Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 14.04.2023, RV/7102758/2022

Rückwirkende Beantragung eines Behindertenpasses für Zwecke des § 35 EStG bei verfassungskonformer und historischer Auslegung zulässig

Rechtssätze


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Stammrechtssätze
RV/7102758/2022-RS1
Der Legalbegriff des negativen Falls (§ 35 Abs 2 EStG 1988) erfasst auch den Fall, dass ein Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses ab einem zurückliegenden Zeitpunkt eingebracht wird, der vom Bundessozialamt zwar abzuweisen ist, womit das Bundessozialamt aber den Grad der Behinderung zu einem zurückliegenden Zeitpunkt feststellt, also eine meritorische Entscheidung mit Rückwirkung trifft. Die Rückwirkung ist nach dem BBG unzulässig und ein solcher Bescheid ist nach dem AVG rechtswidrig, jedoch wird diese Feststellung für Zwecke der Einkommensteuer und der abgaberechtlichen Verfahrensordnung benötigt, sodass ein solcher Bescheid aus verfassungsrechtlicher Sicht rechtskonform ist.
RV/7102758/2022-RS2
Die erst für abgelaufene Zeiträume mögliche Einkommensteuerfestsetzung und die Verjährungsbestimmung des § 207 Abs 2 BAO derogieren insoweit dem AVG und dem BBG, denen zufolge die Antragserledigung ex nunc mit dem Tag der Antragstellung zu erfolgen hat. Die Bundesabgabenordnung ist in diesem Fall im Verhältnis zum Allgemeinen Verwaltungsgesetz die speziellere Norm und verdrängt kraft Spezialität insoweit das AVG (lex specialis derogat legi generali).
RV/7102758/2022-RS3
Kosten wegen eigener Behinderung des Abgabepflichtigen (und dessen Partners) sowie Kosten für ein behindertes Kind sind gleichartige Aufwendungen und belasten das Einkommen des Abgabepflichtigen auf dieselbe Art und Weise, sodass beide Behinderungskosten einkommensteuerrechtlich ebenso gleichmäßig zu behandeln sind. Auch aus diesem Grund läge ein Verstoß gegen das verfassungsrechtlich garantierte Sachlichkeitsgebot vor, wäre die rückwirkende Feststellung des GdB des Abgabepflichtigen durch das Bundessozialamt nicht zulässig, jene für das Kind hingegen schon.
RV/7102758/2022-RS4
Die Auslegung des dritten Teilstrichs des § 35 Abs 2 EStG 1988, in der Fassung des Bundesgesetzes vom , BGBl I 180/2004, Abgabenänderungsgesetz 2004 - AbgÄG 2004, anhand des verfassungsrechtlichen Sachlichkeitsgebotes iVm dem im Einkommensteuerrecht vorherrschenden Prinzip der persönlichen Leistungsfähigkeit, wonach jeder nach Maßgabe seiner individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zur Staatsfinanzierung beitragen soll, sodass Behindertenkosten bei der Einkommensteuerfestsetzung gleichmäßig berücksichtigt werden müssen, iVm der historischen Entwicklung der zur medizinischen Beurteilung berufenen Institutionen gebietet, dass die dem Bundessozialamt durch leg.cit. zugewiesene Funktion die eines Sachverständigen ist, sodass die Verfahrensgrundsätze des Abgabenrechts insoweit dem Grundsatz des AVG, dass Anträge ausschließlich mit dem Tag ihrer Einbringung wirksam gestellt werden können, derogieren.

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch die Richterin Silvia Gebhart in der Beschwerdesache ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, vertreten durch ***, über die Beschwerde vom in der Fassung des Ergänzungsschriftsatzes vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Österreich vom betreffend Einkommensteuer (Arbeitnehmerveranlagung) 2020, Steuernummer ***BF1StNr1***, zu Recht erkannt:

I. Die Beschwerde wird gemäß § 279 BAO als unbegründet abgewiesen.
Der angefochtene Bescheid bleibt unverändert.

II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

Die im Streitjahr 83-jährige Beschwerdeführerin (Bf) beantragte mit den amtlichen Vordrucken L1 und L1ab vom bei der Einkommensteuerveranlagung Aufwendungen für außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen, und zwar EUR 650,40 für Taxikosten und EUR 4.620,56 für unregelmäßige Ausgaben für Hilfsmittel. Der Grad der Behinderung war im Vordruck L1ab-2020 nicht ausgefüllt.

Mit Vorhalt vom ersuchte die belangte Behörde zur "beantragten außergewöhnlichen Belastungen ohne Selbstbehalt die genaue Kostenaufstellung mit den folgenden Details:

  1. Rechnung/en inkl. Zahlungsnachweis/e

  2. Bezeichnung der Aufwendung

  3. Einzelpreise und Summe über alle Aufwendungen

  4. Ärztliche Verordnung bzw. Behandlungspläne zu den beantragten Kosten

  5. Erhaltene bzw. beantragte Kostenersätze wie z. B. Krankenkasse, Versicherung, Fonds, Land, Sozialministeriumservice usw.

Stellen Sie den Zusammenhang der Aufwendungen mit der Behinderung dar z.B. Arztberichte, Gutachten usw. Zum Nachweis Ihrer beantragten Aufwendungen legen Sie bitte alle Belege in Kopie bei."

Mit Schriftsatz vom (ON 7, Seite 34) entsprach die Bf der Aufforderung und legte Nachweise im Umfang von 94 Seiten vor (ON 7, Seite 1-95).

Angefochtener Bescheid

Mit dem angefochtenen Bescheid kürzte die belangte Behörde die geltend gemachten Krankheitskosten auf EUR 3.415,62, und begründete weiters: "Die Aufwendungen für außergewöhnliche Belastungen haben wir nicht berücksichtigt. Der Grund: Die Aufwendungen sind niedriger als der für Sie gültige Selbstbehalt in Höhe von 7.790,42".

Bescheidbeschwerde

Mit form- und fristgerechter Bescheidbeschwerde vom trug die Bf vor:

"Zufolge Ihrer Aufforderung … mußte ich eine genaue Kostenaufstellung mit den entsprechenden Unterlagen im Detail vorlegen. Eine mühsame Arbeit, der wegen des Selbstbehaltes der Erfolg a priori verwehrt wird.

Ich ersuche sie daher, nochmals von Amtswegen zu prüfen, ob nicht doch eine für mich günstigere Lösung möglich ist. Weiters bitte ich, mir mitzuteilen, wie sich der angeführte Selbstbehalt errechnet.

Dieses Schreiben stellt keine Berufung dar, erforderlichenfalls können sie ohnedies eine amtliche Berichtigung vornehmen. Ich will mit meinem Schreiben nur eine Entscheidungsgrundlage für mich schaffen, ob sich künftig lohnt, all diese vielen Unterlagen einzufordern, zusammenzustellen und Ihnen vorzulegen."

Beschwerdevorentscheidung

Die belangte Behörde wertete diesen Schriftsatz als Bescheidbeschwerde und wies das Rechtsmittel mit Beschwerdevorentscheidung vom als unbegründet ab, weil "Krankheitskosten ohne Selbstbehalt grundsätzlich nur berücksichtigt werden könnten, wenn eine Feststellung eines Grades der Behinderung aufgrund bestimmter Erkrankungen vorliegt. Alle Aufwendungen im Zusammenhang mit diesen Erkrankungen könnten dann ohne Selbstbehalt berücksichtigt werden. Ein Pflegegeldbezug allein sei dafür nicht ausreichend.

Aufwendungen für Impfungen, Desinfektionsmittel, Gesichtscremen und Nahrungsmittelergänzungen (z.B. Omnibiotik, Kräuterblutsaft, u.ä.) stellten keine außergewöhnliche Belastung dar." Die nachfolgende Berechnung des Selbstbehaltes ergab den im angefochtenen Bescheid angeführten Betrag.

