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Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 09.09.2021, RV/7100300/2021

Erhöhte Familienbeihilfe für ein mj. Kind; Grad der Behinderung

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch die Richterin***1*** in der Beschwerdesache ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, über die Beschwerde vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Waldviertel vom mit dem der Antrag vom auf erhöhte Familienbeihilfe für das Kind ***2*** ***3*** ***4***, geb. ***5***, für den Zeitraum ab Juni 2015 abgewiesen wurde, zu Recht erkannt:

Insofern sich die Beschwerde gegen den Zeitraum von 06/2015 bis 11/2020 richtet, wird die Beschwerde abgewiesen, für den Zeitraum ab 12/2020 wird der Beschwerde stattgegeben.

Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

Verfahrensgang

Die Beschwerdeführerin (Bf.) ***Bf1*** stellte am den Antrag auf Gewährung des Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe wegen erheblicher Behinderung für ihren Sohn ***2*** ***3*** ***4***, geb. ***5***, ab dem Zeitpunkt des Eintrittes der erheblichen Behinderung, den die/der medizinische Sachverständige feststellt im Höchstausmaß rückwirkend fünf Jahre ab Antragstellung.

Die Bf. führte aus, dass ihr Sohn zusätzlich zur Schulmedizin auf Grund einiger Defizite bzw. gesundheitlicher Probleme seit Geburt an, immer wieder Therapien gemacht habe und sie noch immer vermehrt in einigen Bereichen mache, wie Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie, etc.

Vorgelegt wurde der Entlassungsbericht der Neo.-Päd Intensivstation, Landesklinikum St. Pölten vom ***6***2012, der Ergebnisbericht und Empfehlungen betreffend eine Testung zentraler auditiver Reizverarbeitung von ***2*** ***4*** von der ADHS Trainerin ***7*** vom , und eine Honorarnote, das Pädagogisches Gutachten für ***2*** ***4*** von der Diplomierten Legasthenie- und Dyskalkulietrainerin ***8*** vom , die Honorarnote für einer Cranio Sacral Behandlung vom von Dr. ***9*** und eine Honorarnote des Kinderarztes.

Das Finanzamt ersuchte das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen ein Sachverständigengutachten nach der Einschätzungsverordnung für ***2*** ***3*** ***4*** zu erstellen.

Am wurde das folgende Gutachten erstellt:

"Anamnese:

Es erfolgt die erstmalige Beantragung der erhöhten Familienbeihilfe; bei dem aktuell 8- jährigen ***2*** besteht folgende Anamnese: Zustand nach Frühgeburt der 28.SSW per Sectio wegen pathologischem CTG, intrauterine Wachstumsretardierung (3.Perzentile), Geburtsgewicht 690 Gramm, Apgar 8/10/10; neonatologische Behandlung für die ersten 9 Lebenswochen, nach anfänglich erforderlicher Atemhilfe mittels Infant-Flow für die ersten 3 Lebenswochen noch Sauerstoffbedarf bis zur 4.Lebenswoche, dann unter Raumluft stabil; kein Katecholaminbedarf, keine neurologischen Auffälligkeiten, problemloser Nahrungsaufbau It. vorliegendem Entlassungsbrief des KH St.Pölten, Neonatologie aus 06/2012; häufige Entwicklungskontrollen im KH St.Pölten in den ersten Lebensjahren; anfänglich Physiotherapie, dann Logopädie (It. Mutter mit 1.Klasse Volksschule abgeschlossen), später Ergotherapie im Amb. Grainbrunn; It. vorliegendem entwicklungspsychologischem Befund aus 01/2018 verlief ***2***'s Entwicklung damals trotz Frühgeburtlichkeit in vielen Bereichen altersentsprechend, Schwierigkeiten im Bereich Verarbeitungsgeschwindigkeit in Kombination mit graphomotorischen Übungen; seit Geburt It. Mutter außerdem chronische Obstipation (hierzu keine Unterlagen vorliegend);

Derzeitige Beschwerden:

