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Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 10.05.2023, RV/6100243/2022

Wiederaufnahme in "verfassungskonformer Auslegung" des § 303 BAO

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch die Richterin R in der Beschwerdesache Bf, Bf_Adr, vertreten durch Stb, Stb_Adr, über die Beschwerde vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Österreich vom betreffend Abweisung des Antrages auf Wiederaufnahme des Verfahrens betr. Umsatzsteuer 2009 bis 2011, Steuernummer Bf_StNr zu Recht erkannt:

I. Der Beschwerde wird gemäß § 279 BAO Folge gegeben. Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.

II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) zulässig.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt/Verfahrensgang

1. Im Jahr 2008 führte die Beschwerdeführerin (Bf) eine positive Vorsteuerberichtigung iSd § 12 Abs. 10 UStG 1994 iHv € 1.394.776,05 durch, welche ihre Ursache in einer Änderung der Verhältnisse der Verwendung jener Immobilien hatte, die 2008 im Wege des Art. 34 § 1 BBG 2001 von der Stadt A an die Bf übertragen worden war; die Veranlagung erfolgte mit Bescheid vom erklärungsgemäß. Nach Durchführung einer die Jahre 2008 bis 2010 umfassenden Außenprüfung wurde am das Verfahren betreffend Umsatzsteuer 2008 gem. § 303 BAO wiederaufgenommen und die Vorsteuerkorrektur im neuen Sachbescheid nicht berücksichtigt.

Gegen den neuen Sachbescheid wurde am Beschwerde erhoben; nach Ergehen der abweisenden Beschwerdevorentscheidung am wurde am der Vorlageantrag gestellt.

2. Am stellte die Bf den Antrag, die Verfahren betreffend Umsatzsteuer 2009 bis 2011 gem. § 303 BAO wiederaufzunehmen, und die Umsatzsteuer für die genannten Jahre unter Berücksichtigung der positiven Vorsteuerberichtigungszehntel gem. § 12 Abs. 10 UStG 1994 festzusetzen. Begründend wurde auf die für das Jahr 2008 durchgeführte positive Vorsteuerkorrektur verwiesen, welche von der Abgabenbehörde nicht anerkannt worden sei; diesbezüglich sei ein Beschwerdeverfahren beim Bundesfinanzgericht anhängig.

Zudem weise die Abgabenbehörde in der Begründung der Beschwerdevorentscheidung darauf hin, dass selbst, wenn eine positive Vorsteuerberichtigung zulässig wäre, diese nicht in einem Jahr erfolgen dürfe, sondern wäre die Änderung der Verhältnisse in Form von Zehntelberichtigungen gem. § 12 Abs. 10 UStG für jedes Jahr der Änderung vorzunehmen.

Ob die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des Verfahrens der Jahre 2009 bis 2011 vorlägen, ergebe sich somit unmittelbar aus der Entscheidung des Bundesfinanzgerichtes: Sollte die Vorsteuerberichtigung im Verfahren betr. Umsatzsteuer 2008 dem Grunde nach anerkannt werden, müsste auch für die Folgejahre die anteilige Vorsteuerberichtigung durchgeführt werden.

Zur Untermauerung ihres Vorbringens verwies die Bf auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , B181/89.

Die für den Fall der Bewilligung der Wiederaufnahme zu berücksichtigenden Vorsteuerberichtigungen beliefen sich laut einer von der Bf gesondert vorgelegten Berechnung 2009 auf € 252.224,42, 2010 auf € 233.881,51 und 2011 auf € 215.339,83.

3. Für die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls bereits veranlagten Folgejahre 2012 bis 2016 wurden ein Antrag gem. § 299 BAO (iZm 2012) bzw. Beschwerden (iZm 2013 bis 2016) eingebracht, in welchen jeweils die Berücksichtigung der Vorsteuerkorrektur gem. § 12 Abs. 10 UStG 1994 beantragt wurde. Mit neuem Sachbescheid gem. § 299 Abs. 1 BAO bzw. Beschwerdevorentscheidungen vom wurden diese, nach Ergehen des nachstehend genannten BFG-Erkenntnisses zur Umsatzsteuer 2008, von der Abgabenbehörde gewährt.