Vorlageantrag

Mit Schriftsatz vom erhob die Bf form- und fristgerecht Vorlageantrag wie folgt:

"… In diesem Antrag habe ich Sonderausgaben gemäß ZI. 435 und ZI. 476 von insgesamt € 5.269,96 geltend gemacht.

Mit Beschwerdevorentscheidung vom wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen, da ein Pflegegeldbezug alleine für eine Berücksichtigung nicht ausreiche.

Dies steht meiner Meinung nach in einem Widerspruch zum Gesetz und auch zum Antragsformular Beilage LI ab

(Formular 2.1 bis 2.4 außergewöhnliche Belastung mit Selbstbehalt
2.5 bis 2.11 außergewöhnliche Belastung ohne Selbstbehalt).

Meine Belastungen von insgesamt € 5.269,96 (ZI. 435 und ZI. 476) wurden wegen des Selbstbehaltes mit der Begründung, dass "ein Pflegegeld alleine dafür nicht ausreicht", aberkannt.

Unter Hinweis auf Ihre Begründung (Aufwendungen für Impfungen, Desinfektionsmittel, Gesichtscremen und Nahrungsergänzungen stellen keine außergewöhnliche Belastung dar), reduziere ich die Rezeptgebühren und Medikamentenrechnung von € 2.819,24 auf€ 1.268,40.

Der Gesamtbetrag meiner außergewöhnlichen Belastungen beträgt somit € 3.719,12.Ich ersuche nochmals um Anerkennung dieses Betrages unter Außerachtlassung eines Selbstbehaltes. Die Auffassung, dass hiefür eine Feststellung des Grades der Behinderung vorliegen muß, entbehrt einer gesetzlichen Grundlage. In derBegründung wird auch das Wort "grundsätzlich" verwendet, d.h. es gibt Ausnahmen.Dafür sollten meine Erkrankungen (siehe internistischer Befund vom siehe psychiatrischer Befund vom , viermalige Hüft OP im Jahre 2018ausreichen)."

Vorlagebericht vom

Mit Vorlagebericht wurde die Bescheidbeschwerde elektronisch mitsamt Verwaltungsjahresakt vorgelegt und darin die Abweisung des Bescheidbeschwerde als unbegründet beantragt.

Beschluss vom

Mit hg Beschluss vom vertrat das BFG die Auffassung, dass die von der belangten Behörde als fehlend kritisierte Bescheinigung in einem offenen Beschwerdeverfahren nachgereicht werden könne. Es werde Gelegenheit gegeben, eine solche mit Wirkung ab (entspricht dem Streitjahr 2020) zu beantragen und nachzubringen. Die Bf wurde dahin manudiziert, dass sie diesfalls einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses mit Wirkung vom beim zuständigen Bundessozialamt beantragen müsse.

Schriftsatz vom

Mit Schriftsatz vom gab die Bf folgende Stellungnahme ab:

"Die Beantragung eines Behindertenausweises beim Bundesministerium für Soziales ist fürmich, im 85. Lebensjahr befindlich, nach viermaliger HüftOP, zweimaliger HandOP und sonstiger bereits nachgewiesener krankheitsbedingter Beschwerden zu aufwendig.

Ich bin nicht rechtskundig, mein Berufsleben verbrachte ich im AKH als medizinische, technische Assistentin.

Worüber ich aber nach wie vor Unverständnis erbringe, ist die mich irreführende Formulierung in dem für die Antragstellung erforderlichen Formular LI ab für 2020: ,Außergewöhnliche Belastung ab Behinderungsgrad von 25 % oder bei Pflegegeldbezug.'

Ich beziehe Pflegegeld, trotzdem wird zusätzlich ein Behindertenausweis verlangt."

Aktenvermerk vom mit Bruder der Bf

Der Bruder, ein Jurist iR, sei als Erwachsenenvertreter der Bf bestellt. Es wurde die Rechtslage und die Folgen rechtlich nicht abgedeckter Erlässe erläutert. Wegen Taxikosten bei Mobilitätseinschränkung sei unbedingt BSA erforderlich. Er sagte zu, mit seiner Schwester die Sache zu besprechen, allenfalls werde die Beschwerde wegen Aussichtslosigkeit zurückgezogen. Als Frist sagte der Bruder drei Wochen zu.

Weder erfolgte die Zurücknahme der Beschwerde noch wurde ein Behindertenausweis nachgereicht noch wurde Kontakt mit der Richterin aufgenommen.

II. Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

1. Rechtsgrundlagen

§ 106 EStG 1972 idF BG vom , BGBl 469/1974, lautete:

"(1) Körperbehinderten ist auf Antrag ein Freibetrag (Abs. 3) zur Abgeltung etwaiger außergewöhnlicher Belastungen, die durch die Körperbehinderung veranlaßt sind, zu gewähren. Als Körperbehinderte gelten auch geistig Behinderte.

(2) Die Höhe des Freibetrages bestimmt sich nach dem Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Die Tatsache der Körperbehinderung und das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit sind durch eine amtliche Bescheinigung der für diese Feststellung zuständigen Stelle nachzuweisen. Zuständige Stelle ist

1. bei Kriegsbeschädigten, Präsenzdienstpflichtigen und Opfern von Verbrechen das Landesinvalidenamt,

2. bei Empfängern einer Opferrente (§ 11 Abs. 2 des Opferfürsorgegesetzes, BGBl. Nr. 183/1947, in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 323/1963) der Landeshauptmann,

3. bei Berufskrankheiten oder Berufsunfällen von Arbeitnehmern der Träger der gesetzlichen Sozialversicherung,

4. in allen übrigen Fällen das Gesundheitsamt, im Bereich der Stadt Wien der Amtsarzt des jeweiligen Bezirkspolizeikommissariates.

(3) Es wird jährlich gewährt
bei einer Minderung der ein Freibetrag
Erwerbsfähigkeit von von Schilling
25 v. H. bis ausschließlich 35 v. H. ....... 780
35 v. H. bis ausschließlich 45 v. H. ....... 1.040
45 v. H. bis ausschließlich 55 v. H. ....... 2.600
55 v. H. bis ausschließlich 65 v. H. ....... 3.120
65 v. H. bis ausschließlich 75 v. H. ....... 3.900
75 v. H. bis ausschließlich 85 v. H. ....... 4.680
85 v. H. bis ausschließlich 95 v. H. ....... 5.460
95 v. H. bis einschließlich 100 v. H. ....... 7.800
bei Bezug von Pflege- oder Blindenzulage, (Pflege- oder Blindengeld, Pflege- oder Blindenbeihilfe) oder Hilflosenzuschuß (Hilflosenzulage) ......... 13.000

Treffen bei körperbehinderten Steuerpflichtigen Beschädigungen verschiedener Art zu, so ist das amtlich anerkannte höchste Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit maßgebend.

(4) Macht ein Körperbehinderter an Stelle des Freibetrages gemäß Abs. 3 seine tatsächliche außergewöhnliche Belastung aus diesem Titel gemäß § 34 geltend, dann ist § 34 Abs. 4 nicht anzuwenden.

(5) Bezieht ein Arbeitnehmer Arbeitslohn von zwei oder mehreren Arbeitgebern, dann gebührt der Freibetrag nur einmal."

§ 34 Einkommensteuergesetz 1988 - EStG 1988 in der für das Streitjahr geltenden Fassung trägt die Überschrift "außergewöhnliche Belastung" und lautet auszugsweise.

"(1) Bei der Ermittlung des Einkommens (§ 2 Abs. 2) eines unbeschränkt Steuerpflichtigen sind nach Abzug der Sonderausgaben (§ 18) außergewöhnliche Belastungen abzuziehen. Die Belastung muß folgende Voraussetzungen erfüllen:

1. Sie muß außergewöhnlich sein (Abs. 2).

2. Sie muß zwangsläufig erwachsen (Abs. 3).

3. Sie muß die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigen (Abs. 4).

1. Die Belastung darf weder Betriebsausgaben, Werbungskosten noch Sonderausgaben sein.

(2) Die Belastung ist außergewöhnlich, soweit sie höher ist als jene, die der Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse erwächst.