Bezüglich der angegebenen chronischen Obstipation erhalte ***2*** aktuell Movicol und Alternativtherapien, es wurde eine Abklärung im SMZ-Ost/Kinderchirurgie empfohlen - diese ist bis dato noch nicht erfolgt; er habe bei chronischer Obstipation oft bis zu 1-2 Wochen keinen Stuhlgang, dann Überlaufenkopresis; es bestehen Gedeihprobleme, ***2*** esse fallweise weniger, v.a. wenn er schon länger keinen Stuhl hatte; ***2*** habe nun die 2.Klasse Volksschule abgeschlossen, soll im Herbst in die 3.Klasse kommen; in der Klasse sei er eher unruhig, sei oft der "Pausenclown" It. Mutter; es bestünden Probleme in Mathematik; bei einer Testung bei Fr. ***14*** (Legasthenie-u. Dyskalkulietrainerin) wurde eine Dyskalkulie festgestellt und ein entsprechendes Dyskalkulietraining eingeleitet; weiters Probleme der Konzentration u. Aufmerksamkeit, es soll diesbezüglich It. Mutter ein schulpsychologisches Gutachten erstellt werden; in der Praxis "Stehaufmännchen" zeigten sich bei einer Testung Probleme der zentralen auditiven Reizverarbeitung, woraus It. Befund die Lernschwierigkeiten ***2*** resultieren sollen; es werde gemäß Empfehlung daheim ein Brainboy-Training durchgeführt; ***2*** habe einzelne Freunde, sei in der Kontaktaufnahme zu Gleichaltrigen aber eher zurückhaltend;

Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:

Dyskalkulietraining seit Frühjahr 2020; Craniosakraltherapie, Vitalanalyse; Konzentrationstraining mit Brainboy; Movicol;

Sozialanamnese:

***2*** kommt mit seiner Mutter zum Untersuchungstermin; er sei das einzige Kind seiner Eltern und lebt im Familienverband; die Mutter habe 2016 eine Brustkrebserkrankung gehabt;

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):

2012-06-13 KH St.Pölten, Kinderabteilung/Neonatologie:
Entlassungsbericht: Diagnosen u. Verlauf siehe Anamnese
2015-08-03 Ambulatorium Grainbrunn:
Ärztl.Kurzbrief: Z.n.FG 28+1, Dyslalie, Knicksenkfüsse bds.; -> Logopädie
2018-01-30 KH St.Pölten, Kinderabteilung:
Psychologischer Befund: Ergebnis siehe Anamnese
2020-05-12 Praxis Stehaufmännchen,
***7***, Gänserndorf:
Testung / Untersuchung auf typische zentrale Automatisierungsfähigkeiten im Hören,
Sehen und in der Motorik. Ergebnis u. Empfehlung siehe Anamnese
2020-05-22
***7*** ADHS Therapie, 1200 Wien:
Zahlungsbestätigung/Honorarnote, Therapieplanung
2020-06-15 Fr. ***14***, Legasthenie-u. Dyskalkulietrainer, Gösing;
Pädagogisches Gutachten: Sinneswahrnehmungstraining empfohlen, Symptomtraining in Mathematik;
2020-06-18 Fr. Kronberger, Energethikerin - Kinesiologin, Rohrendorf:
Rechnung f. Craniosakraltheraphie
Untersuchungsbefund:
Allgemeinzustand: gut
Ernährungszustand: zart
Größe: 135,00 cm Gewicht: 22,00 kg Blutdruck:
Status (Kopf / Fußschema) - Fachstatus:
Größe altersentsprechend, Gewicht an 3.Perzentile, intern im übrigen unauffällig Gesamtmobilität-Gangbild: Gangbild unauffällig, alle Extremitäten frei beweglich Psycho(patho)logischer Status:

***2*** wirkt motorisch unruhig, spricht kaum von sich aus; er zeigt sich kooperativ und freundlich bei der Untersuchung; er fahre gerne Rad, Hoverboard; habe Tennis, Karate probiert, er sei It. Mutter nicht für Mannschaftssport geeignet; möge gern Handyspiele;

Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:

Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:
Chronische Obstipation/Überlaufenskopresis - hiezu keine fachärztlichen Befunde vorliegend

Stellungnahme zur Vorgutachten:

Der festgestellte Grad der Behinderung wird voraussichtlich mehr als 3 Jahre andauern-
GdB liegt vor seit:04/2012

Begründung - GdB rückwirkend vor:
Rückwirkend Anerkennung eines GdB von 30% ab Geburt möglich, da seither immer wieder Förder- und Therapiemaßnahmen erforderlich.
Dauerzustand
Gutachten erstellt am "

Das Finanzamt wies den Antrag mit dem im gegenständlichen Verfahren angefochtenen Abweisungsbescheid vom ab und führt begründend aus:

"Da in der vom Sozialministeriumservice vorgelegten Bescheinigung vom der Grad der Behinderung mit weniger als 50% festgestellt wurde, ist ihr Antrag auf Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe abzuweisen."

Die Bf. brachte fristgerecht den Vorlageantrag ein und führte begründend aus:

"Ich erhebe Beschwerde (Einspruch) gegen den Abweisungsbescheid () meines Ansuchens vom auf "erhöhte Familienbeihilfe".

Mein Sohn ***2*** kam in der 28. SSW mit 690g zur Welt und es Bedarf seit seiner Geburt an Therapien, womit wir ihn bestmöglich in seiner Entwicklung unterstützen.

Therapien: - regelmäßige Entwicklungskontrollen im Krankenhaus St. Pölten auf Grund der Frühgeburt
- Physiotherapie
- Logopädie
- Konzentrationsergotherapiegruppe
- Austestung auf Konzentrationsstörung u. Sinneswahrnehmung, Hören und Sehen bei Frau ***7***
- Gutachten über die Feststellung von Sinnenwahrnehmungsstörung und ausgeprägte Dyskalkulie, derzeit in laufender Behandlung
- seit Geburt an leidet ***2*** an einer chronischen Obstipation, zur Behandlung wurden viele Therapien unternommen, immer wieder Cranio Sacral, Kinesologie, Vitalfeldtherapie laufend usw. Therapie vom Kinderarzt mit Movicol usw., leider führt bis jetzt nichts zum gewünschten Erfolg, sodass ***2*** dadurch sehr beeinträchtigt ist. (Arztbefund von Kinderarzt Dr. ***15*** siehe Beilage)
- Sozialanamnese: Ich, ***Bf1***, war 2016 an Brustkrebs erkrankt, es folgten viele Spitalsaufenthalte, das hat ***2*** auch sehr belastet
Seitens der Volksschule wurde ein Schulpsychologisches Gutachten angeordnet, dieses findet am statt, dieses Gutachten reiche ich Ihnen schnellstmöglich nach.***2*** hat einen Termin zur psychologischen Begutachtung bei Herrn Dr. ***10*** (Kinder- und Jugendpsychiater) am , dieses Gutachten werde ich Ihnen natürlich auch übermitteln!

Ich bitte um erneute Prüfung meines Ansuchens auf "erhöhte Familienbeihilfe", mit dem baldigen Vorliegen des Schulpsychologischen Gutachtens und des psychologischen Gutachtens von Herrn Dr. ***11***.

***2*** erhaltet noch immer regelmäßige Therapien zur Behandlung der chronischen Obstipation, Sinneswahrnehmungsstörung, Konzentrationsstörung und ausgeprägter Dyskalkulie, wo wir um finanzielle Unterstützung bitten um diese Therapien so lange als Möglich weiter zu führen und ihn dabei bestmöglich unterstützen zu können!"

Das Finanzamt ersuchte das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen um ein weiteres Sachverständigengutachte (mit Untersuchung) nach der Einschätzungsverordnung.

