errichtetes und an die Firma NI Gastronomie GmbH vermietetes Geschäftsgebäude. In diesem Gebäude wird von der genannten Firma das Lokal NschI betrieben. Das Gebäude wurde 2003 errichtet und fast zur Gänze langfristig fremdfinanziert. ........... Aus den vorgenannten Gründen ist das Unternehmen nicht in der Lage, die zu erwartende Abgabennachforderung zu entrichten. Die Gefährdung der Einbringlichkeit ist daher in jeder Hinsicht gegeben. Ohne die rechtzeitige Erlassung eines Sicherstellungsauftrags wird die Abgabenbehörde nicht in der Lage sein, ihre Abgabenansprüche gegenüber der Fa ND GmbH als Rechtsnachfolger der OW GmbH durchzusetzen."

In der Insolvenzdatei (Aktenzeichen XY) betreffend ND GmbH ist angemerkt: "Der Masseverwalter hat angezeigt, dass die Konkursmasse nicht ausreicht, um die Masseforderungen zu erfüllen (Masseunzulänglichkeit), ".

Wie die Ermittlungen der Referentin des Unabhängigen Finanzsenates ergeben haben, beträgt das Masseguthaben der in Konkurs befindlichen ND GmbH lediglich 21.413,65 € und wird sich daran aus Sicht des Masseverwalters auch hinkünftig nichts Wesentliches ändern (unter Konkursmasse versteht man gemäß § 1 KO das gesamte Vermögen des Schuldners, soweit es der Exekution unterworfen ist). Dem gegenüber steht neben der streitgegenständlichen eine Anzahl weiterer Forderungen (laut Aktenlage, Arbeitsbogen Betriebsprüfung, etwa allein Steuernachzahlungen in Höhe von 3,7 Millionen € betreffend ND GmbH). Als Quote sind wahrscheinlich 0,34% zu erwarten.

Dem Einwand der Abgabenbehörde I. Instanz, wonach die Quote unbekannt sei, kommt insofern keine Berechtigung zu. Sie ist mit an Bestimmtheit grenzender Wahrscheinlichkeit kleiner als 1 % und damit vernachlässigbar gering.

Dem weiteren Hinweis der Abgabenbehörde I. Instanz, wonach allenfalls Gelder und Vermögenswerte vorhanden seien, fehlt es an Substanz. Inwiefern sich nämlich aus einem Strafakt oder dem eingereichten Bankgutachten des Sachverständigen Mag. RNK Hinweise auf die Durchsetzbarkeit der Abgabenansprüche bei der Berufungswerberin ergeben sollten, ist nicht erkennbar. Soweit "Schwarzgelder" in liechtensteinische Stiftungen geflossen sind, wofür Hinweise sprechen, sind diese den Geschäftsführern bzw. Gesellschaftern zuzurechnen und zählen jedenfalls nicht (mehr) zum Vermögen der untergegangenen Gesellschaft.

Aus der im Akt aufliegenden Buchungsabfrage betreffend ND GmbH als RNF der OW GmbH, die den Zeitraum bis umfasst, lässt sich ersehen, dass seit Mai 2006 kein Zahlungseingang stattgefunden hat.

In Zusammenschau aller Sachverhaltselemente (Berufungswerberin untergegangen, Rechtsnachfolgerin aufgelöst, Masseguthaben minimal, Konkursforderungen überproportional hoch, Masseforderungen zu bedenken, langjährig keine Kontobewegungen in Form von Zahlungseingängen) ist die Einbringlichkeit der strittigen Abgabennachforderungen von 1,023.712,66 € derzeit und in Zukunft mit Bestimmtheit auszuschließen. Eine allenfalls erzielbare Quote von 0,34% (das sind 3.480,63 €) verkörpert nicht den in § 206 lit. b BAO umschriebenen Abgabenanspruch, um dessen Einbringlichkeit in voller Höhe es geht.