4. Mit Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes vom , RV/6100443/2015, wurde der Beschwerde gegen den im wiederaufgenommenen Verfahren erlassenen Umsatzsteuerbescheid 2008 teilweise Folge gegeben und der Bf die Berechtigung zur Vornahme einer (anteiligen) positiven Vorsteuerkorrektur gem. § 12 Abs. 10 UStG 1994 zugestanden.

5. Mit Bescheid vom wies die Abgabenbehörde den Wiederaufnahmeantrag vom ab. Sie stützte sich dabei ausschließlich auf den sog. "Neuerungstatbestand" des § 303 Abs. 1 lit. b BAO. Es sei bereits im Juni 2014 im Zeitpunkt der Einbringung der Beschwerde betreffend die Umsatzsteuer 2008 bekannt gewesen, dass, sollte dem Beschwerdebegehren nicht gefolgt werden, grundsätzlich eine Vorsteuerberichtigung iSd § 12 Abs. 10 UStG 1994 dem Grunde nach, beginnend mit dem Jahr 2008 verteilt auf zehn Jahre, zu erfolgen hätte. Dieses Wissen bzw. die davon abweichende rechtliche Beurteilung im Erstbescheid führe nicht zum Vorliegen neuer Tatsachen iSd § 303 Abs. 1 lit. b BAO; hinzu komme, dass bei einem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens das Neuhervorkommen von Tatsachen aus der Sicht des Antragstellers zu beurteilen sei.

6. In der Beschwerde vom wurde, nach Wiedergabe des Verfahrensverlaufs iZm der Umsatzsteuer 2008, ausgeführt, dass sich der Wiederaufnahmeantrag, entgegen den Ausführungen im bekämpften Bescheid, nicht auf den Neuerungstatbestand des § 303 Abs. 1 lit. b BAO stütze. Vielmehr ergebe sich die Zulässigkeit der Wiederaufnahme aufgrund der Entscheidung über die eigentliche Rechtsfrage nach dem Anspruch auf Vorsteuerberichtigung in verfassungskonformer Auslegung des § 303 Abs. 1 BAO.

Im Weiteren zitierte die Beschwerde einschlägige Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes, ua das Erkenntnis vom , B783/89, und kam zu dem Schluss, dass auch im Beschwerdefall in verfassungskonformer Auslegung des § 303 Abs. 1 BAO eine Wiederaufnahme des Verfahrens für die Jahre 2009 bis 2011 zulässig sein müsse. Das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes vom betreffend Umsatzsteuer 2008 wirke sich infolge der in § 12 Abs. 10 UStG 1994 normierten Verteilungspflicht direkt auf die Folgejahre aus.

Im Rahmen der Ermessensübung sei die überdurchschnittlich lange - nicht von der Bf verschuldete - Verfahrensdauer sowie der Grundsatz von Treu und Glauben zu berücksichtigen. Vom Beginn der Betriebsprüfung bis zur Neufestsetzung der Umsatzsteuer 2008 im Jahr 2014 habe es bereits rund zwei Jahre gedauert. Zu diesem Zeitpunkt sei der Bf für die Jahre 2009 bis 2011 nur mehr das Rechtsmittel der Wiederaufnahme zur Verfügung gestanden. Werde dieses nunmehr versagt, ergebe sich neben den erwähnten verfassungsrechtlichen Bedenken eine Rechtsschutzlücke.

IZm Treu und Glauben werde geltend gemacht, dass seitens der Finanzverwaltung im Umsatzsteuerprotokoll zum Salzburger Steuerdialog 2010 vom zur einschlägigen Problematik die Auffassung vertreten worden sei, dass keine Berechtigung zum Vorsteuerabzug bzw. einer positiven Vorsteuerkorrektur bestehe. Es könne der Bf somit nicht vorgehalten werden, dass sie in den Jahren 2009 bis 2011 keine Vorsteuerberichtigungen durchgeführt habe.