Die Untersuchung erfolgte am .
Das Gutachten nahm auf das Vorgutachten vom Bezug, berücksichtigte allerdings auch auf die psychosomatische Reaktion des Kindes auf die Tumorerkrankung der Mutter.

"Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):

(1) Schulpsychologisches Gutachten vom (Fr. Mag.a ***15***):

Zusammenfassung und Empfehlungen:

Zum aktuellen Untersuchungszeitpunkt fällt die allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit leicht unterdurchschnittlich aus. Individuelle Schwächen sind in der kurzfristigen akustischen Merkfähigkeit und im logisch-schlussfolgernden Denken feststellbar. Im Rechentest ergeben sich eine leicht unterdurchschnittliche Gesamtleistung und eine massive Überschreitung der Arbeitszeit. Hierfür können sowohl inadäquate Bearbeitungsstrategien als auch Konzentrationsprobleme verantwortlich sein. Aus schulpsychologischer Sicht liegt eine leichte Rechenschwäche vor. Eine spezifische Förderung der allgemeinen Lernentwicklung sowie der Rechenfähigkeiten. (Lerntraining) wird empfohlen.

(2) Klinsch.psychologischer Befund vom (Fr. Mag.a. Dr.in ***12*** - Krems):

Diagnose (ICD-10), multiaxial:
Achse 1: F98.8 emotionale und Verhaltensstörung mit wenig Selbstvertrauen, Angst,
Enkopresis; F90.0 einfache Aktivitäts- und Aufinerksamkeitsstörung ("ADHS")
Achse 2: F81.2 Rechenschwäche (laut schulpsychologischem Befund vom
Achse 3: leicht unterdurchschnittliche Intelligenz (laut schulpsychologischem Befund vom
)
Achse 4: St. p. Frühgeburtlichkeit SSW 28; Obstipation, Verdauungsprobleme
Achse 5: schwere Karzinomerkrankung der Mutter 2016-2019
Achse 6: 2, leichte soziale Beeinträchtigung
Die Ergebnisse werden mit der Familie besprochen, es erfolgt eine Psychoedukation und Beratung zur Förderung von innerer Sicherheit, Mut und hinsichtlich des Stuhlverhaltens bzw. der Enkopresis und bezüglich der Förderung der Aufmerksamkeit (inklusive Aufmerksamkeitstraining, Neurofeedback, Medikation, Nahrungsergänzung), wobei bereits eine Lerntherapie bei Frau ***8*** stattfindet und konzentrations-und aufinerksamkeitsfördernde Elemente in der Dyskalkulietherapie Platz finden können. Die Familie wird mit dem Befund erneut bei Dr. ***11*** vorstellig. Ich empfehle eine psychotherapeutische Behandlung mit systemischer Familientherapie. ....
Untersuchungsbefund:

Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:
Leiden 1 wird durch Leiden 2 nicht weiter negativ beeinflusst
Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlage diagnostizierten Gesundheitsschädigung erreichen keinen Grad der Behinderung:
Stellungnahme zu Vorgutachten:
Erhöhung des Gesamt-GdB um 2 Stufen bei neudefiniertem Leiden 1; Leiden 2 (vormals Leiden 1) bleibt im Wesen und Einschätzung gleich.
Der festgestellte Grad der Behinderung wird voraussichtlich mehr als 3 Jahre andauern.
GdB liegt vor seit: 12/2020
GdB 30 liegt vor seit 04/2012
..."

Das Finanzamt gab der Beschwerde mit Beschwerdevorentscheidung statt, und hob den angefochtenen Bescheid auf.
Begründend wies das Finanzamt auf das vorstehend angeführte Gutachten vom .

Die Bf. brachte Beschwerde (Vorlageantrag) am fristgerecht ein und stellte den Antrag um 5-jährige rückwirkende Zuerkennung der erhöhten Familienbeihilfe.