b)Strafverfahren und Haftungen:

Dem Einwand des Vertreters der Abgabenbehörde I, Instanz, wonach das beim OGH anhängige Finanzstrafverfahren einer Vorgangsweise gemäß § 206 lit. b BAO entgegenstehe, kommt keine Berechtigung zu, zumal die Abstandnahme von der Festsetzung die Durchführung eines Finanzstrafverfahrens nicht hindert. Im Finanzstrafverfahren besteht nämlich keine Bindung an abgabenrechtliche Bescheide (vgl. samt umfangreichen Rechtsprechungshinweisen sowie Tannert, FinStrG, Große Gesetzesausgabe, Manz, § 56, E 16).

Wenn der Vertreter der Abgabenbehörde I. Instanz die Meinung vertritt, der Anwendung von § 206 lit. b BAO stehe ein offenes Haftungsverfahren entgegen bzw. bei Anwendung des § 206 lit. b BAO komme eine Geltendmachung von Haftungen im Sinne der §§ 9 und 11 BAO nicht in Betracht, so teilt der Unabhängige Finanzsenat diese Ansicht nicht. Vielmehr steht es der Abgabenbehörde I. Instanz frei, den Abgabenanspruch durch Ausspruch von Haftungen, zB Verschuldenshaftung gemäß § 9 BAO oder Haftung des rechtskräftig verurteilten Täters gemäß § 11 BAO durchzusetzen. Die Haftung setzt die Erlassung des Abgabenbescheides gegenüber dem Primärschuldner nicht voraus (-G/06; SWK 12/2008, S 415; UFS Aktuell 2008, S 127). Auch der VwGH hat in seinem Erkenntnis 99/14/0218 vom die Rechtmäßigkeit der Inanspruchnahme eines GmbH Geschäftsführers gemäß § 9 BAO ohne vorangegangene Abgabenfestsetzung bzw. vor vollständiger Konkursabwicklung bejaht.

Vgl. auch : "Die Haftungsinanspruchnahme setzt jedoch nicht voraus, dass die Abgabenschuld dem Primärschuldner gegenüber überhaupt geltend gemacht wurde", oder : "Die Geltendmachung einer abgabenrechtlichen Haftung setzt zwar das Bestehen eines Abgabenschuldverhältnisses, also das Bestehen einer Abgabenschuld (§ 4 BAO) voraus, nicht jedoch, dass diese Schuld dem Abgabenschuldner gegenüber auch bereits geltend gemacht wurde.......Gemäß § 4 BAO entsteht der Abgabenanspruch, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Abgabenpflicht knüpft, somit unabhängig von einer behördlichen Tätigkeit und auch unabhängig von einer diesbezüglichen Bescheiderlassung". In seinem Erkenntnis vom , 94/14/0148, bringt der VwGH zum Ausdruck, dass - sofern einem Haftungsbescheid ein Abgabenbescheid vorangeht - die Behörde daran gebunden ist und sich in der Entscheidung über die Heranziehung zur Haftung grundsätzlich an diesen Abgabenbescheid zu halten hat. Geht der Entscheidung über die Heranziehung zur Haftung kein Abgabenbescheid voran, so gibt es eine solche Bindung nicht. Dadurch, dass dem zur Haftung Herangezogenen ein Rechtszug gegen den Abgabenbescheid eingeräumt ist, bleibt sein Rechtsschutz gewahrt.

