Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 28.08.2023, RV/7102842/2023

Keine erhöhte Familienbeihilfe, wenn die Erwerbsunfähigkeit (wegen fehlender Befunde) nicht vor dem 21. Lebensjahr bescheinigt wurde

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter Dr. Wolfgang Pavlik über die Beschwerde der ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Österreich vom betreffend Abweisung des Eigenantrages auf Familienbeihilfe und des Erhöhungsbetrages ab Jänner 2016, zu Recht erkannt:

Die Beschwerde wird gemäß § 279 BAO als unbegründet abgewiesen.

Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) unzulässig.

Entscheidungsgründe

Verfahrensgang

Eigenantrag auf Gewährung der Familienbeihilfe und des Erhöhungsbetrages vom

Die Beschwerdeführerin (Bf), geb. 1983, beantragte am für sich selbst die Familienbeihilfe und den Erhöhungsbetrag rückwirkend ab Eintritt der Behinderung im Höchstausmaß von 5 Jahren.

Gutachten des Sozialministeriumservice vom

Die Bf wurde am von Dr.in Dok1, Fachärztin für Neurologie, Ärztin für Allgemeinmedizin, untersucht und das nachstehend angeführte Gutachten erstellt:

Sozialanamnese:
Invaliditätspension, Schulbildung: Volksschule Gymnasium Unterstufe fertig dann 2 Jahre HLA, Lehre versucht; Studienberechtigungsprüfung fertiggemacht, 1 Kind (lebt beim Vater), sie lebt allein:

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
Anton Proksch Institut -: psychische Verhaltensstörung durch multiplen Substanzgebrauch, Virushepatitis B, HIV Krankheit, cerebrale Toxoplasmose mit OP,
Dr. G., FA für Neurologie und Psychiatrie, : seit 2016 wiederholt in der Ordination F 31.9, G09, F90.0
Klinik Hietzing, : Polytoxikomanie im Substitol Programm chron. Heptatis C

Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:

Frau ***Bf1*** ist voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: JA

Dies besteht seit: 01/2016

Anmerkung bzw. Begründung betreffend die Fähigkeit bzw. voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: Ein kontinuierliches Arbeitsverhältnis wurde bis jetzt nicht erreicht.

Abweisungsbescheid vom

Das Finanzamt (FA) wies den Antrag unter Zugrundelegung der im Gutachten getroffenen Feststellungen mit Bescheid vom ab Jänner 2016 mit der Begründung ab, dass Anspruch auf Familienbeihilfe bestehe, wenn ein Kind voraussichtlich dauernd erwerbsunfähig sei. Die Erwerbsunfähigkeit müsse vor dem 21. Geburtstag oder während einer Berufsausbildung vor dem 25. Geburtstag eingetreten sein. Bei der Bf sei das nicht der Fall (Verweis auf § 2 Abs. 1 lit. c Familienlastenausgleichsgesetz 1967).

Das Sozialministeriumservice habe im Gutachten vom eine 60%-ige Behinderung ab Jänner 2016 festgestellt. Da die Erwerbsunfähigkeit jedoch nach dem 21. Lebensjahr eingetreten sei, müsse der Antrag auf erhöhte Familienbeihilfe abgewiesen werden.

Beschwerde vom

Die Bf brachte in ihrer Beschwerde vom vor, dass sie auf Grund ihrer Suchterkrankung sehr wohl schon vor dem 21. Lebensjahr erwerbsunfähig gewesen sei. Die Belege habe sie zum Zeitpunkt der Untersuchung noch nicht vorweisen können. Den Nachweis über ihre Erkrankung vor dem 18. Lebensjahr werde sie nachreichen.

Der Beschwerde war das Aufnahmeblatt vom vom Sozialmed. Zentrum Otto Wagner-Spital, Abteilung für Drogenabhängige, beigefügt, welches auszugsweise wiedergegeben wird:

"Die 19-jähr. Pat. kommt nach Vorankündigung von Prim. H. zur ersten stat. Aufnahme ho. als Krisenintervention. Es besteht eine Opiatabhängigkeit seit dem 16. LJ, in letzter Zeit war es zu einer zunehmenden depressiven Verstimmung mit Andehonie und auch Selbstmordgedanken gekommen. Nach Angaben der Patientin hat sie bereits eine Übernahme- und Kostenzusage durch die Zukunftsschmiede, wollte bislang jedoch die Langzeittherapie noch nicht antreten.

