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Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 12.09.2023, RV/5100399/2022

Haushaltszugehörigkeit bzw. überwiegende Unterhaltskostentragung

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter ***Ri*** in der Beschwerdesache ***Bf.***, über die Beschwerde vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Österreich vom , Ordnungsbegriff: ***OB***, betreffend die Rückforderung von Familienbeihilfe und Kinderabsetzbeträgen für die Zeiträume Juli 2016 bis Juli 2020 zu Recht erkannt:

I. Der Beschwerde wird Folge gegeben.
Der angefochtene Bescheid wird gemäß § 279 Bundesabgabenordnung (BAO) aufgehoben.

II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

Mit dem angefochtenen Bescheid vom forderte das Finanzamt unter Verweis auf die Bestimmungen des § 26 Abs. 1 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG 1967) und § 33 Abs. 3 Einkommensteuergesetz 1988 (EStG 1988) Familienbeihilfe und Kinderabsetzbeträge in der Höhe von insgesamt 20.782,80 Euro (FB: 15.059,60 Euro; KG: 5.723,20 Euro) zurück, welche die Beschwerdeführerin (Bf.) für ihre Kinder ***K1***, VNR: ***001***, und ***K2***, VNR: ***002***, für die Zeiträume Juli 2016 bis Juli 2020 bezogen hatte.
Dies mit der Begründung, dass sich zum einen die Kinder der Bf. nicht ständig in Österreich aufhalten würden und daher die Familienbeihilfe gemäß § 5 Abs. 3 FLAG 1967 der Bf. nicht zustehe, und zum anderen die Bf. den Mittelpunkt der Lebensinteressen in Österreich habe, ihre Kinder jedoch in Deutschland und somit kein gemeinsamer Haushalt bestehe.

Die dagegen eingebrachte Beschwerde wies das Finanzamt mit Beschwerdevorentscheidung vom als unbegründet ab. Dies im Wesentlichen mit der Begründung, dass laut einem beim Finanzamt am eingelangten Schreiben der Bf. diese ein Haus in Deutschland besitze, wo ihre Kinder - mittlerweile mit deren Freund und Freundin - leben würden. Der Lebensmittelpunkt der Bf. befinde sich allerdings in Österreich. Sie arbeite in Österreich, kaufe dort ein, gehe zu Ärzten in Österreich und verbringe auch die überwiegende Zeit in Österreich. Da somit kein gemeinsamer Haushalt mit ihren Kindern bestehe, sei die Beschwerde abzuweisen, da kein Anspruch auf Familienbeihilfe bestehe.

Die Bf. beantragte in der Folge die Entscheidung über die Beschwerde durch das Bundesfinanzgericht (Vorlageantrag).

Das Finanzamt legte daraufhin die Beschwerde mit Vorlagebericht vom dem Bundesfinanzgericht vor.

II. Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

1. Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin (Bf.) und ihre im angefochtenen Bescheid genannten Kinder sind deutsche Staatsangehörige. Der Vater der Kinder ist unbekannt. Die Bf. ist seit verheiratet mit dem österreichischen Staatsangehörigen ***EG***. Sowohl die Bf. als auch ihr Ehegatte waren im Rückforderungszeitraum in Österreich nichtselbständig erwerbstätig und nach den Eintragungen im Zentralen Melderegister mit Hauptwohnsitz in Österreich, in ***AdrÖ***, gemeldet. Sie waren im Streitzeitraum auch Miteigentümer zu gleichen Teilen einer in Deutschland gelegenen Liegenschaft samt Wohnhaus, wo sich die Kinder der Bf. ständig aufhielten.
Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte oder Feststellungen besteht kein Grund zur Annahme, dass die Bf. die Unterhaltskosten für ihre im angefochtenen Bescheid genannten Kinder nicht überwiegend getragen hat.
Die Bf. bezog in den Zeiträumen Juli 2016 bis Juli 2020 Familienbeihilfe und Kinderabsetzbeträge in der Höhe von insgesamt 20.782,80 Euro (FB: 15.059,60 Euro; KG: 5.723,20 Euro) für ihre Kinder. In Deutschland wurden keine Familienleistungen bezogen.

2. Rechtslage

Gemäß § 2 Abs. 1 lit. a Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG 1967) in der für den Beschwerdefall maßgebenden Fassung haben Personen, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, Anspruch auf Familienbeihilfe für minderjährige Kinder.