(3) Die Belastung erwächst dem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihr aus tatsächlichen, rechtlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann.

(4) Die Belastung beeinträchtigt wesentlich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, soweit sie einen vom Steuerpflichtigen von seinem Einkommen (§ 2 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 5) vor Abzug der außergewöhnlichen Belastungen zu berechnenden Selbstbehalt übersteigt. Der Selbstbehalt beträgt bei einem Einkommen

von höchstens 7 300 Euro ……………………………………………………….….…….6%.

mehr als 7 300 Euro bis 14 600 Euro ………………………….…………….………8%.

mehr als 14 600 Euro bis 36 400 Euro …………………………......................10%.

mehr als 36 400 Euro ……………………………………………..………………………...12%.

Der Selbstbehalt vermindert sich um je einen Prozentpunkt

- wenn dem Steuerpflichtigen der Alleinverdienerabsetzbetrag oder der Alleinerzieherabsetzbetrag zusteht

- wenn dem Steuerpflichtigen kein Alleinverdiener- oder Alleinerzieherabsetzbetrag zusteht, er aber mehr als sechs Monate im Kalenderjahr verheiratet oder eingetragener Partner ist und vom (Ehe-)Partner nicht dauernd getrennt lebt und der (Ehe-)Partner Einkünfte im Sinne des § 33 Abs. 4 Z 1 von höchstens 6 312 Euro jährlich erzielt

- für jedes Kind (§ 106).

(5) Sind im Einkommen sonstige Bezüge im Sinne des § 67 enthalten, dann sind als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit für Zwecke der Berechnung des Selbstbehaltes die zum laufenden Tarif zu versteuernden Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, erhöht um die sonstigen Bezüge gemäß § 67 Abs. 1 und 2, anzusetzen.

(6) Folgende Aufwendungen können ohne Berücksichtigung des Selbstbehaltes abgezogen werden:

- Aufwendungen zur Beseitigung von Katastrophenschäden, insbesondere Hochwasser-, Erdrutsch-, Vermurungs- und Lawinenschäden im Ausmaß der erforderlichen Ersatzbeschaffungskosten.

- Kosten einer auswärtigen Berufsausbildung nach Abs. 8.

- Mehraufwendungen des Steuerpflichtigen für Personen, für die gemäß § 8 Abs. 4 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967 erhöhte Familienbeihilfe gewährt wird, soweit sie die Summe der pflegebedingten Geldleistungen (Pflegegeld, Pflegezulage, Blindengeld oder Blindenzulage) übersteigen.

- Aufwendungen im Sinne des § 35, die an Stelle der Pauschbeträge geltend gemacht werden (§ 35 Abs. 5).

- Mehraufwendungen aus dem Titel der Behinderung, wenn die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 vorliegen, soweit sie die Summe pflegebedingter Geldleistungen (Pflegegeld, Pflegezulage, Blindengeld oder Blindenzulage) übersteigen.

Der Bundesminister für Finanzen kann mit Verordnung festlegen, in welchen Fällen und in welcher Höhe Mehraufwendungen aus dem Titel der Behinderung ohne Anrechnung auf einen Freibetrag nach § 35 Abs. 3 und ohne Anrechnung auf eine pflegebedingte Geldleistung zu berücksichtigen sind.

…"

§ 35 EStG 1988 in der für das Streitjahr geltenden Fassung trägt die Überschrift "Behinderte" und lautet auszugsweise:

"(1) Hat der Steuerpflichtige außergewöhnliche Belastungen

- durch eine eigene körperliche oder geistige Behinderung,

- bei Anspruch auf den Alleinverdienerabsetzbetrag durch eine Behinderung des (Ehe-)Partners (§ 106 Abs. 3),

- ohne Anspruch auf den Alleinverdienerabsetzbetrag durch eine Behinderung des (Ehe-)Partners, wenn er mehr als sechs Monate im Kalenderjahr verheiratet oder eingetragener Partner ist und vom (Ehe-)Partner nicht dauernd getrennt lebt und der (Ehe-)Partner Einkünfte im Sinne des § 33 Abs. 4 Z 1 von höchstens 6 312 Euro jährlich erzielt,

- durch eine Behinderung eines Kindes (§ 106 Abs. 1 und 2), für das keine erhöhte Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 4 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967 gewährt wird,

und erhält weder der Steuerpflichtige noch sein (Ehe-)Partner noch sein Kind eine pflegebedingte Geldleistung (Pflegegeld, Pflegezulage, Blindengeld oder Blindenzulage), so steht ihm jeweils ein Freibetrag (Abs. 3) zu.

(2) Die Höhe des Freibetrages bestimmt sich nach dem Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung). Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung) richtet sich in Fällen,

1. in denen Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden, nach der hiefür maßgebenden Einschätzung,

2. in denen keine eigenen gesetzlichen Vorschriften für die Einschätzung bestehen, nach § 7 und § 9 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957 bzw. nach der Einschätzungsverordnung, BGBl. II Nr. 261/2010, für die von ihr umfassten Bereiche.

Die Tatsache der Behinderung und das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung) sind durch eine amtliche Bescheinigung der für diese Feststellung zuständigen Stelle nachzuweisen. Zuständige Stelle ist:

- Der Landeshauptmann bei Empfängern einer Opferrente (§ 11 Abs. 2 des Opferfürsorgegesetzes, BGBl. Nr. 183/1947).

- Die Sozialversicherungsträger bei Berufskrankheiten oderBerufsunfällen von Arbeitnehmern.

- In allen übrigen Fällen sowie bei Zusammentreffen vonBehinderungen verschiedener Art das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen; dieses hat den Grad der Behinderung durch Ausstellung eines Behindertenpasses nach §§ 40 ff des Bundesbehindertengesetzes, im negativen Fall durch einen in Vollziehung dieser Bestimmungen ergehenden Bescheid zu bescheinigen.

Bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 25 % bis 34 % beträgt der Freibetrag gemäß § 35 Abs. 3 EStG 1988 EUR 124,00 jährlich.

(5) Anstelle des Freibetrages können auch die tatsächlichen Kosten aus dem Titel der Behinderung geltend gemacht werden (§ 34 Abs. 6).

(7) Der Bundesminister für Finanzen kann nach den Erfahrungen der Praxis im Verordnungsweg Durchschnittssätze für die Kosten bestimmter Krankheiten sowie körperlicher und geistiger Gebrechen festsetzen, die zu Behinderungen im Sinne des Abs. 3 führen.

1. (8) Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat mit ausdrücklicher Einwilligung der betroffenen Person dem zuständigen Finanzamt und dem Arbeitgeber, der Bezüge aus einer gesetzlichen Sozialversicherung oder Ruhegenussbezüge einer Gebietskörperschaft im Sinne des § 25 Abs. 1 Z 1, 3 oder 4 auszahlt, die vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen gespeicherten und für die Berücksichtigung von Freibeträgen im Sinne der Abs. 1 bis 3 und 7 erforderlichen personenbezogenen Daten elektronisch zu übermitteln. Die Übermittlung der genannten personenbezogenen Daten ist auch hinsichtlich jener Personen zulässig, die einen Freibetrag im Sinne der Abs. 1 bis 3 und 7 bereits beantragt haben. Die Datenübermittlung ersetzt für den betroffenen Steuerpflichtigen den Nachweis gemäß Abs. 2 und die Bescheinigung gemäß § 62 Z 10. Eine Verwendung dieser personenbezogenen Daten darf nur zu diesem Zweck stattfinden. Personenbezogenen Daten, die nicht mehr benötigt werden, sind zu löschen."