Drogenanamnese:
Kontakte zu Cannabis und LSD ab dem 15. LJ, ab dem 16. LJ gelegentlicher Kokaingebrauch, seit dem 16. LJ Heroingebrauch, zunächst nasal, danach i.v.

Somat. Anamnese:
Hepatitis-, HIV-Status nicht bekannt, nach Angaben der Pat. PVC-Allergie.

Psychiatrische Anamnese:
Seit der frühen Jugend selbstschädigende Tendenzen, so beschreibt die Pat., dass sie früher immer wieder mehrmals mit dem Kopf gegen die Wand gelaufen sei, in letzter Zeit würde sie sich im Rahmen des i.v. Konsums von Heroin auch mit den Injektionsnadeln multiple Stichverletzungen im Bereich der Unterarme zufügen. Daneben rezidivierende Spannungszustände, vermutlich auch Dysthymie.

Stationäre Entzüge:
Bislang keine, wiederholte Versuche kalt zu entziehen, welche angeblich problemlos verliefen, es kam jedoch zu raschen Rückfällen innerhalb weniger Tage…"

Gutachten des Sozialministeriumservice vom

Die Bf wurde auf Grund ihrer Beschwerde am neuerlich untersucht und von Dr.in Dok1, Fachärztin für Neurologie, Ärztin für Allgemeinmedizin das untenstehende Gutachten erstellt:

Anamnese:
In einem Vorgutachten 06/2022 wurde eine psychische Verhaltensstörung durch multiplen Substanzgebrauch, Virushepatitis B, HIV Krankheit, cerebrale Toxoplasmose mit OP mit 60% GdB bewertet.

GdB lag vor seit: 01/2016

Derzeitige Beschwerden:
Sie habe nun einen neuen Befund. Zwischen 2003 und 2016 war sie auf der Straße. Sie habe HIV bekommen. Sie sei immer wieder in Wohnungen untergekommen. In dieser Zeit war sie drogenabhängig und habe immer wieder versucht aufzuhören. Sie war bei Prim. H. in Behandlung aber da sie da auf der Straße war habe sie keine Unterlagen davon. Auf Therapie war sie nicht dazwischen. Sie mache nichts im Moment. Sie sei froh, wenn sie den Haushalt schafft und stabil bleibt.

Sozialanamnese:
Invaliditätspension, Schulbildung: Volksschule Gymnasium Unterstufe fertig dann 2 Jahre HLA, Lehre versucht Studienberechtigungsprüfung fertiggemacht, 1 Kind (lebt beim Vater), sie lebt allein.

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
Otto Wagner Spital : Opiatabhängigkeit Canabisabusus Drogenentzugssyndrom Verdacht auf emotional instabile Persönlichkeitsstörung, erster stationärer Aufenthalt als Krisenintervention Opiatabhängigkeit seit dem 16. Lebensjahr Grüner Kreis, Verein zur Rehabilitation, Aufenthaltsbestätigung vom - in der Einrichtung Marienhof untergebracht.

Ergebnis der durchgeführten Untersuchung:

Frau ***Bf1*** ist voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: JA

Dies besteht seit: 01/2016

Anmerkung bzw. Begründung betreffend die Fähigkeit bzw. voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen:

Der erste stationäre Aufenthalt fand 09/2002 statt. Befundmäßig dokumentiert liegt eine Aufenthaltsbestätigung 09-12/2003 vor. Weiterhin besteht die Befundlücke zwischen 2003 und 2016.

Über diesen Zeitraum ist keine Aussage bezüglich der Erwerbsunfähigkeit möglich. Daher kann eine Erwerbsunfähigkeit nur ab 01/2016 bestätigt werden.

Beschwerdevorentscheidung vom

Das FA wies die Beschwerde mit Beschwerdevorentscheidung vom mit der Begründung ab, dass das Sozialministeriumservice mit neuerlichem Gutachten vom die dauernde Erwerbsunfähigkeit rückwirkend ab bestätigt habe.

Da somit die Erfordernisse - Feststellung der dauernden Erwerbsunfähigkeit vor dem 21. bzw. vor dem 25. Lebensjahr im Falle der Absolvierung einer Berufsausbildung - nicht vorlägen, um die erhöhte Familienbeihilfe auszuzahlen, müsse ihre Beschwerde abgewiesen werden.

Vorlageantrag vom

Die Bf bringt in ihrem Vorlageantrag vom vor, dass sie der Meinung sei, dass sie alle Voraussetzungen für den Bezug der erhöhten Familienbeihilfe erfülle.

