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OGH 03.04.2019, 1Ob57/19t

OGH 03.04.2019, 1Ob57/19t

Entscheidungstext

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj E* S*, geboren am * 2013, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Mag. D* S*, vertreten durch Dr. Andreas Joklik, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 43 R 429/18h-476, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Josefstadt vom , GZ 2 Ps 184/13g-434, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1.1. Zu der von der Mutter in ihrem Rechtsmittel relevierten Verletzung des rechtlichen Gehörs im erstinstanzlichen Verfahren ist darauf hinzuweisen, dass zwar nach der Entscheidung des EGMR vom , 17056/06, Micallef gegen Malta, die Verfahrensgarantien des Art 6 Abs 1 EMRK im Allgemeinen auch für das Provisorialverfahren gelten. Der EGMR verneinte aber die Anwendbarkeit dieser Bestimmung für jene Ausnahmefälle, in denen die Effektivität der Maßnahme von einer raschen Entscheidung abhängt. Es wird daher im Verfahren über die Obsorge die Anordnung einer vorläufigen Maßnahme ohne vorangehende Anhörung des Antragsgegners insbesondere dann zulässig sein, wenn zum Schutz eines Minderjährigen aufgrund besonderer Umstände eine vorläufige Entscheidung unverzüglich zu treffen ist (10 Ob 61/14i mwN; vgl Beck in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 107 Rz 47 f; 3 Ob 263/09m).

1.2. Die Frage, ob die Voraussetzungen für einen Verzicht auf eine Stellungnahme der Mutter zum eingeholten Sachverständigengutachten im erstinstanzlichen Verfahren gegeben waren, muss hier nicht abschließend beurteilt werden. Nach ständiger Rechtsprechung erfordert der Grundsatz des Parteiengehörs im Außerstreitverfahren, dass der Partei ein Weg eröffnet wird, auf dem sie ihre Argumente für ihren Standpunkt vorbringen kann. Das rechtliche Gehör ist daher auch dann gewahrt, wenn sich die Partei nur schriftlich äußern konnte oder geäußert hat (RIS-Justiz RS0006036; RS0006048 [T4, T10]). Eine mögliche Verletzung des rechtlichen Gehörs im Verfahren außer Streitsachen wird geheilt, wenn die Möglichkeit bestand, den eigenen Standpunkt im Rekurs zu vertreten (RS0006057 [T12]).

Die Mutter hatte in ihrem Rekurs gegen die Entscheidung des Erstgerichts Gelegenheit, ihren Standpunkt darzulegen. Das Rekursgericht maß den im Rekurs vorgetragenen Argumenten erkennbar keine Relevanz zu, sodass ein allfälliger Mangel des Verfahrens erster Instanz geheilt ist.

1.3. Im Übrigen traf das Erstgericht die Feststellung, durch die Ängste der Mutter werde ihr Sohn zunehmend eingeengt und weiter stark von Sozialkontakten außerhalb der engsten mütterlichen Familie abgeschnitten, auf der Grundlage der Stellungnahme des zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträgers und nicht des Gutachtens des Sachverständigen; zu dieser Stellungnahme gab aber die Mutter eine Äußerung ab. Selbst wenn – wie von der Mutter behauptet – ihr Sohn „sowohl ein Sozialleben sowie Kontakt zu Gleichaltrigen“ gehabt haben sollte, ergeben sich aus den unbekämpften erstgerichtlichen Feststellungen ausreichende Gründe für die getroffene vorläufige Obsorgeregelung.

2. Abgesehen davon, dass die Mutter drei Termine zur Befundaufnahme beim Sachverständigen wegen Erkrankung nicht wahrnahm, fällt die Frage der Beweiskraft eines Sachverständigengutachtens zu den Grundlagen der Beurteilung der Erziehungsfähigkeit der Mutter in das Gebiet der Beweiswürdigung und ist daher mit Revisionsrekurs nicht bekämpfbar (vgl RS0043163; RS0043371 [T15]).