§ 40 Bundesgesetz vom über die Beratung, Betreuung und besondere Hilfe für behinderte Menschen (Bundesbehindertengesetz - BBG), BGBl Nr 283/1990 idgF, lautet:

"(1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpaß auszustellen, wenn

1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder

4. für sie erhöhte Familienbeihilfe bezogen wird oder sie selbst erhöhte Familienbeihilfe beziehen oder

5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.

(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist."

§ 41 Abs 1 BBG sieht vor:

"Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3), ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985, ein rechtskräftiges Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes oder die Mitteilung über die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 5 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl. Nr. 376. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn

1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder

2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder

3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt."

Gemäß § 1 Abs 4 Z 3 Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen idF vom , BGBl II Nr 263/2016, (im Folgenden kurz: Behindertenpass-VO) ist auf Antrag des Menschen mit Behinderung jedenfalls einzutragen:

"die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und

- erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder

- erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder

- erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten, Funktionen oder

- eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder

- eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach Abs. 4 Z 1 lit. b oder d

vorliegen.

2. Unverbindliche Rechtsansicht des Bundesministeriums für Finanzen

2.1. Richtlinie des BMF-010222/0084-VI/7/2014, LStR 2002, Lohnsteuerrichtlinien 2002

"12.5 Behinderungen (§ 34 Abs. 6 EStG 1988 und § 35 EStG 1988)

12.5.1 Anspruchsvoraussetzungen bei Behinderung

12.5.1.4 Wirkung der Feststellungen des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumservice)

839f

Die rückwirkende Ausstellung eines Behindertenpasses ist nicht möglich.

Die im Laufe eines Kalenderjahres erfolgte Feststellung des Grades einer Behinderung gilt für Zwecke der Steuerermäßigung aus Vereinfachungsgründen immer für das ganze Kalenderjahr. Werden in einem Kalenderjahr vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumservice) aufgrund mehrerer Befunde (zB aufgrund eines Antrages auf Neufestsetzung oder einer Neuuntersuchung bei Befristung) unterschiedliche Grade der Behinderung festgesetzt, ist aus Vereinfachungsgründen für das ganze Kalenderjahr der höhere festgestellte Grad der Behinderung anzusetzen.

Ist die Behinderung die Folge eines Ereignisses (z.B. eines Unfalles, einer Operation oder Spitalsaufenthalt im Zuge einer schweren Erkrankung), gilt der festgestellte Grad der Behinderung aus Vereinfachungsgründen für Zwecke der Steuerermäßigung immer rückwirkend bis zum Zeitpunkt des Ereignisses (Unfall, Operation, Spitalsaufenthalt).

In anderen Fällen ist die rückwirkende Feststellung eines Grades der Behinderung grundsätzlich nicht möglich.

839g

Bei Zuerkennung von Pflegegeld ist, sofern ein Behindertenpass (noch) nicht ausgestellt wurde, von einer mindestens 25%igen Erwerbsunfähigkeit (Grad der Behinderung) auszugehen, sodass in diesen Fällen ein Nachweis nicht erforderlich ist."

2.2. Tipp des Bundesministeriums für Finanzen:

"Die bis 2004 von der Amtsärztin oder vom Amtsarzt ausgestellten Bescheinigungen sind weiterhin gültig. Erfolgt eine neue Feststellung durch das Sozialministeriumservice, ersetzt diese allerdings die bisherigen Bescheinigungen." (Quelle: Internetseite des BMF, Stand , https://www.bmf.gv.at/themen/steuern/arbeitnehmerinnenveranlagung/was-kann-ich-geltend-machen/aussergewoehnliche-belastungen/aussergewoehnliche-belastungen-bei-behinderung.html)

2. Sachverhalt

Die im Streitjahr 83-jährige Beschwerdeführerin (Bf) bezog Pflegegeld und begehrte mit den amtlichen Vordrucken L1 und L1ab bei der Einkommensteuerveranlagung 2020 EUR 650,40 für Taxikosten (Kennzahl 435) und EUR 4.620,56 für unregelmäßige Ausgaben für Hilfsmittel und Kosten der Heilbehandlung (Kennzahlen 730 in Verbindung mit Kennzahl 476), in Summe sohin EUR 5.270,96, als Aufwendungen für außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen.

Die Bf behauptete nicht, ihr Mobilitätseinschränkung sei das Ergebnis einer Berufserkrankung. Die vorgelegten Unterlagen lassen Krankheitskosten wegen erhöhten Blutdrucks und der Mobilitätseinschränkung erkennen. Zumindest seit 2010 beantragte die Bf Krankheitskosten, die stets unter Abzug des Selbstbehaltes berücksichtigt wurden.

Im amtlichen Vordruck "L1ab-2020 Bundesministerium für Finanzen - 12/2020 (Aufl. 2020)"waren folgende Punkte bzw Kennzahlen ausgefüllt:


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Außergewöhnliche Belastung mit Selbstbehalt
Punkt 2.1"Siehe ./. 476"
KZ 730
Außergewöhnliche Belastung ohne Selbstbehalt
Außergewöhnliche Belastung ab Behinderungsgrad von 25% oder bei Pflegegeldbezug
Punkt 2.8 Pflegegeld …. wird bezogen
"2020"
Punkt 2.9.1 Pauschaler Freibetrag für das auf die behinderte Person zugelassene Kfz wird wegen Mobilitätseinschränkung beantragt.
"ja"
Punkt 2.9.2 Pauschaler Freibetrag für das auf die behinderte Person zugelassene Kfz wird wegen Vorliegens eines Ausweises gemäß § 29b StVO 1960 beantragt.
"ja"
Außergewöhnliche Belastung ab Behinderungsgrad von 25% oder bei Pflegegeldbezug
Punkt 2.10 Nachweisbare Taxikosten wegen festgestellter Mobilitätseinschränkung werden geltend gemacht … und kein auf die Bf zugelassenes Kfz vorhanden
Kennzahl 435
"EUR 650,40"
Punkt 2.11 unregelmäßige Ausgaben für Hilfsmittel …. oder Kosten der Heilbehandlung …. werden abzüglich Kostenersatz geltend gemacht. …
Kennzahl 476
"EUR 4.620,56"
Steuerliche Vertretung: "Unterstützung durch Bruder" unter Beisetzung auch dessen Telefonnummer

Der Grad der Behinderung war im amtlichen Vordruck L1ab nicht ausgefüllt.

Der Selbstbehalt betrug EUR 7.790,42.

Die belangte Behörde forderte die Bf zum belegmäßigen Nachweis des geltend gemachten Betrages und zur Nachreichung der Bezug habenden Belege in Kopie auf. Die Bf entsprach der Aufforderung und legte Nachweise im Umfang von 94 Seiten vor.

Es wurde für das Jahr 2020 eine amtliche Bescheinigung (Behindertenpass) über die Behinderung und das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung) sowie der Feststellung der Mobilitätseinschränkung durch eine nach dem Einkommensteuergesetz zuständige Stelle weder durch die belangte Behörde von der Bf abverlangt noch von der Bf vorgelegt.

3. Beweiswürdigung

Der oben festgestellte Sachverhalt ergab sich widerspruchsfrei aus dem Verwaltungsakt und ist zwischen der Bf und der belangten Behörde unstrittig.

4. Rechtliche Beurteilung

4.1. Zu Spruchpunkt I.

4.1.1. Formalia

Bescheidbeschwerde und Vorlageantrag sind form- und fristgerecht.

Die belangte Behörde hat den Schriftsatz vom zu Recht als Bescheidbeschwerde (vormals Berufung) gewertet, weil die Bf damit die Änderung des Ausgangsbescheides bewirken will. Dass die Bf aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes die belangte Behörde durch Hinweis auf die Amtswegigkeit vermehrt in eine aktivere Rolle bewegen möchte, ändert nichts an ihrem Parteiwillen, die Abzugsfähigkeit der gelten gemachten Krankheitskosten durchzusetzen.