Zu bemerken ist in diesem Zusammenhang überdies auch: Soweit Bescheide aufgrund des § 206 lit. b BAO über die gänzliche oder teilweise Abstandnahme von der Abgabenfestsetzung absprechen, ist ihre Änderung oder Zurücknahme nach Maßgabe des § 294 BAO zulässig (Ellinger/Iro/Kramer/Sutter/Urz, BAO, § 206 Anm. 6). Denn durch eine Maßnahme nach § 206 BAO erlischt nämlich der Abgabenanspruch nicht. Es sind auch keine Gründe erkennbar, die gegen den Widerruf gemäß § 294 BAO oder eine Verfahrenswiederaufnahme gemäß § 303 BAO hinsichtlich des Nichtfestsetzungsbescheides sprechen würden. Einer allfälligen Haftungsinanspruchnahme steht die Abstandnahme von der Festsetzung auch unter Beachtung der Akzessorietät der Haftung nicht entgegen (vgl. Ritz, BAO³, 7, Tz 10 oder : "Die Geltendmachung einer Abgabenschuld setzt zwar das Bestehen einer Abgabenschuld voraus, nicht jedoch, dass diese Schuld dem Abgabenschuldner gegenüber geltend gemacht wurde; abgabenrechtliche Haftungen haben nämlich keinen bescheidakzessorischen Charakter").

Der in der Literatur vertretene Standpunkt (Ritz, BAO³, § 206, Tz 5, Ellinger/Iro/Kramer/Sutter/Urtz, BAO, § 206, Anm. 12), wonach Nichtfestsetzungen wegen Uneinbringlichkeit nicht nur die Verhältnisse des Eigenschuldners, sondern auch allfälliger Haftungspflichtiger zu berücksichtigen haben, überzeugt den Senat nicht bzw. lässt Durchbrechungen zu. An anderer Stelle (Ritz, BAO³, § 224, Tz 2) heißt es nämlich auch: "Eine Haftungsinanspruchnahme setzt nicht voraus, dass die Abgabe dem Erstschuldner (Primärschuldner) gegenüber bereits (mit Abgaben- oder Haftungsbescheid) geltend gemacht wurde......Eine Inanspruchnahme vor bzw. statt jener des Erstschuldners wird........jedoch nur ausnahmsweise zulässig sein, etwa wenn der Erstschuldner eine im Firmenbuch gelöschte und bereits beendigte juristische Person ist"). Im Streitfall ist die Erstschuldnerin OW GmbH seit langem (2005) im Firmenbuch gelöscht und untergegangen, auch die ND GmbH als Rechtsnachfolgerin der OW GmbH ist seit März 2007 aufgelöst und beendigt.

Insoweit sich die Abgabenbehörde I. Instanz auf Stoll, BAO, 2147 ff, beruft, ist darauf hinzuweisen, dass diese Kommentierung eine nicht mehr gültige Version von § 206 BAO betrifft. Sie versteht Maßnahmen nach § 206 BAO als Erhebungsverzicht (Stoll, BAO, 2148) und geht damit über den Gesetzeswortlaut hinaus, der ausdrücklich nur von der Abstandnahme von der Festsetzung spricht und nicht von der Abstandnahme von der viel weiteren Abgabenerhebung (vgl. § 78 BAO). Schließlich führt Stoll an anderer Stelle aus, dass der Abgabenanspruch unabänderlich ist und selbst durch Verjährung nicht erlischt (Stoll, BAO, 82).

Wenn § 206 BAO die Durchsetzbarkeit des Abgabenanspruches thematisiert, so ist nach Überzeugung des Senates die Durchsetzbarkeit gegenüber dem Abgabenschuldner gemeint. Da allfällige Haftungs- und Strafverfahren eine entsprechende Abgabenfestsetzung nicht zur Voraussetzung haben, ist nicht erkennbar, weshalb der Anwendungsbereich des § 206 BAO unnötig eingeschränkt werden soll, indem Fragen Relevanz eingeräumt wird, über die in anderen Verfahren ohne Bindungswirkung zu entscheiden ist.