Abschließend wurde unter Verweis auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , 92/13/0176, der Eventualantrag gestellt, die Jahre 2009 bis 2011 amtswegig gem. § 295 Abs. 3 BAO zu berichtigen und die entsprechenden Vorsteuerberichtigungszehntel zu berücksichtigen.

7. Ungeachtet des Antrages gem. § 262 Abs. 2 lit. a BAO in der Beschwerde erfolgte keine Vorlage der Beschwerde in der Frist des lit. b leg. cit., sondern wurde am die abweisende Beschwerdevorentscheidung erlassen. Darin wurde, neben neuerlichen Ausführungen iZm dem Neuerungstatbestand, die Zulässigkeit einer Wiederaufnahme in verfassungskonformer Auslegung des § 303 Abs. 1 BAO in Abrede gestellt. Die dazu in der Beschwerde zitierten hg. Entscheidungen hätten, bei grundsätzlich gegebenen Wiederaufnahmegründen, jeweils die gleichheitswidrige Ermessensübung der Abgabenbehörde zum Gegenstand. Im Beschwerdefall liege nach Ansicht der Abgabenbehörde jedoch kein Wiederaufnahmegrund vor, weshalb für eine Ermessensübung kein Platz bleibe.

8. Am wurde der Vorlageantrag gestellt.

II. Rechtslage und Erwägungen

1. Gemäß § 303 Abs. 1 BAO kann ein durch Bescheid abgeschlossenes Verfahren auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen wiederaufgenommen werde, wenn
a) der Bescheid durch eine gerichtlich strafbare Tat herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist, oder
b) Tatsachen oder Beweismittel im abgeschlossenen Verfahren neu hervorgekommen sind, oder
c) der Bescheid von Vorfragen (§ 116) abhängig war und nachträglich über die Vorfrage von der Verwaltungsbehörde bzw. dem Gericht in wesentlichen Punkten anders entschieden worden ist,
und die Kenntnis dieser Umstände allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens einen im Spruch anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätte.

Gemäß Abs. 2 leg. cit. hat der Wiederaufnahmeantrag zu enthalten:
a) die Bezeichnung des Verfahrens, dessen Wiederaufnahme beantragt wird;
b) die Bezeichnung der Umstände (Abs. 1), auf die der Antrag gestützt wird.

Gemäß § 304 BAO in der zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Fassung ist nach Eintritt der Verjährung eine Wiederaufnahme des Verfahrens nur zulässig, wenn der Wiederaufnahmsantrag vor Eintritt der Verjährung eingebracht ist.

Mit dem die Wiederaufnahme des Verfahrens bewilligenden oder verfügenden Bescheid ist gem. § 307 Abs. 1 BAO unter gleichzeitiger Aufhebung des früheren Bescheides die das wiederaufgenommene Verfahren abschließende Sachentscheidung zu verbinden. Der Eintritt der Verjährung steht der Erlassung eines neuen Sachbescheides gem. § 209a Abs. 2 BAO in der zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Fassung nicht entgegen, wenn der Wiederaufnahmeantrag rechtzeitig iSd § 304 BAO einbgebracht wurde.

2. Welche gesetzlichen Wiederaufnahmegründe durch einen konkreten Sachverhalt als verwirklicht angesehen und daher als solche herangezogen werden, bestimmt bei der Wiederaufnahme auf Antrag die betreffende Partei, bei der Wiederaufnahme von Amts wegen die für die Entscheidung über die Wiederaufnahme zuständige Behörde ().

Der Wiederaufnahmeantrag vom nannte für die Jahre 2009 bis 2011 keinen der in § 303 Abs. 1 BAO aufgeführten Gründe ausdrücklich, jedoch ist der Wiederaufnahmegrund, auf den der Antrag gestützt wird, aus dem Vorbringen klar ersichtlich. Es wurde dezidiert auf die Auswirkungen hingewiesen, die die ausstehende Entscheidung des Bundesfinanzgerichtes betreffend Umsatzsteuer 2008 auf die Folgejahre haben könnte, nämlich dass bei Gewährung der positiven Vorsteuerkorrektur dem Grunde nach in jenen Folgejahren Zehntelberichtigungen gem. § 12 Abs. 10 UStG 1994 durchzuführen wären. Die diesfalls zu Recht erfolgte Wiederaufnahme des Verfahrens betreffend Umsatzsteuer 2008 müsste konsequenterweise auch zur Wiederaufnahme des Verfahrens für die Folgejahre führen.