Die Nichtberücksichtigung des pauschalen Freibetrags für das auf die behinderte Person zugelassene Kfz wurde nicht angefochten.

Mit dem Vorlageantrag wurde die Bescheidbeschwerde dahingehend eingeschränkt, dass als außergewöhnliche Belastung infolge Krankheit ohne Selbstbehalt nur mehr der Betrag von EUR 3.719,12 inklusive Taxikosten bei der Einkommensteuerberechung berücksichtigt werde (KZ 435: EUR 650,00, KZ 476: EUR 3.069,12).

Mit Schriftsatz vom 14. Oktober2022 wurde ins Treffen geführt, dass der für die Geltendmachung einer außergewöhnlichen Belastung vom Bundesministerium für Finanzen aufgelegte amtliche Vordruck L1ab die außergewöhnliche Belastung OHNE Selbstbehalt neben dem Behinderungsgrad von 25% ausdrücklich auch bei Pflegegeldbezug zulasse (Ergänzungsschriftsatz).

Die Bf vertritt die Rechtsansicht, dass der Abzug von Krankheitskosten ohne Selbstbehalt nicht vom Vorliegen einer amtlichen Bescheinigung über die Behinderung und das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung) durch eine nach dem Einkommensteuergesetz zuständigen Stelle abhängt.

Mit ihrer Rechtsansicht wirft die Bf die Rechtsfrage auf, ob für das Kalenderjahr 2020 im Jahr 2021 rückwirkend eine Bescheinigung nach § 35 Abs 2 EStG 1988, konkret ein in zeitlicher Hinsicht negativer Bescheid in einem Behindertenpassverfahren, hätte beschafft werden können und in eventu ob der Staat dafür einzustehen hat, dass die Bf aufgrund des rechtwidrigen amtlichen Vordrucks L1ab-2020 dem hg Beschluss vom nicht Folge geleistet hat.

4.1.2. Rechtlich folgt:

Das Einkommensteuergesetz differenziert zwischen außergewöhnlicher Belastung (§ 34) und Behinderten (§ 35). Zutreffend weist die Beschwerde darauf hin, dass nach juristischem Verständnis gilt: Wo ein Grundsatz, da eine Ausnahme.

Die belangte Behörde führte in der Beschwerdevorentscheidung aus: "Krankheitskosten können grundsätzlich nur ohne Selbstbehalt berücksichtigt werden, wenn eine Feststellung eines Grades der Behinderung aufgrund bestimmter Erkrankungen vorliegt." Die belangte Behörde hat mit dieser Begründung das Wort "grundsätzlich" nach Allgemeinverständnis im Sinn von "ausschließlich" verwendet.

4.1.3. Verhältnis von § 34 und § 35 EStG 1988

Krankheitskosten sind grundsätzlich - und damit ohne die Erfüllung weiterer Voraussetzungen - nach § 34 EStG 1988 zu berücksichtigen, wenn die in Absatz 1 leg.cit. genannten Merkmale kumulativ (gemeinsam) erfüllt sind. Krankheitskosten als Kosten für eine eigene Krankheit müssen demnach außergewöhnlich sein UND zwangsläufig erwachsen UND die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigen. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wird dann wesentlich beeinträchtigt, wenn die Höhe der Krankheitskosten den von der Höhe des adaptierten Einkommens abhängigen Selbstbehalt übersteigt. Von Krankheitskosten, die dem § 34 EStG 1988 unterfallen, ist ein Selbstbehalt abzuziehen.

Eine Krankheit kann aufgrund ihrer Intensität und/oder ihrer Dauer zu einer Behinderung werden. Insbesondere die längere oder dauerhafte Einkommensbelastung infolge einer Krankheit, die sich zu einer Behinderung entwickelt hat, sucht das Einkommensteuergesetz 1988 durch seinen § 35 und die darauf aufbauende Verordnung zu begegnen.

IZm Krankheitskosten ist § 35 EStG 1988 als Ausnahme zur Grundsatznorm des § 34 EStG 1988 zu sehen. Krankheitskosten ohne Abzug eines Selbstbehaltes sind nur als Kosten der Behinderung nach § 35 EStG 1988 möglich, konkret durch folgende Normenkette:

§ 35 Abs 1 (Krankheit ist aufgrund ihrer Dauer und ihres Ausmaßes als Behinderung anzusehen) UND § 35 Abs 2 (Nachweis des Grades der Behinderung durch eine zuständige Stelle) UND § 35 Abs 3 (Grad der Behinderung beträgt mindestens 25%) UND § 35 Abs 6 (Anstelle des Freibetrages nach Absatz 3 werden die tatsächlichen Kosten aus dem Titel der Behinderung geltend gemacht) führen zu § 34 Abs. 6 EStG 1988 vierter und fünfter Teilstrich, aus dem sich die Berücksichtigung der Krankheitskosten als Behinderungskosten OHNE SELBSTBEHALT ergibt.

Damit hat die Bf die Rechtslage, für die Berücksichtigung von Krankheitskosten als außergewöhnliche Belastung/Kosten der Behinderung bei der Berechnung der Einkommensteuer OHNE SELBSTBEHALT komme es auf einen Nachweis des Grades der Behinderung nicht an, verkannt. Der Nachweis ist materiell-rechtliche Voraussetzung für die Einkommensteuerberechung ohne Selbstbehalt für Krankheitskosten/Behinderungskosten.

4.1.4. Behindertenpass und Rückwirkung

Der Entscheidung der Abgabenbehörde sind die jeweils vorliegenden Daten zugrunde zu legen (). Der Nachweis gemäß § 35 Abs 2 EStG 1988 müsste sich auf das Jahr der Veranlagung 2020 beziehen. Aus der Sicht der im Jahr 2021 erfolgten Antragstellung auf Durchführung der Arbeitnehmerveranlagung müsste die Bescheinigung rückwirkend ausgestellt werden. Weder das Allgemeine Verfahrensgesetz (AVG) noch das Bundesbehindertengesetz (BBG) als zu vollziehendes Materiengesetz sehen eine rückwirkende Antragstellung vor.

"Eine rückwirkende Ausstellung eines Behindertenpasses ist grundsätzlich nicht möglich. Ist die Behinderung aber die Folge eines Ereignisses (Unfall, Operation, Spitalsaufenthalt), gilt der festgestellte Grad der Behinderung nach LStR 839f auch für steuerliche Zwecke rückwirkend bis zum Zeitpunkt des Ereignisses, wenn das Bundesamt die Behinderung rückwirkend festgestellt hat (s zB RV/2100869/2018; , RV/7105950/2017; RV/0582-I/11). …" (Peyerl in Jakom EStG, 15. Aufl. (2022), § 35 Tz 11, Ausschreibung abgekürzter Worte durch BFG).

Laut herrschender Lehre (Jakom) und Rechtsprechung des unabhängigen Finanzsenates und des Bundesfinanzgerichts ist die rückwirkende Ausstellung eines Behindertenpasses grundsätzlich nicht möglich. Das BFG hat sich in den genannten Fällen den Lohnsteuerrichtlinien 2002, KZ 839f, angeschlossen und anerkennt nur für die dort genannten Ausnahmen die Rückwirkung.

4.1.5. Sachlichkeitsgebot, Prinzip der Besteuerung nach der persönlichen Leistungsfähigkeit

Nach Ansicht des BFG bestehen verfassungsrechtliche Zweifel, ob diese Ausnahmen mit dem aus dem Gleichheitsgrundsatz erfließenden Sachlichkeitsgebot in Einklang stehen, denn die Auswahl erscheint aus der Sicht des Einkommensteuerrechts, das vom Grundsatz der Besteuerung nach der persönlichen Leistungsfähigkeit getragen wird, willkürlich. Nach dem im EStG 1988 vorherrschenden Leistungsfähigkeitsprinzip müsste jede Behinderung, die die Tatbestandsmerkmale des § 35 EStG 1988 erfüllt, steuerlich erfasst werden können.