An der dargestellten Sichtweise ändert der Umstand, dass - siehe oben - laut Gutachten des Banksachverständigen Mag. RNK die in Liechtenstein ansässige V Stiftung wirtschaftlich RO bzw. die ebenfalls in Vz firmierende P Stiftung KHW zuzurechnen ist und dass offensichtlich Geldflüsse aus den Betrieben der beiden Geschäftsführer an die Stiftungen weitergeleitet wurden, nichts. Jedoch werden gerade diese Umstände im Rahmen der Geltendmachung von Haftungen der Geschäftsführer bzw. der allenfalls rechtskräftig verurteilten Täter gemäß §§ 9 bzw. 11 BAO von Interesse sein.

c)Ermessen:

Eine Maßnahme nach § 206 lit. b BAO liegt im Ermessen der für die Abgabenfestsetzung zuständigen Abgabenbehörde I. bzw. II. Instanz (Ritz, BAO³, § 206 Tz 1). Innerhalb der vom Gesetz gezogenen Grenzen sind Ermessensentscheidungen nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände zu treffen. Angesichts der im Streitfall zu verneinenden Einbringungsmöglichkeit wäre es unzweckmäßig und der Verfahrensökonomie abträglich, ein außerordentlich umfangreiches und überdurchschnittlich aufwändiges Verwaltungsverfahren mit diversen Zeugeneinvernahmen, Einholung von Sachverständigengutachten, hohem Personaleinsatz und Reisetätigkeit bei einem mehrere Bundesländer überspannenden Sachverhalt durchzuführen, das zum einen enorme Kosten und Verwaltungsaufwand verursachen würde, zum zweiten lediglich (gegenüber der berufungsführenden Gesellschaft) nicht durchsetzbare Abgabenschulden zum Gegenstand hätte, zum dritten über lange Zeit wichtige Arbeitskraftressourcen binden würde (Art. 126 b Abs. 5 B-VG, Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der Verwaltungsführung, Ritz, ÖStZ 1996, 226), womit zum vierten Verzögerungen in anderen Verfahren einhergingen bzw. unvermeidlich wären.

Die somit als geboten erachtete Vorgangsweise gemäß § 206 lit. b ist unabhängig von einer etwaigen Rechtmäßigkeit der Abgabenfestsetzungen laut Betriebsprüfung dem Grunde nach zu sehen.

In welch krassem Missverhältnis die Festsetzung der nicht einbringlichen Abgaben mit jenem Verwaltungsaufwand stünde, den ein ordentliches, insbesondere die Offizialmaxime und den Grundsatz des Parteiengehörs (§§ 115 und 183 BAO) wahrendes Verfahren erfordern würde, zeigen die nachfolgend sinngemäß wiedergegebenen Beweisanträge auf, zu welchen das primär ermittlungspflichtige Finanzamt/Großbetriebsprüfung (vgl. -F/04) nicht Stellung genommen hat:

  • Zeugenschaftliche Einvernahme des Geschäftsführers der Firma W zum von der Berufungswerberin benutzten Kassensystem (Berufung Seite 6),

  • zeugenschaftliche Einvernahme des Sachverständigen betreffend Manipulation des Kassensystems (Berufung Seite 9),

  • zeugenschaftliche Einvernahme des Systemprüfers (Seite 9),

  • ergänzende Einholung eines Sachverständigengutachtens zum verwendeten Kassensystem und dessen Verkürzungsfunktionalität (Seite 10),

  • nochmalige getrennte, zeugenschaftliche Einvernahme der Mitarbeiter A und F (Seite 15),

  • Vorlage sämtlicher Unterlagen, die, wenn auch andere Steuernummern betreffend, den Finanzämtern I und K bei Erarbeitung des Betriebsprüfungsberichtes zur Verfügung standen (Seite 18),

  • Akteneinsicht und Übermittlung sämtlicher zeugenschaftlicher Einvernahmen, nicht zuletzt jener der Lieferanten (Seite 18),

  • Neuerliche Einvernahme des Kassenlieferanten H als Zeuge (Seiten 19 und 34),

  • Offenlegung der im BP-Bericht unter Tz 18 angeführten Zeugenaussagen zwecks Zuordnung zu den jeweiligen Betrieben (Seite 21),