Anspruch auf Familienbeihilfe für ein im Abs. 1 genanntes Kind hat die Person, zu deren Haushalt das Kind gehört. Eine Person, zu deren Haushalt das Kind nicht gehört, die jedoch die Unterhaltskosten für das Kind überwiegend trägt, hat dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn keine andere Person nach dem ersten Satz anspruchsberechtigt ist (§ 2 Abs. 2 FLAG 1967).

Nach Abs. 3 leg. cit sind im Sinne dieses Abschnittes Kinder einer Person
a) deren Nachkommen,
b) deren Wahlkinder und deren Nachkommen,
c) deren Stiefkinder,
d) deren Pflegekinder (§§ 186 und 186a des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches).

Die Kosten des Unterhalts umfassen bei minderjährigen Kindern auch die Kosten der Erziehung und bei volljährigen Kindern, die für einen Beruf ausgebildet oder in ihrem Beruf fortgebildet werden, auch die Kosten der Berufsausbildung oder der Berufsfortbildung (§ 2 Abs. 4 FLAG 1967).

Gemäß § 2 Abs. 5 FLAG 1967 gehört ein Kind zum Haushalt einer Person dann, wenn es bei einheitlicher Wirtschaftsführung eine Wohnung mit dieser Person teilt. Die Haushaltszugehörigkeit gilt nicht als aufgehoben, wenn
a) sich das Kind nur vorübergehend außerhalb der gemeinsamen Wohnung aufhält,
b) das Kind für Zwecke der Berufsausübung notwendigerweise am Ort oder in der Nähe des Ortes der Berufsausübung eine Zweitunterkunft bewohnt,
c) sich das Kind wegen eines Leidens oder Gebrechens nicht nur vorübergehend in Anstaltspflege befindet, wenn die Person zu den Kosten des Unterhalts mindestens in Höhe der Familienbeihilfe für ein Kind beiträgt; handelt es sich um ein erheblich behindertes Kind, erhöht sich dieser Betrag um den Erhöhungsbetrag für ein erheblich behindertes Kind (§ 8 Abs. 4).

Gehört ein Kind zum gemeinsamen Haushalt der Eltern, so geht der Anspruch des Elternteiles, der den Haushalt überwiegend führt, dem Anspruch des anderen Elternteiles vor. Bis zum Nachweis des Gegenteils wird vermutet, dass die Mutter den Haushalt überwiegend führt (§ 2a Abs. 1 FLAG 1967).

Wer Familienbeihilfe zu Unrecht bezogen hat, hat gemäß § 26 Abs. 1 FLAG 1967 die entsprechenden Beträge zurückzuzahlen.

Gemäß § 53 Abs. 1 FLAG 1967 sind Staatsbürger von Vertragsparteien des Übereinkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), soweit es sich aus dem genannten Übereinkommen ergibt, in diesem Bundesgesetz österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt. Hiebei ist der ständige Aufenthalt eines Kindes in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums nach Maßgabe der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen dem ständigen Aufenthalt eines Kindes in Österreich gleichzuhalten.

Gemäß § 33 Abs. 3 Einkommensteuergesetz 1988 (EStG 1988) steht Steuerpflichtigen, denen auf Grund des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967 Familienbeihilfe gewährt wird, im Wege der gemeinsamen Auszahlung mit der Familienbeihilfe ein Kinderabsetzbetrag von monatlich 58,40 Euro für jedes Kind zu. Wurden Kinderabsetzbeträge zu Unrecht bezogen, ist § 26 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967 anzuwenden.

Die im Beschwerdefall maßgeblichen Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1, im Folgenden Verordnung (EG) Nr. 883/2004) lauten auszugsweise:

"Artikel 1

Für Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:

...

i) "Familienangehöriger":

1. i) jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, als Familienangehöriger bestimmt oder anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet wird;"

"Artikel 2

Persönlicher Geltungsbereich

Diese Verordnung gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen."

"Artikel 4

Gleichbehandlung

Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates."

"Artikel 7

Aufhebung der Wohnortklauseln

Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat."

"Artikel 11

Allgemeine Regelung

(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(2) Für die Zwecke dieses Titels wird bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen, davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben. Dies gilt nicht für Invaliditäts-, Alters- oder Hinterbliebenenrenten oder für Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten oder für Geldleistungen bei Krankheiten, die eine Behandlung von unbegrenzter Dauer abdecken.

(3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:

a) eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

b) ..."

"Artikel 67

Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen

Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Ein Rentner hat jedoch Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des für die Rentengewährung zuständigen Mitgliedstaats."