Anders als das AVG und BBG ist für Tatbestände des Einkommensteuergesetzes die rückwirkende Betrachtung geradezu der Normalfall, denn erst nach Abschluss eines Kalenderjahres stehen die Einkünfte fest, die grundsätzlich für den Zeitraum 1.1. bis 31.12. (allgemeiner Bilanzstichtag) eines bestimmten Kalenderjahres erwirtschaftet wurden, und darauf aufbauend das Einkommen berechnet werden kann. Der Abgabenanspruch an der Einkommensteuer entsteht gemäß § 4 Abs 2 lit a Z 2 BAO nach dem 31.12, für das die Veranlagung vorgenommen wird, erst nach Ablauf des Kalenderjahres kann das Einkommen gegenüber der Abgabenbehörde erklärt werden. Das Recht der Einkommensteuerfestsetzung unterliegt - abgesehen von den hier nicht interessierenden Ausnahmen - der Verjährung von fünf Jahren (§ 207 Abs 1 und 2 BAO) und in diesem Zeitrahmen sind auch Wiederaufnahmen von Verfahren und erstmalige Anträge auf Durchführung einer Arbeitnehmerveranlagung zulässig. Betriebsprüfungen werden durchgeführt und haben im Wege der Wiederaufnahme von Verfahren regelmäßig die Durchbrechung der Rechtskraft ergangener Einkommensteuerbescheide zur Folge und aufgrund der neu gewonnenen Erkenntnisse ergehen für vergangene Zeiträume andere Einkommensteuerbescheide.

Gemäß § 35 Abs 2 EStG dritter Teilstrich hat das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen den Grad der Behinderung im negativen Fall durch einen in Vollziehung der §§ 40 ff des Bundesbehindertengesetzes ergehenden Bescheid zu bescheinigen.

Der in leg.cit. angeführte "negative Fall" wird allgemein dahin verstanden, dass damit der Fall gemeint ist, wenn die Krankheit den für die Ausstellung eines Behindertenpasses erforderlichen Grad von 50% nicht erreicht, was aber eine steuerliche Begünstigung nicht ausschließt, da nach den Vorschriften des Einkommensteuergesetzes dafür ein Grad der Behinderung ab 25% ausreicht. In diesem Fall stellt das Bundessozial einen Behindertenpass nicht aus, sondern erlässt gemäß den Vorschriften des AVG einen Abweisungsbescheid, der die Bescheinigung iSd § 35 Abs 2 EStG dritter Teilstrich darstellt.

Aus der Sicht des Einkommensteuerrechts fungiert das Bundessozialamt als Sachverständiger, der das zur Beantwortung der einkommensteuerlichen Rechtsfrage notwendige medizinische Fachwissen in Form eines Behindertenpasses oder negativen Bescheides einbringt. Auf die nachfolgenden rechtlichen Ausführungen zur Sachverständigenposition wird auch Punkt 4.1.7. verwiesen, die auch hier gelten.

Das Bundesfinanzgericht ist der Ansicht, dass der Legalbegriff des negativen Falls auch den Fall erfasst, dass ein Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses ab einem zurückliegenden Zeitpunkt eingebracht wird, der vom Bundessozialamt zwar abzuweisen ist, womit das Bundessozialamt aber den Grad der Behinderung zu einem zurückliegenden Zeitpunkt feststellt, also eine meritorische Entscheidung mit Rückwirkung trifft. Die Rückwirkung ist nach dem BBG unzulässig und ein solcher Bescheid ist nach dem AVG rechtswidrig, jedoch wird diese Feststellung für Zwecke der Einkommensteuer und der abgaberechtlichen Verfahrensordnung benötigt, sodass ein solcher Bescheid aus verfassungsrechtlicher Sicht rechtskonform ist.

Das Verwaltungsverfahren nach §§ 40 BBG ist im Einkommensteuergesetz für Zwecke der Einkommensteuerbemessung eingerichtet und hat folglich die Verfahrensgrundsätze des Abgabenrechts zu beachten, soweit dies für die Abgabenbemessung erforderlich ist. Die erst für abgelaufene Zeiträume mögliche Einkommensteuerfestsetzung und die Verjährungsbestimmung des § 207 Abs 2 BAO derogieren insoweit dem AVG und dem BBG, denen zufolge die Antragserledigung ex nunc mit dem Tag der Antragstellung zu erfolgen hat. Die Bundesabgabenordnung ist in diesem Fall im Verhältnis zum Allgemeinen Verwaltungsgesetz die speziellere Norm und verdrängt kraft Spezialität insoweit das AVG (lex specialis derogat legi generali).

Diese Auslegung ist verfassungsrechtlich geboten, um sämtliche Behinderungen iSd § 35 EStG 1988 zu erfassen, damit das Prinzip der Besteuerung nach der persönlichen Leistungsfähigkeit, das die Entlastung des Einkommens in den Fällen des iSd § 35 EStG 1988 bewirken soll, zu Tragen kommt. Nach Ansicht des BFG hat die rückwirkende Ausstellung eines Behindertenpasses daher stets dann zu erfolgen, wenn das Materiengesetz, für dessen Zwecke der Behindertenpass für den Abgabepflichtigen günstige Rechtsfolgen bewirkt, iVm der für das Materiengesetz geltenden Verfahrensordnung die Erfassung von zurückliegenden Sachverhalten kennt.

4.1.6. Ungleiche Behandlung im Vergleich mit Kosten der Behinderung für Kinder

Die Familienbeihilfe wird ist - abgesehen von der hier nicht interessierenden Ausnahme - ein Antragsverfahren, und zwar sowohl hinsichtlich des Grundbetrages (§ 8 Abs 1 bis 3 FLAG 1967) als auch hinsichtlich des Erhöhungsbetrages für erheblich behinderte Kinder (§ 8 Abs 4 FLAG). Grundbetrag und Erhöhungsbetrag für erheblich behinderte Kinder werden nur auf Antrag gewährt (§ 10 Abs 1 FLAG), wobei der Erhöhungsbetrag für erheblich behinderte Kinder besonders zu beantragen ist. Gemäß § 10 Abs 3 FLAG werden die Familienbeihilfe und die erhöhte Familienbeihilfe für ein erheblich behindertes Kind höchstens für fünf Jahre rückwirkend vom Beginn des Monats der Antragstellung gewährt. Der Erhöhungsbetrag für ein erheblich behindertes Kind ist zu gewähren, wenn der GdB zumindest 50% beträgt (§ 8 Abs 5 FLAG). Ergeben Sachverständigengutachten und Bescheinigung des Bundessozialamtes einen GdB von unter 50%, jedoch zumindest 25%, so stellen Sachverständigengutachten und Bescheinigung die amtliche Bescheinigung iSd § 35 Abs 1 EStG 1988 letzter Teilstrich iVm § 35 Abs 2 dritter Teilstrich HS 1 EStG 1988 dar. In diesem Verfahren handelt das Bundessozialamt unmittelbar auf Grundlage von Abgabengesetzen.

Ergibt sich zB für das Kind des Abgabepflichtigen ein GdV von 40% rückwirkend ab den letzten fünf Jahren, so sind das Sachverständigengutachten und Bescheinigung als amtliche Bescheinigung iSd EStG als neues Beweismittel (§ 303 Abs 1 lit a BAO novum repertum) im Einkommensteuerverfahren des Elternteils anzusehen und ermöglichen die Wiederaufnahme des Einkommensteuerverfahren.