Dass sich der Wiederaufnahmeantrag auf den Neuerungstatbestand des § 303 Abs. 1 lit. b BAO stütze, wie von der Abgabenbehörde angenommen, wurde in der Beschwerde und im Weiteren auch im Vorlageantrag in Abrede gestellt und nunmehr ausdrücklich die Wiederaufnahme in verfassungskonformer Auslegung zur Erreichung eines insgesamt rechtsrichtigen Ergebnisses als Grund benannt. Damit wurde jedoch lediglich eine Verdeutlichung bzw. Ergänzung des Vorbringens im Wiederaufnahmeantrag vorgenommen.

3. In seiner Entscheidung vom , B783/89, kam der Verfassungsgerichtshof zu dem Schluss, die Behörde habe im zugrundeliegenden Fall § 303 BAO in gleichheitswidriger Weise, nämlich nur zum Nachteil des Steuerpflichtigen angewendet. Es führe zu einem verfassungswidrigen Ergebnis, wenn bei nachträglicher Änderung einer rechtlichen Beurteilung in einem Streitjahr, die notwendigerweise auch Auswirkungen für die Folgejahre habe, in jenen Folgejahren die Wiederaufnahme des Verfahrens verweigert werde.
Der Verfassungsgerichtshof führte, unter Verweis auf Literatur und Rechtsprechung, aus:
"Die rechtliche Beurteilung eines Sachverhaltes für ein früheres Steuerjahr stellt keine Vorfrage im technischen Sinn dar; ebenso wenig handelt es sich bei der Änderung der rechtlichen Qualifikation eines Sachverhaltes um eine neue Tatsache iSd § 303 Abs. 1 lit. b BAO. Dennoch ist § 303 Abs. 1 BAO einer verfassungskonformen Interpretation zugänglich, die das geschilderte verfassungswidrige Ergebnis vermeidet:
Die Wiederaufnahme des Verfahrens öffnet den Weg, eine durch Bescheid erledigte Rechtssache in einem neuerlichen Verfahren sachlich zu prüfen, wenn der betreffende Bescheid durch neu hervorgekommene Umstände gewichtiger Art in seinen Grundlagen erschüttert ist. Das dem Institut der Wiederaufnahme zugrundeliegende und dieses rechtfertigende Ziel ist es, ein insgesamt rechtmäßiges Ergebnis zu erreichen, und unter den Voraussetzungen des § 20 BAO dem Prinzip der Rechtsrichtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Es widerspräche diesen Grundsätzen der Wiederaufnahme und stellte einen unerklärlichen Wertungswiderspruch dar, wollte man annehmen, dass zwar die Tatsache, dass nachträglich über eine Vorfrage von einer anderen (hiefür zuständigen) Behörde anders entschieden wurde, einen Wiederaufnahmsgrund darstellt, nicht aber eine Entscheidung derselben Behörde für einen früheren Steuerzeitraum, die sich in der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts direkt auf einen (einen späteren Steuerzeitraum betreffenden) Bescheid auswirkt. Ein derartiger Fall muss daher in gleicher Weise wie der Fall der Vorfrage behandelt werden, soll ein gleichheitswidriges Ergebnis vermieden werden. Eine solche Auslegung findet auch im möglichen Wortsinn der Bestimmung des § 303 Abs. 1 BAO, der die Grenzen der zulässigen Interpretation darstellt, Deckung. Die vorliegende Fallkonstellation ist daher gleich zu beurteilen wie das Neuhervorkommen von Tatsachen oder eine von der vorläufigen Beurteilung der Behörde abweichende Entscheidung der zuständigen Behörde über eine Vorfrage. Es hätte daher im vorliegenden Fall eine verfassungskonforme und gleichheitsgemäße Anwendung des § 303 Abs. 1 BAO dazu führen müssen, dem Antrag der Partei auf Wiederaufnahme des Verfahrens stattzugeben."