3.1. Die Frage der Obsorgeübertragung und der Erlassung einer vorläufigen Maßnahme hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und ist nicht von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG, es sei denn, dass bei dieser Entscheidung das Wohl des Kindes nicht ausreichend beachtet wurde (RS0007101 [T8, T13, T18]). Das ist hier nicht der Fall.

3.2. Das Rekursgericht begründete die vorläufige Maßnahme nach § 107 Abs 2 AußStrG, mit der vom Erstgericht die Mitobsorge der Mutter für den Sohn „einstweilig“ (gemeint: vorläufig) entzogen und dem Vater allein übertragen wurde, damit, dass nach den unbestrittenen Feststellungen die Mutter Schilderungen ihres Sohnes über schwerste sexuelle Missbrauchshandlungen durch den Vater, seine Lebensgefährtin und weitere Personen im Haushalt des Vaters abklären ließ, obwohl solche Handlungen nicht stattgefunden hatten und die Erzählungen von der Mutter und der mütterlichen Großmutter dem Kind suggeriert worden waren. Die Suggestion der schweren Misshandlungen sei unabhängig, ob von der Mutter bewusst oder unbewusst durchgeführt, ein massiver Eingriff in die psychische Integrität des Fünfjährigen. Zwar sei die Mutter in der Vergangenheit mit Ausnahme ihrer Einstellung zum Vater offenbar zur Versorgung ihres Kindes noch sehr gut in der Lage gewesen und die Gefahr eines Bindungstraumas noch von Relevanz gewesen, nunmehr sei jedoch die Grenze dessen überschritten, was dem Sohn hinsichtlich der Abwertung des Vaters zugemutet werden könne, sodass ein von der Mutter befürchtetes Bindungstrauma in Kauf zu nehmen sei. Dies stelle im Hinblick auf die von ihr gesetzten kindeswohlgefährdenden Handlungen das geringere Risiko für ihren Sohn dar. Diese Beurteilung ist bei der festgestellten Gesamtkonstellation nicht zu beanstanden.

§ 107 Abs 2 AußStrG (idF des KindNamRÄG 2013, BGBl I 2013/15) erlaubt eine vorläufige Obsorgeentscheidung nach Maßgabe des Kindeswohls unter anderem zur Schaffung von Rechtsklarheit. Entgegen der Ansicht der Mutter, die vor allem mit Judikatur zur endgültigen Obsorgeübertragung argumentiert, kommt es auf eine akute Gefährdung des Kindeswohls nicht an (Kindeswohlförderung statt bisheriger Gefahrenabwehr: RS0129538).

4. Einer weiteren Begründung bedarf es nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Entscheidungstext

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj E***** S*****, geboren am ***** 2013, wegen Obsorge, im Verfahren über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Mag. D***** S*****, vertreten durch Dr. Andreas Joklik, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 43 R 429/18h-476, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Josefstadt vom , GZ 2 Ps 184/13g-434, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Revisionsrekursbeantwortung des Vaters H***** J*****, vertreten durch Mag. Dr. Johann Etienne Korab, Rechtsanwalt in Wien, wird zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter des Pflegebefohlenen wurde bereits mit Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom zurückgewiesen. Die ohne (Abwarten einer) Mitteilung im Sinn des § 71 Abs 2 AußStrG erstattete Revisionsrekursbeantwortung des Vaters, die am beim Obersten Gerichtshof einlangte, ist nicht nur zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht notwendig (§ 508a Abs 2 Satz 2 ZPO analog; RIS-Justiz RS0113633); sie ist nach Abschluss des Verfahrens auch nicht mehr sachlich zu behandeln (vgl RS0113633 [T1, T5]).

Zusatzinformationen


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Rechtsgebiet
Zivilrecht
ECLI
ECLI:AT:OGH0002:2019:E124906
Datenquelle

Fundstelle(n):
BAAAD-04869