Kosten wegen eigener Behinderung des Abgabepflichten (und dessen Partners) sowie Kosten für ein behindertes Kind sind gleichartige Aufwendungen und belasten das Einkommen des Abgabepflichtigen auf dieselbe Art und Wiese, sodass beide Behinderungskosten einkommensteuerrechtlich ebenso gleichmäßig zu behandeln sind. Auch aus diesem Grund läge ein Verstoß gegen das verfassungsrechtlich garantierte Sachlichkeitsgebot vor, wäre die rückwirkende Feststellung des GdB des Abgabepflichtigen durch das Bundessozialamt nicht zulässig, jene für das Kind hingegen schon.

4.1.7. historische Auslegung

Im Anwendungsbereich des Einkommensteuergesetzes 1972 waren Freibeträge auf der Lohnsteuerkarte für das abgelaufene Kalenderjahr auf der Rückseite der Lohnsteuerkarte vom Wohnsitzfinanzamt einzustragen, damit der Arbeitgeber (bei ganzjährig durchgehender Beschäftigung) oder das Wohnsitzfinanzamt (bei nicht ganzjährig durchgehender Beschäftigung) den beantragten Jahresausgleich durchführen konnte. Die zur Abgrenzung einer Krankheit von einer Körperbehinderung notwendige medizinische Beurteilung erfolgte durch die in § 106 Abs 2 EStG 1972 taxativ aufgezählten Einrichtungen.

Die Wohnsitzfinanzämter haben im Verfahren der Freibetragseintragung die Abgabepflichtigen mit dem vom BMF aufgelegten amtlichen Vordruck den Gesundheitsämtern (in Wien Amtsarzt) unter Bezeichnung der Krankheit (zB Diabetes mellitus) zugewiesen, damit diese/r für das abgelaufene Antragsjahr den GdB feststellt. Die Zuweisung war so gestaltet, dass das Finanzamtsorgan das aus der Sicht des beantragten Kalenderjahres erforderliche Datum (meist der 1.1. des Antragsjahres) einsetzen konnte.

Weder war das Bundesamt für Soziales Teil der erschöpfenden Aufzählung noch war der Behindertenpass im Einkommensteuergesetz ausdrücklich als Nachweis für den Grad der Behinderung genannt.

Die Zuweisung zu den Gesundheitsämtern (in Wien Amtsarzt) erfolgte in einem Abgabenverfahren, um die erforderliche medizinisch-fachmännische Beurteilung einzuholen, die nicht in einem gesonderten Behördenverfahren nach dem AVG zu treffen war. Das Gesundheitsamt bzw der Amtsarzt fungierte als Sachverständiger im Abgabenverfahren und brachte ausschließlich sein medizinisches Fachwissen ein. Dieses Verfahren garantierte, dass sämtliche Kosten iZm Behinderungen im Abgabenverfahren erfasst wurden und das Prinzip der Besteuerung nach der persönlichen Leistungsverfahren in jedem Abgabenverfahren gewährleistet war.

Bis waren für die Feststellung des Zeitpunktes des Eintritts des Grades der Behinderung nach § 35 Abs 2 EStG 1988 letzter Teilstrich, id Stammfassung BGBl 400/1988, weiterhin zunächst die Gesundheitsämter (in Wien Amtsarzt) zuständig. Auch das Prozedere erfolgte wie im Anwendungsbereich des EStG 1972 per amtliche Zuweisung. Die Stammfassung des § 35 Abs 2 EStG 1988 hat daher ebenso garantiert, dass für Zwecke der Einkommensteuerfestsetzungen der Grad der Behinderung rückwirkend festgestellt werden konnte.

Mit Bundesgesetz vom , BGBl 314/1994, Bundesgesetz: Arbeitsmarktservice-Begleitgesetz, AMS-BegleitG, wurde dem § 35 Abs 2 EStG 1988 letzter Teilstrich folgende Wortfolge angefügt: "oder das örtlich zuständige Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen durch Ausstellung eines Behindertenpasses (§ 40 Abs. 2 des Bundesbehindertengesetzes) in allen übrigen Fällen sowie bei Zusammentreffen von Behinderungen verschiedener Art."

Aus der Gleichstellung der Gesundheitsämter (im Bereich der Stadt Wien der Amtsarzt des jeweiligen Bezirkspolizeikommissariates) und des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen ergab sich nur die gemeinsame Sachkompetenz in den Angelegenheiten "aller übrigen Fälle" sowie "bei Zusammentreffen von Behinderungen verschiedener Art", sondern auch die Verpflichtung zur gleichmäßigen verfahrensrechtlichen Vorgangsweise, konkret die Befugnis zur Feststellung, ob eine Krankheit das Ausmaß einer Behinderung erreicht hat sowie zu welchem Zeitpunkt die Krankheit zur Behinderung wurde und den Grad der Behinderung - gegebenenfalls rückwirkend - zu bestimmen.

Dass das Gesundheitsamt die Bescheinigung bloß aufgrund medizinischer Expertise und unmittelbar für die anfragende Abgabenbehörde als deren Sachverständiger ausstellte, jedoch das Bundessozialamt als Behörde demgegenüber für sein Verwaltungshandeln in einem Behindertenpassverfahren das Allgemeine Verfahrensgesetz - AVG- zu beachten hat, das die rückwirkende Antragserledigung nicht vorsieht, hat nach Ansicht des BFG nicht zur Folge, dass das AVG den Grundsätzen des Einkommensteuergesetzes und der Bundesabgabenordnung derogiert. Eine am Sachlichkeitsgebot orientierte Auslegung liegt nur dann vor, wenn beiden Einrichtungen, die dieselben medizinischen Fragen zu beantworten haben, in zeitlicher Hinsicht dieselbe Kompetenz zukommt.

Mit Bundesgesetz vom , BGBl I 180/2004, Abgabenänderungsgesetz 2004 - AbgÄG 2004, erhielt § 35 Abs 2 EStG 1988 letzter Teilstrich seine aktuelle Fassung:

"In allen übrigen Fällen sowie bei Zusammentreffen von Behinderungen verschiedener Art das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen; dieses hat den Grad der Behinderung durch Ausstellung eines Behindertenpasses nach §§ 40 ff des Bundesbehindertengesetzes, im negativen Fall durch einen in Vollziehung dieser Bestimmungen ergehenden Bescheid zu bescheinigen."

Seit sind die Gesundheitsämter (in Wien der Amtsarzt) nicht mehr im taxativen Katalog des § 35 Abs 2 EStG 1988 enthalten. Deren rechtliche Einordnung als Sachverständiger in einem Abgabenverfahren beeinflusst unverändert die Beantwortung der Rechtsfrage nach den Befugnissen des Bundessozialamtes bei Ausstellung von Behindertenpässen. Nach Ansicht des BFG zeigt auch die historische Entwicklung vom § 106 Abs 2 EStG 1972 zum § 35 Abs 2 EStG 1988, dass sämtliche Institutionen, die Behindertenbescheinigungen ausstellen, lediglich ihr medizinisches Fachwissen in das Abgabenverfahren einbringen und daher den Zwecken des Abgabenrechts dienen. Das Bundessozialamt hat somit in zeitlicher Hinsicht dieselbe Befugnis wie zuvor die Gesundheitsämter. Das Bundessozialamt kann dieser verfassungsrechtlich gebotenen Verpflichtung nicht entgegenhalten, dass das AVG eine rückwirkende Ausstellung des Behindertenpasses nicht vorsehe. Die Verfahrensgrundsätze des Abgabenrechts derogieren insoweit dem Grundsatz des AVG, dass Anträge ausschließlich mit dem Tag ihrer Einbringung wirksam gestellt werden können.