Die Literatur erblickt in diesem Erkenntnis eine de facto-Erweiterung des Katalogs der Wiederaufnahmegründe bzw. einen Wiederaufnahmegrund der "besonderen Art". Strittig war im dem Erkenntnis zugrundeliegenden Fall, ob bei nachträglicher Aktivierung eine beantragte Wiederaufnahme für die Folgejahre zwecks Berücksichtigung der AfA vorzunehmen ist. Der Verfassungsgerichtshof hat zugestanden, dass die rechtliche Beurteilung eines Sachverhaltes für ein früheres Steuerjahr keine Vorfrage im technischen Sinn darstellt und dass nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes die Änderung der rechtlichen Qualifikation eines Sachverhaltes keine Tatsache iSd § 303 Abs. 1 lit. b BAO darstellt. Dennoch hat er den Anspruch auf Bewilligung der Wiederaufnahme in verfassungskonformer Auslegung des § 303 Abs. 1 BAO bejaht. Die materiell-rechtlich bedingten Folgewirkungen könnten bei Änderung einzelner Bescheide in einer Reihe von Bescheiden im Hinblick auf die eingetretene Rechtskraft der anschließenden Bescheide nicht durchgesetzt werden. Derartige Folgeänderungen sind demnach auch in jenen Perioden zu berücksichtigen, auf die sie ebenso Auswirkungen haben, sodass insgesamt eine periodenübergreifende rechtsrichtige Besteuerung erfolgt und nicht nur eine isolierte Wiederaufnahme in einer Periode durchgeführt werden darf. (Ritz/Koran, BAO7, § 303 Tz 41; Predota/Rzeszut in Rzeszut/Tanzer/Unger [Hrsg], BAO: Stoll Kommentar - Digital First2.06 [2023] zu § 303 BAO Rz 19; Ellinger/Sutter/Urtz, BAO3 § 303 [Stand , rdb.at])

Der beschwerdegegenständliche Sachverhalt ist demjenigen vergleichbar, der dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes zugrunde liegt, zumal sich in beiden Fällen eine geänderte rechtliche Beurteilung des Sachverhaltes in einem Jahr unmittelbar auf die Folgejahre auswirkt. Ebenso wie im vom Verfassungsgerichtshof entschiedenen Fall bewirkte im Übrigen auch gegenständlich die Verweigerung der Wiederaufnahme des Verfahrens effektiv eine Doppelbesteuerung der Bf, indem trotz nachträglicher Erhöhung der unternehmerischen Nutzung von Gebäuden keine (korrespondierende) Vorsteuerberichtigung durchgeführt werden könnte (vgl. dazu auch die Ausführungen auf S. 7 des Erkenntnisses des Bundesfinanzgerichtes vom , RV/6100443/2015). Umstände, die zur Erfolglosigkeit des Wiederaufnahmeantrages führen müssten, etwa die versäumte Einbringung eines ordentlichen Rechtsmittels oder fehlende Parteienidentität, liegen im Beschwerdefall nicht vor ( u. UFSG , RV/0093-G/02, jeweils unter Verweis hg. Judikatur).

Damit liegt der aus dem genannten Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes abzuleitende Wiederaufnahmegrund vor.