  • Bekanntgabe der Aussagen und Adressen sämtlicher Zeugen und Wiedereinvernahme von vier namentlich genannten Personen (Seiten 22 und 35),

  • Bekanntgabe der Uhrzeit von Wareneinkäufen und Offenlegung entsprechender Tagesprotokolle (Seite 24),

  • Vorlage von Gutscheinen und von damit bezahlten Rechnungen von Tageskunden (Seite 27),

  • Offenlegung der österreichweiten Branchenkennzahlen von Diskotheken (Seite 32).

Der unter den geschilderten Umständen als geboten erachteten Abstandnahme von der Festsetzung steht auch der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht entgegen. Der gesetzliche Abgabenanspruch als solcher wird nämlich nicht vernichtet, sondern es wird lediglich - wegen Uneinbringlichkeit - auf seine Durchsetzung gegenüber der untergegangenen bzw. aufgelösten und faktisch vermögenslosen Berufungswerberin verzichtet (Ellinger/Iro/Kramer/Sutter/Urz, BAO, § 206 Anm. 7).

Die seitens des Unabhängigen Finanzsenates nach sorgfältiger Abwägung gewählte Vorgangsweise beruht also auf einem verantwortungsvollen Umgang mit beschränkten Ressourcen.

d)Aktenunterlagen:

Seitens des Unabhängigen Finanzsenates wird davon ausgegangen, dass in den vorgelegten Akten einschließlich Arbeitsbogen der Betriebsprüfung und elektronischer Sammlung zur Österreich überspannenden "Firmengruppe Nachtschicht" alles enthalten ist, was für die strittige Abgabenfestsetzung von Bedeutung ist. Eruiert wurde seitens der Referentin des Unabhängigen Finanzsenates überdies durch Kontaktaufnahme mit den Außenstellen I und L , dass hinsichtlich der Berufungswerberin (noch) keine Haftungsbescheide (§ 9 BAO) erlassen wurden bzw. keine auf solche bezogenen Berufungsverfahren beim UFS anhängig sind. Nachdem das für die Einhebung zuständige Finanzamt I mehrfach ersucht wurde, bekanntzugeben, was gegen eine Maßnahme nach § 206 BAO spricht, darf angenommen werden, dass alle entsprechenden Umstände bereits offengelegt wurden. Insofern ist nicht klar, was eine darüber hinausgehende Einsichtnahme in die Straf-, Vollstreckungs- und Konkursakten bringen sollte und wurde dies auch nicht dargetan. Die Berufung auf einen Akt schlechthin stellt im Übrigen keinen tauglichen Beweisantrag dar ( und , 87/02/0002).

e)Beispielsfolgen:

Der Unabhängige Finanzsenat teilt nicht die Auffassung der Abgabenbehörde I. Instanz, wonach eine Vorgangsweise gemäß § 206 BAO negative Beispielsfolgen nach sich ziehen könnte. Vielmehr erachtet er das Finanzamt als aufgerufen, seine Kräfte darauf zu konzentrieren, die durch die Maßnahme gemäß § 206 BAO nicht erloschenen Abgabenansprüche im Wege von Haftungsaussprüchen geltend zu machen, zumal die Abgabenschuldnerin untergegangen und ihre Rechtsnachfolgerin aufgelöst und de facto vermögenslos ist.