Artikel 60 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (im Folgenden Verordnung Nr. 987/2009) lautet:

"Artikel 60

(1) Die Familienleistungen werden bei dem zuständigen Träger beantragt. Bei der Anwendung von Artikel 67 und 68 der Grundverordnung ist, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf die Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr, berücksichtigt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind, einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem anderen Elternteil, einer als Elternteil behandelten Person oder von der Person oder Institution, die als Vormund des Kindes oder der Kinder handelt, gestellt wird."

3. Beweiswürdigung und rechtliche Beurteilung

Vorerst ist festzuhalten, dass zwar nach § 5 Abs. 3 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG 1967) für Kinder, die sich ständig im Ausland aufhalten, kein Anspruch auf Familienbeihilfe besteht, allerdings die Anwendbarkeit des § 5 Abs. 3 FLAG 1967 im Wesentlichen auf Aufenthalte in sogenannten "Drittstaaten" eingeschränkt ist, und daher der Umstand, dass sich die Kinder der Bf. in Deutschland aufhalten, gemäß § 53 Abs. 1 FLAG 1967 iVm Art. 20 Abs. 1 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) einem Familienbeihilfenanspruch nicht entgegensteht.

Das Unionsrecht gewährleistet, dass den Familienangehörigen eines den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegenden Erwerbstätigen, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, die ihnen die in den anwendbaren Rechtsvorschriften des Staates der Erwerbstätigkeit vorgesehenen Familienleistungen gewährt werden. Die nach Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 iVm Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) 987/2009 vorzunehmende Fiktion bewirkt, dass die Wohnsituation auf Grundlage der im Streitzeitraum im anderen EU-Mitgliedstaat gegebenen Verhältnisse (fiktiv) ins Inland übertragen wird, und zwar iSd Art. 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 sowohl bei vorrangig als auch bei nachrangig geschuldeten Familienleistungen. Ist die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 anzuwenden, ist daher zu fingieren, dass sowohl die Voraussetzung des inländischen Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts (§ 2 Abs. 1 FLAG 1967) als auch die Voraussetzung des Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet (§ 2 Abs. 8 FLAG 1967) hinsichtlich aller Mitglieder der jeweiligen Familie ("beteiligten Personen") vorliegt, auch wenn einzelne oder alle Mitglieder dieser Familie tatsächlich in einem anderen Mitgliedstaat der Union (des EWR oder in der Schweiz) wohnen und dort ihren Lebensmittelpunkt haben (Wanke in Lenneis/Wanke (Hrsg.), FLAG2, § 3 Rz 182g mit Hinweisen auf die Judikatur).

Im Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 finden sohin die auf Wohnortklauseln beruhenden Bestimmungen des § 2 Abs. 1 FLAG 1967, welche den Familienbeihilfenbezug auf den Wohnort im Bundesgebiet abstellt, sowie des § 2 Abs. 8 FLAG 1967, welche auf den wesentlich durch den Wohnort bestimmten Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet abstellt, zufolge des Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und dessen Anwendungsvorrangs keine Anwendung (vgl. etwa ).

Im Beschwerdefall ist unstrittig, dass die Bf. und ihr Ehegatte gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchstabe a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 aufgrund deren Beschäftigung in Österreich den österreichischen Rechtsvorschriften unterliegen und daher Österreich für die Gewährung der Familienleistungen zuständig ist.

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat bereits ausgesprochen, dass die Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. L 166 vom , und (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. L 284 vom , nicht bestimmen, welche Personen Anspruch auf Familienleistungen haben, auch wenn sie die Regeln festlegen, nach denen diese Personen bestimmt werden können. Welche Personen Anspruch auf Familienleistungen haben, bestimmt sich, wie aus Art. 67 der VO 883/2004 klar hervorgeht, nach dem nationalen Recht (, mit Verweis auf , Tomislaw Trapkowski, Rn. 43-44).

§ 2 Abs. 2 FLAG 1967 stellt den Familienbeihilfenanspruch grundsätzlich auf die Haushaltszugehörigkeit mit einem Kind ab und subsidiär darauf, welche Person die Unterhaltskosten für das Kind überwiegend trägt.

Gemäß § 166 Bundesabgabenordnung (BAO) kommt als Beweismittel im Abgabenverfahren alles in Betracht, was zur Feststellung des maßgebenden Sachverhalts geeignet und nach Lage des einzelnen Falles zweckdienlich ist.