4. Neben dem Erfordernis eines tauglichen Wiederaufnahmegrundes setzt § 303 Abs. 1 BAO als zweite Tatbestandsvoraussetzung für eine erfolgreiche Wiederaufnahme voraus, dass die Kenntnis des geltend gemachten Wiederaufnahmegrundes allein oder iVm dem sonstigen Ergebnis geeignet sein muss, einen im Spruch anderslautenden Bescheid herbeizuführen. Demnach rechtfertigt nicht schon das Vorliegen eines Wiederaufnahmetatbestandes, sondern erst die Verbindung mit einem anderslautenden Bescheid die Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Verfahrens.
(Predota/Rzeszut in Rzeszut/Tanzer/Unger [Hrsg], BAO: Stoll Kommentar - Digital First2.06 [2023] zu § 303 BAO Rz 47)

Die im Fall der Bewilligung der Wiederaufnahme zu erlassenden neuen Sachbescheide würden zu Gutschriften in Höhe der unter Pt. I.2. dieses Erkenntnisses aufgezählten Vorsteuerberichtigungen, damit zu anderslautenden Bescheiden führen, womit im Beschwerdefall auch die zweite Tatbestandsvoraussetzung des § 303 Abs. 1 BAO erfüllt ist.

5. Den Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofes vom , B70/87, sowie vom , B181/89, zufolge hatte die Abgabenbehörde jeweils das ihr durch § 303 BAO eingeräumte Ermessen in gleichheitswidriger Weise geübt, da eine amtswegige Wiederaufnahme zwar im Jahr 1979, in welchem der Vorsteuerabzug zu versagen war, vorgenommen, aber im Folgejahr 1980, auf dessen Umsatzsteuer sich diese Entscheidung (aus unterschiedlichen Gründen) unmittelbar auswirkte, unterlassen worden war.
Der Verfassungsgerichtshof führte dazu aus wie folgt:
"Mit diesem Verhalten hat die belangte Behörde das ihr bei der Erlassung eines Wiederaufnahmsbescheides zukommende Ermessen (vgl. Stoll, Ermessen im Steuerrecht, ÖJT 1970, Bd I/2, 129 ff; Fachgutachten Nr. 67 des Fachsenates für Steuerrecht des Instituts für Betriebswirtschaft, Steuerrecht und Organisation der Kammer der Wirtschaftstreuhänder) gleichheitswidrig, weil nur zum Nachteil, nicht aber auch zugunsten des Beschwerdeführers ausgeübt. Durch die Beschränkung der Wiederaufnahme auf das Verfahren betreffend die Umsatzsteuer für 1979 hat sie das der amtswegigen Wiederaufnahme zugrundeliegende und dieses Rechtsinstitut rechtfertigende Ziel, ein insgesamt rechtmäßiges Ergebnis zu erreichen (vgl. etwa Stoll, BAO - Handbuch, 1980, 712, der in diesem Zusammenhang treffend vom Vorrang des Prinzips der Rechtsrichtigkeit spricht) vollständig außer Acht gelassen. Sie hat nämlich - zum Nachteil des Beschwerdeführers - den Zusammenhang zwischen den Rechnungsjahren 1979 und 1980 ... ignoriert und dadurch der Vorschrift des § 303 BAO einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt. Eine Ermessensübung, wie sie von der belangten Behörde in dem zur Beurteilung stehenden Fall vorgenommen wurde, stellt somit einen - verfassungswidrigen - Ermessensmissbrauch dar."

Entgegen den Ausführungen in der Beschwerdevorentscheidung sind diese, von der Bf in der Beschwerde zitierten, Erkenntnisse jedenfalls in Zusammenschau mit dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes B783/89 einschlägig für den Beschwerdefall. Da, wie oben ausgeführt, ein Wiederaufnahmegrund vorliegt, der auch im Ergebnis anderslautende Bescheide herbeizuführen geeignet ist, darüber hinaus der Wiederaufnahmeantrag innerhalb der von § 304 BAO (idF vor dem JStG 2018, BGBl I 62/2018) gesetzten zeitlichen Grenze gestellt wurde, liegt die Wiederaufnahme des Verfahrens nunmehr im Ermessen.

Gemäß § 20 BAO müssen sich Entscheidungen, die die Abgabenbehörden nach ihrem Ermessen zu treffen haben (Ermessensentscheidungen) in den Grenzen halten, die das Gesetz dem Ermessen zieht. Innerhalb dieser Grenzen sind Ermessensentscheidungen nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände zu treffen. Dieser Bestimmung ist die Bedeutung einer grundsätzlichen und subsidiären Anordnung, in welcher Weise das in den verschiedenen abgabenrechtlichen Vorschriften eingeräumte Ermessen zu handhaben ist, beizumessen (Stoll, BAO-Kommentar, 207).