Begründend führte die Bf. gleichlautend wie in der Beschwerde aus und führte allerdings ergänzend aus, dass sie im Jahr 2016 an Brustkrebs erkrankt sei mit vielen Spitalsaufenthalten, was ihren Sohn psychisch sehr belastet habe, was der psychologische Befund von Frau Mag. Dr. Edith ***12*** vom feststellte.

Ergänzend zu den bereits von der Bf. im Zuge des Beschwerdeverfahrens vorgelegten Befunde wurden der Klinisch-psychologische Befundbericht vom , der Schulpsychologische Kurzbericht vom , die Psychologische Befunde der Universitätsklinikum St. Pölten vom und vom vorgelegt.

Das Finanzamt legte den Antrag auf Vorlage der Beschwerde dem Bundesfinanzgericht vor und führt aus, dass der Grundlage der Entscheidung die Sachverständigengutachten vom und herangezogen worden seien.

Da laut diesen Gutachten ein Gesamtgrad der Behinderung vom 50% erst ab 12/2020 vorliege, seien die gesetzlichen Voraussetzungen für den Zeitraum 06/2015 bis 11/2020 für den Bezug des Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe nicht gegeben.

Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin beantragte am die Zuerkennung der erhöhten Familienbeihilfe für ihren Sohn ***2*** ***3*** ***4***, geb. am ***6***2020, rückwirkend für 5 Jahre.

Im Hinblick auf diesen Antrag wurde vom Sozialministeriumservice über Anforderung der Abgabenbehörde 2-mal ein Sachverständigengutachten erstellt (Gutachten vom und Gutachten vom ). Hinsichtlich des Inhaltes dieser Gutachten wird auf die Ausführungen unter Punkt I. verwiesen.

Laut den Gutachten liegt der Grad der Behinderung des Sohnes seit ***6*** mit 30 % vor; seit 12/2020 mit 50%.

Beweiswürdigung und rechtliche Beurteilung

Gemäß § 2 Abs. 1 lit. a FLAG 1967 haben Personen, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, Anspruch auf Familienbeihilfe für minderjährige Kinder.

Zufolge des § 8 Abs. 4 FLAG 1967 erhöht sich monatlich die Familienbeihilfe für jedes Kind, das erheblich behindert ist, um den in dieser Bestimmung genannten Betrag.

Als erheblich behindert gilt gemäß § 8 Abs. 5 FLAG 1967 ein Kind, bei dem eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung besteht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von voraussichtlich mehr als drei Jahren. Der Grad der Behinderung muß mindestens 50 vH betragen, soweit es sich nicht um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Für die Einschätzung des Grades der Behinderung sind § 14 Abs. 3 des Behinderteneinstellungsgesetzes,BGBl. Nr. 22/1970, in der jeweils geltenden Fassung, und die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung) vom , BGBl. II Nr. 261/2010, in der jeweils geltenden Fassung anzuwenden. Die erhebliche Behinderung ist spätestens nach fünf Jahren neu festzustellen, soweit nicht Art und Umfang eine Änderung ausschließen.

Der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, ist gemäß § 8 Abs. 6 FLAG 1967 durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen. Die diesbezüglichen Kosten sind aus Mitteln des Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen zu ersetzen.

Die Erhöhung der Familienbeihilfe für ein erheblich behindertes Kind (§ 8 Abs. 4) ist gemäß § 10 Abs. 1 FLAG 1967 besonders zu beantragen.

Die Familienbeihilfe und die erhöhte Familienbeihilfe für ein erheblich behindertes Kind (§ 8 Abs. 4) werden gemäß § 10 Abs. 3 FLAG 1967 höchstens für fünf Jahre rückwirkend vom Beginn des Monats der Antragstellung gewährt. In bezug auf geltend gemachte Ansprüche ist § 209 Abs. 3 der Bundesabgabenordnung,BGBl. Nr. 194/1961, anzuwenden.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist das nach § 8 Abs. 6 FLAG 1967 abzuführende qualifizierte Nachweisverfahren durch ein ärztliches Gutachten zu führen (vgl. , , mit Hinweis auf ). Wie das Höchstgericht in seiner Judikatur zu § 8 Abs. 6 FLAG 1967 dargetan hat, ist die Beihilfenbehörde (gilt auch für das Bundesfinanzgericht) bei ihrer Entscheidung an die den Bescheinigungen des Bundessozialamtes (nunmehr Sozialministeriumservice) zugrunde liegenden Gutachten gebunden und darf diese nur insoweit prüfen, ob sie schlüssig und vollständig sind und einander nicht widersprechen (vgl. z.B. , ).