Das Bundesfinanzgericht hat erwogen

Sachverhalt

Die Bf ist 1983 geboren und vollendete das 21. Lebensjahr am ** ** 2004.

Sie besuchte die Volksschule, ein Unterstufengymnasium und zwei Jahre eine HLA. Eine Lehre wurde abgebrochen. Die Studienberechtigungsprüfung wurde abgelegt.

Die Bf lebt allein und war nie berufstätig.

Sie bezieht seit Pflegegeld und seit Jänner 2019 bis lfd. eine Pension.

Die Bf hat keinen Erwachsenenvertreter bzw. Erwachsenenvertreterin.

Bei der Bf bestand eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit nicht vor Vollendung des 21. bzw. 25. Lebensjahres, sondern erst ab Jänner 2016.

Beweiswürdigung

Der Sachverhalt beruht auf den von der Bf vorgelegten Befunden, den im Zuge des vorliegenden Verfahrens erstellten Gutachten des Sozialministeriumservice vom und vom sowie dem Sozialversicherungsauszug vom .

Dem Aufnahmeblatt des Sozialmed. Zentrum Otto Wagner-Spital, Abteilung für Drogenabhängige, vom , ist zu entnehmen, dass bei der Bf eine Opiatabhängigkeit seit dem 16. Lebensjahr besteht und dass sie im Alter von 19 Jahren zur ersten stationären Aufnahme im Spital als Krisenintervention kam.

Ein Aufenthalt vom bis in der Einrichtung Marienhof (Sonderkrankenhaus Suchtprävention) wurde nachgewiesen.

Von 2003 bis 2016 liegt eine Befundlücke vor.

Die Sachverständige im Sozialministerium bescheinigte der Bf im Gutachten vom den Eintritt der Erwerbsunfähigkeit rückwirkend ab Jänner 2016.

Im Gutachten vom bescheinigte die Sachverständige der Bf den Eintritt der Erwerbsunfähigkeit rückwirkend ebenfalls ab Jänner 2016 und begründete diese Feststellung damit, dass der erste stationäre Aufenthalt im September 2002 stattgefunden habe. Befundmäßig dokumentiert liege eine Aufenthaltsbestätigung vom September 2003 vor. Es bestehe zwischen 2003 und 2016 eine Befundlücke.

Das Gericht erachtet das Gutachten der Sachverständigen als schlüssig.

Es ist nachvollziehbar, wenn die Sachverständige die von der Bf vorgelegten Befunde bzw. Unterlagen (Schreiben Dr. G., FA für Neurologie und Psychiatrie, vom über wiederholte Ordinationsbesuche der Bf seit 2016, Befund der Klinik Hietzing vom : Polytoxikomanie im Substitol Programm chron. Heptatis C, Befund Anton Proksch Institut, -: psychische Verhaltensstörung durch multiplen Substanzgebrauch, Virushepatitis B, HIV Krankheit, cerebrale Toxoplasmose mit OP) offensichtlich als nicht ausreichend erachtet hat und wenn die Sachverständige auf Grund von fehlenden Befunden für den Zeitraum 2003 bis 2016 keine Erwerbsunfähigkeit vor dem 21. Lebensjahr feststellen konnte.

Naturgemäß kann ein Arzt die Beeinträchtigung durch eine Erkrankung bzw. Behinderung nur zum Zeitpunkt der Untersuchung mit Sicherheit feststellen und eine Einschätzung über Zeiträume, die bereits mehrere Jahre zurückliegen, in den meisten Fällen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in aller Regel nur bei Vorliegen von relevanten Befunden vornehmen.

Dass die Bf - warum auch immer - keine Befunde für den Zeitraum 2003 bis 2016 vorgelegt hat, geht zu ihren Lasten.

Das Gericht erachtet die in den zwei Gutachten getroffene Feststellung, dass bei der Bf keine Erwerbsunfähigkeit vor dem 21. Lebensjahr eingetreten ist, nach eingehender Befassung mit den von der Bf vorgelegten Befunden und den zwei Gutachten des Sozialministeriumservice als mit einer an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als den Tatsachen entsprechend. Die Gutachten sind für das Gericht schlüssig und nachvollziehbar.

Es würde den Gutachten vielmehr an Schlüssigkeit fehlen, wenn die Sachverständige den Beginn der Erwerbsunfähigkeit ohne Untermauerung durch entsprechende Befunde zu einem bestimmten, in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt, festgestellt hätte (vgl. zB , ). Schlüssig ist vielmehr, den Beginn der Erkrankung unter Zuhilfenahme vorliegender Befunde oder anderer geeigneter Nachweise zu bestimmen.