Von zentraler Bedeutung für die Ermessensübung ist die Berücksichtigung des Zweckes der Ermessen einräumenden Norm. Zweck des § 303 BAO ist es, eine neuerliche Bescheiderlassung dann zu ermöglichen, wenn Umstände gewichtiger Art hervorkommen. Ziel ist ein insgesamt rechtmäßiges Ergebnis (; ; B 2/96; ). Daher ist bei der Ermessensübung grundsätzlich dem Prinzip der Rechtsrichtigkeit (der Gleichmäßigkeit der Besteuerung) der Vorrang vor jenem der Rechtsbeständigkeit (Rechtskraft) zu geben (vgl. ; , 94/13/0032; , 99/14/0067). Dies gilt unabhängig davon, ob sich die Wiederaufnahme letztlich zu Gunsten oder zu Ungunsten der Partei auswirken würde. (Ritz/Koran, BAO7, § 303 Tz 67 unter Verweis auf die genannte hg. Judikatur)
Vor diesem Hintergrund wird die beantragte Wiederaufnahme, vor allem auch in Anbetracht der nicht als geringfügig zu beurteilenden steuerlichen Auswirkungen der zu gewährenden Vorsteuerberichtigungen, zu bewilligen sein.

Die Bf führte zutreffend aus, dass ihr ein Verschulden an der Unterlassung der Geltendmachung der Vorsteuerberichtigung in den Umsatzsteuererklärungen der Jahre 2009 bis 2011 nicht angelastet werden kann, und dass eine Geltendmachung im Wege eines ordentlichen Rechtsmittels im Zeitpunkt der Wiederaufnahme des Umsatzsteuerverfahrens 2008 nicht mehr möglich war. Tatsächlich ist der Wiederaufnahmeantrag für die Jahre 2009 bis 2011 durchaus zeitnah nach Abweisung der Beschwerde gegen den im wiederaufgenommenen Verfahren ergangenen Umsatzsteuerbescheid 2008 im August 2014 gestellt worden. Billigkeitserwägungen (vgl. dazu Stoll, BAO-Kommentar, 208f) können der Wiederaufnahme des Umsatzsteuerverfahrens der Jahre 2009 bis 2011 somit ebenfalls nicht im Weg stehen.

6. Die Abweisung des Wiederaufnahmeantrages vom erfolgte daher zu Unrecht, weshalb der Beschwerde stattzugeben und der angefochtene Bescheid aufzuheben war.

Zulässigkeit der Revision

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Das gegenständliche Erkenntnis stützt sich in der zentral zu lösenden Frage des Vorliegens eines Wiederaufnahmegrundes auf die oben unter Pt. II.3. zitierte Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom , B783/89. Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der Frage, ob eine Wiederaufnahme des Verfahrens auch aus den vom Verfassungsgerichtshof dargelegten, nicht explizit in § 303 Abs. 1 BAO genannten Gründen zulässig ist, existiert nicht. In seiner (ebenfalls in der Beschwerde erwähnten) Entscheidung vom , 92/13/0176, in einem vom Sachverhalt ähnlich gelagerten Fall nennt der Verwaltungsgerichtshof ausschließlich § 295 Abs. 3 BAO als tauglichen Verfahrenstitel, unterlässt jedoch Hinweise darauf, weshalb er die Ansicht des Verfassungsgerichtshofes, wonach bei solchen Konstellationen Wiederaufnahmegründe vorliegen, nicht teilt (Ritz/Koran, BAO7, § 295 Tz 17).

Die Revision war im Beschwerdefall daher zuzulassen.

Innsbruck, am

Zusatzinformationen


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Materie
Steuer
betroffene Normen
BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
Verweise
ECLI
ECLI:AT:BFG:2023:RV.6100243.2022

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at