Im Rahmen des gegenständlichen Antrags- bzw. Beschwerdeverfahrens wurden vom Sozialministeriumservice 2 Sachverständigengutachten erstellt.

Im 1.Gutachten vom diagnostizierte die Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde Entwicklungsauffälligkeiten (Dyskalkulie, Probleme der Aufmerksamkeit und Konzentration), Gedeihprobleme bei Zustand nach Frühgeburt 28.SSW, Z.n. intrauteriner Wachstumsretardierung, Wahl dieser Position bei Beeinträchtigung in mehreren Entwicklungsbereichen bei insgesamt gutem Verlauf bei Frühgeburtlichkeit. Lt. Befund, 2 Stufen über dem unteren Rahmensatz, da seit Geburt Fördermaßnahmen erforderlich sind; unter die Richtsatzposition der Einschätzungsverordnung vom , BGBl. II Nr. 261/2010, ein.

Den Gesamtgrad der Behinderung bescheinigte sie mit 30 % (voraussichtlich mehr als 3 Jahre anhaltend) rückwirkend ab Geburt 04/2012.

Im 2. Gutachten vom erstellte der Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde die Diagnose zu der bereits im vorhergehenden Gutachten diagnostizierten Entwicklungsstörung eine Posttraumatische Belastungsstörung - somatoforme Störung bei Z.n. schwerer Tumorerkrankung der Mutter
Unterer Rahmensatz - eine Psychotherapie wurde bereits eingeleitet; Pharmakotherapie zur Zeit noch fraglich. Richtsatzposition 03.95.02 mit GdB 50%.

Daher ergebe sich eine Änderung des Gesamtgrades der Behinderung im Vergleich zum Vorgutachten.
Begründend wurde ausgeführt, dass die Erhöhung des Gersamt-GdB um 2 Stufen bei neudefiniertem Leiden 1; Leiden 2 (vormals Leiden 1) bleibt im Wesen und in der Einschätzung gleich.

Dieses Gutachten stellte den GdB mit 50% ab 12/2020 fest.

Das Bundesfinanzgericht hat unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse des Abgabenverfahrens nach freier Überzeugung zu beurteilen, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen ist oder nicht (§ 167 Abs. 2 BAO). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. für viele ) ist von mehreren Möglichkeiten jene als erwiesen anzunehmen, die gegenüber allen anderen Möglichkeiten eine überragende Wahrscheinlichkeit für sich hat und alle anderen Möglichkeiten ausschließt oder zumindest weniger wahrscheinlich erscheinen lässt.