Gemäß § 167 Abs. 2 BAO hat die Abgabenbehörde unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse des Abgabenverfahrens nach freier Überzeugung zu beurteilen, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen ist oder nicht.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. für viele ) ist von mehreren Möglichkeiten jene als erwiesen anzunehmen, die gegenüber allen anderen Möglichkeiten eine überragende Wahrscheinlichkeit für sich hat und alle anderen Möglichkeiten ausschließt oder zumindest weniger wahrscheinlich erscheinen lässt.

In dem am beim Finanzamt eingelangten Schreiben der Bf., auf das im angefochtenen Bescheid Bezug genommen wird, heißt es u.a.:

"… In der ***AdrÖ*** befindet sich eine Wohnung, in der ich wohne - Österreich. In Deutschland habe ich ein Haus (***AdrD***) und es wird von mir als Zweitwohnsitz benutzt. In dem Haus leben meine Kinder, mittlerweile mit deren Freund und Freundin. Meine Kinder leben nur in Deutschland und nicht in Österreich, aus persönlichen Gründen, war immer jemand da, der auf sie aufgepasst hat. Ich benutze beide Wohnsitze. Wenn ich arbeite, bin ich in der ***AdrÖ***. An meinen freien Tagen bin ich im Haus in Deutschland - Garten, Grillen, Haus, Hund und natürlich wegen meiner Kinder. …
Mein Lebensmittelpunkt ist und bleibt Österreich. Ich arbeite in Österreich, kaufe ein in Österreich, gehe zu Ärzten in Österreich, habe auch in Österreich geheiratet. Die überwiegende Zeit befinde ich mich in Österreich, trotzdem benutze ich auch mein Haus in Deutschland, überwiegend wegen meiner Kinder auch, die in Deutschland zu Hause sind, und das möchte ich nicht ändern. …
"

In der Beschwerde wird u.a. vorgebracht: "… Ich habe zwei Wohnsitze, lebe mit den Kindern und kümmere mich um die Kinder auch in Deutschland. …"

Im Vorlageantrag heißt es u.a.: " … Einen gemeinsamen Wohnsitz mit meinen Kindern habe ich in Deutschland und habe für sie gekocht, geputzt, gesorgt und alles weitere … Es wurde immer bei der Antragstellung angegeben. Aus privaten Gründen musste ich meinen Wohnsitz trennen (Partner, Mitfahrgelegenheit für die Arbeit, …) und bin Hälfte hier und dort. Bei beiden Wohnsitzen handelt es sich um Eigentum, deswegen konnte ich das so machen. Ein gemeinsamer Haushalt besteht in Deutschland mit meinen Kindern. Aber ich lebe und arbeite auch in Österreich. Habe das immer angegeben. …"

Zum Haushalt einer Person gehört ein Kind gemäß § 2 Abs. 5 FLAG 1967 dann, wenn es bei einheitlicher Wirtschaftsführung eine Wohnung mit dieser Person teilt. Für den Anspruch auf Familienbeihilfe kommt es dabei in erster Linie auf die faktische Haushaltszugehörigkeit an. Nicht von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Meldung nach dem Meldegesetz, auf die sich die Beschwerdeführerin berufen hat. Polizeiliche Meldebestätigungen sind nicht geeignet, einen vollen Beweis über die tatsächlichen Verhältnisse zu liefern, ebenso wie das Unterbleiben einer polizeilichen Meldung kein unwiderlegbares Indiz dafür ist, dass das Kind nicht beim Anspruchswerber wohnt ( mit Hinweis auf ).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hängt die Beantwortung der Frage, mit welcher Person ein Kind die Wohnung im Sinne des § 2 Abs. 5 FLAG 1967 teilt, ganz wesentlich davon ab, in wessen Wohnung das Kind regelmäßig nächtigt, und zwar jedenfalls dann, wenn die betreffende Person die üblicherweise mit diesen Nächtigungen in Zusammenhang stehenden altersadäquaten Betreuungsmaßnahmen (z.B. Sorgetragung für morgendliche und abendliche Körperpflege oder Begleitung zur Schule) erbringt ().

Dass die im Rückforderungszeitraum teilweise (Sohn der Bf. bis 2018) oder zur Gänze (Tochter der Bf.) noch minderjährigen Kinder der Bf. im Streitzeitraum im Haus der Bf. in Deutschland wohnten und nächtigten, wird vom Finanzamt nicht in Abrede gestellt. Dass die Bf. die üblicherweise mit diesen Nächtigungen in Zusammenhang stehenden altersadäquaten Betreuungsmaßnahmen nicht erbracht hätte, wurde vom Finanzamt ebenfalls nicht festgestellt.