Das Gericht erachtet daher die Einholung eines weiteren Gutachtens nicht als erforderlich, da in einem weiteren Gutachten wegen fehlender Befunde keine andere Einschätzung getroffen werden könnte und die Bf im Vorlageantrag auch nichts Substantiiertes vorgebracht hat, sondern nur die Meinung vertritt, dass sie alle Voraussetzungen für den Bezug der erhöhten Familienbeihilfe erfülle.

Da keine Erwerbsunfähigkeit vor dem 21. bzw. 25. Lebensjahr bescheinigt wurde, stand der Bf weder die Familienbeihilfe noch der Erhöhungsbetrag zu.

Rechtliche Beurteilung

Gesetzliche Grundlagen:

Nach § 6 Abs 2 lit. d FLAG 1967 steht einem volljährigen Kind die Familienbeihilfe zu, wenn es wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsaus-bildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen (wegen einer erheblichen Behinderung voraussichtlich dauernd erwerbsunfähig ist).

§ 8 Abs 4 FLAG 1967 legt fest, in welchem Ausmaß sich die Familienbeihilfe bei einem erheblich behinderten Kind erhöht.

Gemäß § 8 Abs 5 FLAG 1967 gilt ein Kind als erheblich behindert, bei dem eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung besteht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von voraussichtlich mehr als drei Jahren. Der Grad der Behinderung muss mindestens 50 vH betragen, soweit es sich nicht um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Gemäß § 8 Abs 6 FLAG 1967 ist der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, durch eine Bescheinigung des Bundes-amtes für Soziales und Behindertenwesen (nunmehr: Sozialministeriumservice) auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen. Für die Einschätzung des Grades der Behinderung sind § 14 Abs 3 des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, in der jeweils geltenden Fassung, und die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung) vom , BGBl. II Nr. 261/2010, in der jeweils geltenden Fassung anzuwenden. Die erhebliche Behinderung ist spätestens nach fünf Jahren neu festzustellen, soweit nicht Art und Umfang eine Änderung ausschließen.

Erhöhte Familienbeihilfe:

Bescheinigung des Sozialministeriumservice:

Nach den Bestimmungen des § 8 Abs 6 FLAG 1967 ist der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, durch eine Bescheinigung des Sozialministeriumservice (früher: Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen) auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen (vgl z.B. ; ; ; ).

Die Aufgabe des Arztes als Gutachter bzw. fachkundiger Berater des Gerichtes oder sonstiger Auftraggeber besteht darin, entsprechend den ihm vom Auftraggeber gestellten Beweisfragen medizinische Befunde zu erheben und diese unter Berücksichtigung der sonstigen ihm zugänglich gemachten Informationen auf der Basis medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnis und ärztlichen Erfahrungswissens zu bewerten, um so dem "Auftraggeber" (hier: FA) eine Entscheidung der rechtlich erheblichen Fragen zu ermöglichen.

Das nach den Bestimmungen des § 8 Abs 6 FLAG 1967 abzuführende qualifizierte Nachweisverfahren durch ein ärztliches Gutachten (vgl. dazu , und , ) hat sich im Fall, dass ein volljähriger Antragsteller die erhöhte Familienbeihilfe beantragt, darauf zu erstrecken, ob die Erwerbsunfähigkeit bereits vor Vollendung des 21. Lebensjahres (oder während einer späteren Berufsausbildung, spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres) eingetreten ist (vgl. etwa ).

Demgemäß werden bei der Feststellung, ab welchem Zeitpunkt ein bestimmter Grad der Behinderung bzw. ab wann die Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist, von den sachverständigen Ärzten des Sozialministeriumservice neben der Anamnese, den Untersuchungsergebnissen, dem ärztlichen Erfahrungswissen und dem medizinischen Wissensstand die von den Antragstellern vorgelegten Befunde herangezogen.

Maßgeblich ist der Zeitpunkt, zu dem die Behinderung (als Folge der allenfalls schon länger bestehenden Krankheit) eine Erwerbsunfähigkeit bewirkt hat. Es kommt weder auf den Zeitpunkt an, zu dem sich eine Krankheit als solche äußert, noch auf den Zeitpunkt, zu welchem diese Krankheit zu (irgend)einer Behinderung führt (vgl. , , ).