Es ist Aufgabe des Finanzamtes, durch entsprechende Finanzstrafverfahren sowie allfällige Anzeigen bei Gericht einer systematischen Steuerhinterziehung entgegenzuwirken.

f)Verfahren:

Die Entscheidung über eine Berufung obliegt grundsätzlich dem Referenten (§ 282 Abs. 1 BAO), das ist jenes hauptberufliche Mitglied des Unabhängigen Finanzsenates, das der Vorsitzende des Senates zur Entscheidung über die Berufung bestellt. Die Zuständigkeit des gesamten, aus vier Mitgliedern bestehenden Berufungssenates besteht auf Antrag der Partei oder auf Verlangen des Referenten. Der Antrag ist zurücknehmbar. Die Amtspartei ist nicht zur Antragstellung auf Entscheidung durch den gesamten Berufungssenat befugt (Ritz, BAO³, § 282, Tz 1-4). Es kommt ihr daher auch keine Berechtigung zu, auf die Entscheidung durch den gesamten Berufungssenat zu bestehen, sofern ein entsprechender Antrag zurückgenommen wurde. Im Streitfall ist insofern die seitens des Vertreters der Abgabenbehörde I. Instanz getätigte Äußerung, "Auf eine mündliche Verhandlung wird nicht verzichtet", allenfalls als Erklärung einer persönlichen Präferenz interpretierbar, die allerdings - mangels ihm zustehender Gestaltungsmöglichkeit - unbeachtlich ist.

Wohl wurde durch den Masseverwalter und den steuerlichen Vertreter die Zurücknahme des Antrages auf Entscheidung durch den gesamten Berufungssenat erklärt. Im Hinblick auf die oben genannten Gründe stellte aber letztlich wieder die Referentin einen Antrag auf Durchführung einer Senatsverhandlung, die in nichtöffentlicher Sitzung stattfand.

g)Nichtfestsetzung:

Der aushaftende Rückstand von 1,023.712,66 € setzt sich zusammen aus den Mehrbeträgen an Umsatzsteuer (405.237,36 €) und Körperschaftssteuer (558.702,45 €) laut Betriebsprüfung sowie aus den Anspruchszinsen 2000 bis 2004 (59.772,85 €). Er ist fällig und in Vollstreckung (Rückstandsaufgliederung vom wurde ausgedruckt). Der streitgegenständliche Nachforderungsbetrag umfasst somit keine bereits entrichteten Abgabenbeträge. Abzüglich Anspruchszinsen, über die gesondert abzusprechen ist, ergibt sich ein gemäß § 206 lit. b BAO nicht festzusetzender Betrag von 963.939,81 € an Umsatzsteuer und Körperschaftsteuer für die Jahre 1999 bis 2004. Die Umsatzsteuer- und Körperschaftsteuervorschreibungen sind daher in dem Umfang festzusetzen, wie er vor der Betriebsprüfung bestand.

5) Anspruchszinsen:

Da ein Anspruchszinsenbescheid nicht mit Aussicht auf Erfolg mit der Begründung anfechtbar ist, der maßgebende Stammabgabenbescheid (USt, KöSt) sei inhaltlich rechtswidrig, ist die Berufung in diesem Punkt abzuweisen. Erweist sich aber ein Stammabgabenbescheid als rechtswidrig und/oder wird er abgeändert - etwa wie im Streitfall insofern, als die Abgabe zum Teil nicht festgesetzt wird - oder aufgehoben, so wird diesem Umstand mit einem an den Abänderungs- bzw. Aufhebungsbescheid gebundenen, neuen Zinsenbescheid Rechnung getragen. Es ergeht somit ein weiterer Zinsenbescheid, eine Abänderung des ursprünglichen Zinsenbescheides (vgl. Ritz, BAO³3, § 205 Tz 33 bis 35) erfolgt nicht.

Insgesamt war wie im Spruch zu entscheiden.

Feldkirch, am

Zusatzinformationen


Tabelle in neuem Fenster öffnen
Materie
Steuer
Finanzstrafrecht Verfahrensrecht
betroffene Normen
§ 303 Abs. 4 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
§ 206 lit. b BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
§ 9 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
§ 11 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
§ 147 Abs. 1 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
§ 99 FinStrG, Finanzstrafgesetz, BGBl. Nr. 129/1958
§ 294 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
§ 282 Abs. 1 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
§ 205 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at