Der Verfassungsgerichtshof hat im Erkenntnis , ausgeführt, dass sich aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 8 Abs. 6 FLAG ergebe, dass der Gesetzgeber nicht nur die Frage des Grades der Behinderung, sondern (bereits seit 1994) auch die (damit ja in der Regel unmittelbar zusammenhängende) Frage der voraussichtlich dauernden Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, der eigenständigen Beurteilung der Familienbeihilfenbehörden entzogen und dafür ein qualifiziertes Nachweisverfahren eingeführt habe, bei dem eine für diese Aufgabenstellung besonders geeignete Institution eingeschaltet werde und der ärztliche Sachverstand die ausschlaggebende Rolle spiele. Dem dürfte die Überlegung zugrunde liegen, dass die Frage, ob eine behinderte Person voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, nicht schematisch an Hand eines in einem bestimmten Zeitraum erzielten Einkommens, sondern nur unter Berücksichtigung von Art und Grad der Behinderung bzw. der medizinischen Gesamtsituation der betroffenen Person beurteilt werden könne. Damit könne auch berücksichtigt werden, dass gerade von behinderten Personen immer wieder - oft mehrmals - Versuche unternommen werden, sich in das Erwerbsleben einzugliedern, bei denen jedoch die hohe Wahrscheinlichkeit bestehe, dass sie aus medizinischen Gründen auf längere Sicht zum Scheitern verurteilt sein würden. Der Gesetzgeber habe daher mit gutem Grund die Beurteilung der Selbsterhaltungsfähigkeit jener Institution übertragen, die auch zur Beurteilung des Behinderungsgrades berufen sei. Die Beihilfenbehörden hätten bei ihrer Entscheidung jedenfalls von dieser durch ärztliche Gutachten untermauerten Bescheinigung auszugehen und könnten von ihr nur nach entsprechend qualifizierter Auseinandersetzung abgehen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seiner Rechtsprechung (sh. zB , und ) der Rechtsansicht des Verfassungsgerichtshofes angeschlossen; daraus folgt, dass auch das Bundesfinanzgericht für seine Entscheidungsfindung die ärztlichen Sachverständigengutachten heranzuziehen hat, sofern diese als schlüssig anzusehen sind. Es ist also im Rahmen dieses Beschwerdeverfahrens zu überprüfen, ob die erstellten Sachverständigengutachtendiesem Kriterium entsprechen.

Das Bundesfinanzgericht hat daher von den erstellten Bescheinigungen grundsätzlich auszugehen und kann von diesen nur nach einer entsprechenden qualifizierten Auseinandersetzung im Sinne des § 167 BAO abgehen.

Ein Gutachten zu der vorliegenden Sachfrage ist die begründete Darstellung von Erfahrungssätzen und die Ableitung von Schlussfolgerungen für die tatsächliche Beurteilung eines Geschehens oder Zustands auf der Basis des objektiv feststellbaren Sachverhaltes durch einen oder mehrere Sachverständige. Sachverständige haben dabei fundierte und wissenschaftlich belegbare konkrete Aussagen zu treffen und dürfen ihre Beurteilung und Feststellungen nicht auf Spekulationen, sondern ausschließlich auf die festgestellten Tatsachen verbunden mit ihrem fachspezifischen Wissen stützen. Alleine die Möglichkeit, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmter Sachverhalt vorgelegen sein könnte, reicht dabei keinesfalls aus, diesen Sachverhalt gutachterlich als gegeben anzusehen und zu bestätigen.

Das Bundesfinanzgericht geht in freier Beweiswürdigung davon aus, dass die von Dr. ***16***, Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde, die in seinem Gutachten (2. Gutachten) vom getroffenen Feststellungen mit der größten Wahrscheinlichkeit den Tatsachen entsprechen.

Weder für die Einholung eines weiteren Gutachtes, insbesondere hinsichtlich der vorliegend zu beurteilenden rückwirkenden Feststellungen, noch für eine der durch die Gutachten rückwirkend vorgenommene Einschätzung abweichende Beurteilung bestand vor dem Hintergrund der oben besprochenen Befund-/Aktenlage ein begründeter Anlass (vgl. zur Ergänzung von Gutachten das Erkenntnis des /0009).

Im gegenständlichen Fall sieht daher das Bundesfinanzgericht im Hinblick auf die vorliegenden Sachverständigengutachten, die schlüssig und nachvollziehbar sind, es als erwiesen an, dass ein Gesamtgrad der Behinderung von 50 % erst ab 12/2020 gegeben ist. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der erhöhten Familienbeihilfe sind daher ab 12/2020 erfüllt.

3. Revision

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Im vorliegenden Fall ist die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängig,der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Eine Revision ist daher nicht zulässig.

Wien, am

Zusatzinformationen


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Materie
Steuer
FLAG
betroffene Normen
Verweise
ECLI
ECLI:AT:BFG:2021:RV.7100300.2021

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at