Bei der Einschätzung dürfen andere als behinderungskausale Gründe (wie z.B. mangelnde oder nicht spezifische Ausbildung, die Arbeitsplatzsituation, Arbeitsunwilligkeit, oÄ) wie eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes (etwa durch Folgeschäden) nach Vollendung des 21. Lebensjahres) für die Beurteilung nicht herangezogen werden (vgl ).

Anwendung der Richtsatzverordnung:

Für die Einschätzung des Grades der Behinderung sind § 14 Abs 3 des Behindertenein-stellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, in der jeweils geltenden Fassung, und die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung) vom , BGBl. II Nr. 261/2010, in der jeweils geltenden Fassung anzuwenden.

Gutachten - Allgemeines, Schlüssigkeit von Gutachten:

Ein Gutachten ist die begründete Darstellung von Erfahrungssätzen und die Ableitung von Schlussfolgerungen für die tatsächliche Beurteilung eines Geschehens oder Zustands auf der Basis des objektiv feststellbaren Sachverhaltes durch einen oder mehrere Sachverständige. Sachverständige haben dabei fundierte und wissenschaftlich belegbare konkrete Aussagen zu treffen und dürfen ihre Beurteilungen und Feststellungen nicht auf Spekulationen, sondern ausschließlich auf die festgestellten Tatsachen, verbunden mit ihrem fachspezifischen Wissen, stützen. Alleine die Möglichkeit, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmter Sachverhalt vorgelegen sein könnte, reicht dabei keinesfalls aus, diesen Sachverhalt gutachterlich als gegeben anzusehen und zu bestätigen (vgl. z.B. ; ).

Ein Gutachten ist

•vollständig, wenn es die von der Behörde oder dem Gericht gestellten Fragen beantwortet (sofern diese zulässig waren)

•nachvollziehbar, wenn das Gutachten von der Beihilfenstelle und vom Gericht verstanden werden kann und diese die Gedankengänge des Gutachters, die vom Befund zum Gutachten führten, prüfen und beurteilen kann und

•schlüssig, wenn es nach der Prüfung auf Vollständigkeit und Nachvollziehbarkeit immer noch überzeugend und widerspruchsfrei erscheint

Die Gutachten unterliegen, wie alle anderen Beweismittel, der freien behördlichen bzw. richterlichen Beweiswürdigung.

Voraussetzung für den Erhöhungsbetrag zur Familienbeihilfe bei volljährigen Personen:

Voraussetzung für den Erhöhungsbetrag ist, dass der Grundbetrag an Familienbeihilfe zusteht. Das bedeutet, dass bei volljährigen Kindern, denen nicht schon aus anderen Gründen als aus dem Titel der Behinderung der Grundbetrag an Familienbeihilfe zusteht, der Grad der Behinderung ohne jede Bedeutung ist, und würde er auch 100 % betragen. Besteht also keine vor dem 21. (25.) Lebensjahr eingetretene voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, steht weder Grund- noch Erhöhungsbetrag zu (FLAG Kommentar, Csaszar/Lenneis/Wanke, § 8, Rz 21); ; ; ).

Feststellbarkeit des Eintrittes der Erwerbsunfähigkeit:

Die Schwierigkeit, den Eintritt der Erwerbsunfähigkeit mit einem bestimmten Zeitpunkt festzulegen, besteht darin, dass manche Erkrankungen bzw. Behinderungen bereits seit Geburt vorliegen (können) oder im Kindes- und Jugendalter auftreten, jedoch erst viele Jahre später ein Ausmaß erreichen, welches zu einer Erwerbsunfähigkeit führt.

Auch der Konsum von psychotropen Substanzen - wie im vorliegenden Fall - führt je nachdem, wann mit dem Konsum begonnen wird und wie oft der Konsum erfolgt, zu langfristigen gesundheitlichen oder psychischen Problemen, welche zur Erwerbsunfähigkeit führen können.

Der Verwaltungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom , Ra 2014/16/0010, ausgesprochen, dass es bei volljährigen Kindern weder auf den Zeitpunkt ankommt, zu dem sich eine Krankheit als solche äußert, noch auf den Zeitpunkt, zu welchem diese Krankheit zu irgendeiner Behinderung führt, sondern dass der Zeitpunkt maßgeblich ist, zu dem diejenige Behinderung (als Folge einer allenfalls schon länger bestehenden Krankheit) eintritt, welche die Erwerbsunfähigkeit bewirkt (vgl. auch ).