Was der Gesetzgeber unter "einheitlicher Wirtschaftsführung" im Sinne des § 2 Abs. 5 FLAG 1967 versteht, ist weder den Materialien zum Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (549 der Beilagen XI. GP), noch den Materialen zu den Vorläufergesetzen (45 der Beilagen VI. GP zum Kinderbeihilfengesetz vom , BGBl. Nr. 31/1950 und 419 der Beilagen VII. GP zum Familienlastenausgleichsgesetz vom , BGBl. Nr. 18/1955) zu entnehmen. Voraussetzung für die Haushaltszugehörigkeit eines Kindes ist nach herrschender Ansicht eine Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft. Eine einheitliche Wirtschaftsführung setzt voraus, dass die Kinder im Rahmen der dem Haushalt zur Verfügung stehenden Mittel entsprechend bedacht und damit der elterlichen (im gegenständlichen Fall: pflegeelterlichen) Obsorge teilhaft werden (vgl. ).

Hinweise, dass die Bf. die Kinder im Rahmen der dem Haushalt zur Verfügung stehenden Mittel im Streitzeitraum nicht entsprechend bedacht hätte und damit die Kinder nicht der elterlichen/mütterlichen Obsorge teilhaft geworden wären, liegen nicht vor.

Ob eine Person die Unterhaltskosten für ein Kind überwiegend getragen hat, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes einerseits von der Höhe der gesamten Unterhaltskosten für ein den Anspruch auf Familienbeihilfe vermittelndes Kind in einem bestimmten Zeitraum und andererseits von der Höhe der im selben Zeitraum von dieser Person tatsächlich geleisteten Unterhaltsbeträge ab (vgl. etwa ; , mwN).

Entsprechende Feststellungen, dass die Bf. nicht die laufenden Ausgaben für ihre Kinder im Rückforderungszeitraum getragen hätte, liegen im Beschwerdefall nicht vor.

Treffen sohin die Feststellungen in den Begründungen des angefochtenen Bescheides und der Beschwerdevorentscheidung zu (Lebensmittelpunkt der Bf. in Österreich, kein gemeinsamer Haushalt mit den Kindern in Deutschland), dann konnte der Familienbeihilfenanspruch der Bf. zwar nicht auf § 2 Abs. 2 Satz 1 FLAG 1967, jedoch aufgrund der überwiegenden Unterhaltskostentragung auf § 2 Abs. 2 Satz 2 FLAG 1967 gestützt werden. Es fehlen nämlich jegliche Anhaltspunkte dafür, dass die Bf. nicht die laufenden Ausgaben für ihre Kinder im Rückforderungszeitraum getragen hätte. Insoweit bedarf es auch einer Verdrängung der nationalen Bestimmung des Wohnsitzerfordernisses in § 2 Abs. 1 FLAG 1967 durch Art. 60 Abs. 1 zweiter Satz der VO 987/2009 nicht, um den Anspruch für die Kinder zu begründen (vgl. ).
Treffen die Feststellungen in den Begründungen des angefochtenen Bescheides und der Beschwerdevorentscheidung nicht zu und hielt sich die Bf. im Streitzeitraum überwiegend bei ihren Kindern in Deutschland auf, dann konnte der Familienbeihilfenanspruch der Bf. wegen der Zugehörigkeit der Kinder zum Haushalt der Bf. bereits auf § 2 Abs. 2 Satz 1 FLAG 1967 gestützt werden. Dann greift die Verdrängung des Wohnsitzerfordernisses in § 2 Abs. 1 FLAG 1967 für einen in § 2 Abs. 2 erster Satz FLAG 1967 genannten Anspruchsberechtigten.

Aus den angeführten Gründen war daher der Beschwerde Folge zu geben und der angefochtene Bescheid aufzuheben.

4. Zulässigkeit einer Revision

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Die (ordentliche) Revision ist im vorliegenden Fall nicht zulässig, weil keine zu lösende Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vorliegt. Das Bundesfinanzgericht ist in rechtlicher Hinsicht auch nicht von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.

Linz, am

Zusatzinformationen


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Materie
Steuer
FLAG
betroffene Normen
§ 2 Abs. 1 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
§ 2 Abs. 2 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
§ 2 Abs. 5 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
§ 2 Abs. 8 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
§ 5 Abs. 3 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
Art. 7 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 11 Abs. 3 Buchstabe a VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 67 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 60 Abs. 1 VO 987/2009, ABl. Nr. L 284 vom S. 1
ECLI
ECLI:AT:BFG:2023:RV.5100399.2022

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