Wann genau der Eintritt der Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist, lässt sich immer nur mit großer Wahrscheinlichkeit, aber nie mit absoluter Sicherheit feststellen.

Vorlage von relevanten Befunden:

Wie schon weiter oben festgehalten, werden bei der Feststellung, ab welchem Zeitpunkt ein bestimmter Grad der Behinderung bzw. ab wann die Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist, von den sachverständigen Ärzten des Sozialministeriumservice neben der Anamnese, den Untersuchungsergebnissen, dem ärztlichen Erfahrungswissen und dem medizinischen Wissensstand die von den Antragstellern vorgelegten relevanten Befunde herangezogen.

Relevante Befunde sind in aller Regel nur jene, die für Zeiträume vor dem 21. Lebensjahr vorliegen und auf eine Erwerbsunfähigkeit ab einem bestimmten Zeitpunkt schließen lassen (vgl. , , , Ro 2017/16/0009).

Mitwirkungspflicht bei Begünstigungsvorschriften:

Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes besteht bei Begünstigungsvorschriften und in Fällen, in denen die Ermittlungsmöglichkeiten der Behörde eingeschränkt sind, eine erhöhte Mitwirkungspflicht.

Eine Mitwirkungspflicht ist gerade in den Fällen wichtig und unerlässlich, in denen der Antrag auf erhöhte Familienbeihilfe wegen Erwerbsunfähigkeit von Personen gestellt wird, die (erheblich) älter als 21 bzw. 25 Jahre alt sind.

Es liegt daher primär am Beschwerdeführer bzw. der Beschwerdeführerin, den behaupteten Sachverhalt, nämlich die bereits vor der Vollendung des 21. Lebensjahres eingetretene dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, klar und ohne Möglichkeit eines Zweifels nachzuweisen (vgl. ; siehe in: Csaszar/Lenneis/Wanke, FLAG-Kommentar, Rz 32 zu § 8 mit weiterer UFS-Judikatur, vgl. auch ).

Gelingt dies nicht, etwa, wenn relevante Befunde fehlen oder (warum auch immer), nicht vorgelegt werden (können), können die vom Sachverständigen getroffenen Feststellungen nur mit hoher Wahrscheinlichkeit den Tatsachen entsprechen, weil Erkrankungen bzw. Behinderungen unterschiedlich stark ausgeprägt sind oder unterschiedliche Verläufe haben (vgl. z.B. ).

Bindung der Abgabenbehörde und des Bundesfinanzgerichtes an die Sachverständigen-gutachten des Sozialministeriumservice, wenn diese schlüssig sind:

Das FA und das BFG sind an die Gutachten des Sozialministeriumservice gebunden und dürfen diese nur insoweit prüfen, ob diese vollständig, nachvollziehbar und schlüssig sind und im Fall mehrerer Gutachten oder einer Gutachtensergänzung nicht einander widersprechen (vgl. ; ; Erkenntnisse VwGH jeweils vom , 2009/16/0307 und 2009/16/0310). Erforderlichenfalls ist für deren Ergänzung zu sorgen (; ; ). Eine andere Form der Beweisführung ist nicht zugelassen (vgl. u.a.). Eine Abweichung von den Gutachten ist nur nach entsprechend qualifizierter Auseinandersetzung möglich (vgl. ).

Zusammenfassend wird für den vorliegenden Fall festgestellt, dass in Ansehung der Tatsache, dass einerseits der Eintritt der dauernden Erwerbsunfähigkeit in schlüssiger Art und Weise durch die obigen Gutachten zu einem (weit) nach der Vollendung des 21. Lebensjahr gelegenen Zeitpunkt festgelegt wurde, und andererseits die dauernde Erwerbsunfähigkeit auch nicht während einer späteren Berufsausbildung eingetreten ist, dem Antrag der Bf auf Familienbeihilfe samt Erhöhungsbetrag keine Berechtigung zukommt.

Unzulässigkeit der Revision:

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die Lösung der Frage, unter welcher Voraussetzung die erhöhte Familienbeihilfe (Grundbetrag und Erhöhungsbetrag) zusteht, ergibt sich bereits aus den bezughabenden Gesetzesbestimmungen. Bei der Frage, ob und ab wann eine "dauernde Erwerbsunfähigkeit" gegeben ist, handelt es sich um eine Tatfrage und ist das BFG an die vom Sozialministeriumservice erstellten Gutachten gebunden, sofern diese schlüssig sind. Da sohin keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu beurteilen war, ist eine Revision nicht zulässig.

Wien, am

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