4.1.8. Conclusio

Die Auslegung des dritten Teilstrichs des § 35 Abs 2 EStG 1988, in der Fassung des Bundesgesetzes vom , BGBl I 180/2004, Abgabenänderungsgesetz 2004 - AbgÄG 2004, anhand des verfassungsrechtlichen Sachlichkeitsgebotes iVm dem im Einkommensteuerrecht vorherrschenden Prinzips der persönlichen Leistungsfähigkeit, wonach jeder nach Maßgabe seiner individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zur Staatsfinanzierung beitragen soll, sodass Behindertenkosten bei der Einkommensteuerfestsetzung gleichmäßig berücksichtigt werden müssen, iVm der historischen Entwicklung der zur medizinischen Beurteilung berufenen Institutionen gebietet, dass die dem Bundessozialamt durch leg.cit. zugewiesene Funktion die eines Sachverständigen ist, sodass die Verfahrensgrundsätze des Abgabenrechts insoweit dem Grundsatz des AVG, dass Anträge ausschließlich mit dem Tag ihrer Einbringung wirksam gestellt werden können, derogieren.

§ 106 EStG 1972 anerkannte Behindertenausweise nicht als Nachweise für Zwecke einer Körperbehinderung. Unbestritten stellt es eine positive Rechtsentwicklung dar, dass der Behindertenausweis im EStG 1988 als tauglicher Nachweis für Behinderungen anerkannt wird. Es ist allerdings nicht davon auszugehen, dass der Abgabengesetzgeber mit der Aufnahme der Bundessozialämter und der Behindertenausweise den Behinderten Rechte dahin einschränken wollte, dass eine rückwirkende Feststellung des GdB nicht mehr möglich sein sollte.

Das Bundessozialamt ist nach abgabenrechtlichen Grundsätzen verpflichtet, im Fall der rückwirkenden Beantragung eines Behindertenpasses für den zwischen Rückwirkungstag und Tag der Antragstellung gelegenen Zeitraum einen negativen Bescheid zu erlassen und darin den GdB (im Einzelfall bis 100%) festzustellen. Mit Wirkung ab Tag der Antragstellung wäre der Behindertenausweis auszustellen oder ebenfalls eine Abweisung auszusprechen, weil der erforderliche GdB nicht erreicht wird.

4.1.9. Wortfolge im amtlichen VordruckL1ab-2020 und Lohnsteuerrichtlinien 2002, Kennzahl 839g

Die für die Bf irreführende Formulierung "Außergewöhnliche Belastung ab Behinderungsgrad von 25% oder bei Pflegegeldbezug" geht auf die Lohnsteuerrichtlinien 2002, Kennzahl 839g, zurück (LStRL 2002). Lohnsteuerrichtlinien zählen als bloßer Erlass nicht zum geschlossenen Rechtsquellenkatalog und sind für die (Verwaltungs)Gerichtsbarkeit unbeachtlich. Erlässe sind verwaltungsinterne Vorschriften, die die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung garantieren sollen (Weisung). Sie sind nicht wie Gesetze oder Verordnungen rechtlich verbindlich. Die KZ 839g Lohnsteuerrichtlinien 2002 ist vor dem Hintergrund der zuvor dargestellten Gesetzeslage, die allgemein verbindlich ist, rechtswidrig. Die Bf kann aus der KZ 839g LStRL 2002 keine subjektiven Rechte ableiten. Dieser Einwand verhilft der Beschwerde nicht zum Erfolg.

. Mitwirkungspflicht, Rechtfertigung, Vertrauensschutz

Den Abgabepflichtigen trifft gemäß § 138 BAO eine Mitwirkungspflicht am Abgabenverfahren. Mit Schriftsatz vom hat die Bf ausdrücklich kundgetan, dem hg Beschluss vom nicht Folge zu leisten. Damit wäre die Beschwerde bereits aus diesem Grund als unbegründet abzuweisen.

Jedoch hat sie mit diesem Schriftsatz vorgetragen, dass der amtliche Vordruck L1ab die für sie irreführende Wortfolge "Außergewöhnliche Belastung ab Behinderungsgrad von 25% oder bei Pflegegeldbezug" aufweist. Der Pflegegeldbezug ist unbestritten gegeben. Oben wurde bereits ausgeführt, dass diese Wortfolge auf die LStRL 2002 zurückgeht und dass Richtlinien als interne Weisungen keine für Gerichte verbindliche Rechtsquellen darstellen.

Der vom "Bundesministerium für Finanzen - 12/2020 (Aufl. 2020) aufgelegteVordruck L 1ab-2020" ist ein amtlicher Vordruck und besitzt in Hinblick auf § 133 Abs 2 BAO Außenwirkung. Leg.cit bestimmt, dass Abgabenerklärungen unter Verwendung amtlicher Vordrucke abzugeben sind, sofern amtliche Vordrucke für Abgabenerklärungen aufgelegt sind. Die Bf war also gesetzlich verpflichtet, den amtlichen Vordruck L 1ab-2020 für die Geltendmachung ihrer außergewöhnlichen Belastung zu verwenden.

Vertrauensschutz nach dem Grundsatz von Treu und Glauben kann - unter weiteren Voraussetzungen - nur einer Disposition des Steuerpflichtigen zukommen, die durch ein das Vertrauen rechtfertigendes Verhalten der Behörde ausgelöst worden ist (zB mHa 3166, 3225 bis 3227/79 und auf ). Für den Vertrauensschutz ist essentiell, dass die zuständige Abgabenbehörde eine rechtswidrige Auskunft erteilt hat und die Bf im Vertrauen auf diese Auskunft bestimmte Handlungen (hier Antrag auf Behindertenausweis) bewusst nicht gesetzt hat. Das Finanzamt Österreich als belangte Behörde hat jedoch kein Verhalten gesetzt, durch das die Bf gerechtfertigt wäre. Für die irreführende und im Widerspruch zum geltenden Recht stehende Gestaltung des amtlichen Vordrucks L 1ab-2020 ist das Bundesministerium für Finanzen verantwortlich.

Bemerkt wird, dass nach § 1 Abs 4 Z 3 Behindertenpass-VO auf Antrag eine festgestellte Mobilitätseinschränkung im Behindertenpass einzutragen ist, sodass eine solche bei einem GdB von unter 50% nicht denkbar erscheint (vgl KZ 435 des amtlichen Vordrucks L1ab).

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

4.2. Zu Spruchpunkt II. (Revision)

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die aufgeworfene Rechtsfrage, ob ein GdB nach § 35 Abs 2 EStG 1988 rückwirkend vom BSA festzustellen ist, war mangels Mitwirkung der Bf nicht zu beantworten. Anders als die Zuweisung zum Gesundheitsamt/Amtsarzt (§ 106 Abs 2 EStG 1972) ist das Behindertenpassverfahren ein antragsgebundenes Verfahren (§ 35 Abs 2 EStG 1988). Das BFG erwartete, dass das BSA zunächst eine rückwirkende Feststellung zum des GdB nicht vornimmt. Diesfalls hätte das BFG im Antragsverfahren der Bf mit Beschluss das BSA unter Hinweis auf seine verfassungsrechtlich gebotene Verpflichtung ersucht, eine rückwirkende Feststellung zum des GdB vorzunehmen, hätte den Beschluss wie hier unter Punkt 4.1. begründet und, da das Bundessozialamt nicht Partei ist, gegen den verfahrensleitenden Beschluss den Rechtszug zu den Gerichtshöfen den öffentlichen Rechts zugelassen.

Da mangels Mitwirkung der Bf das BFG nicht weiter einschreiten konnte, war die Revision nicht zuzulassen.

Wien, am

Zusatzinformationen


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Materie
Steuer
FLAG
betroffene Normen
§ 35 Abs. 2 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 8 Abs. 1 bis 3 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
§ 1 Abs. 4 Z 3 Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, BGBl. II Nr. 495/2013
§ 133 Abs. 2 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
§ 35 Abs. 1 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 34 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 35 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 106 Abs. 2 EStG 1972, Einkommensteuergesetz 1972, BGBl. Nr. 440/1972
§ 106 EStG 1972, Einkommensteuergesetz 1972, BGBl. Nr. 440/1972
§ 8 Abs. 4 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
§§ 40 ff BBG, Bundesbehindertengesetz, BGBl. Nr. 283/1990
§ 41 Abs. 1 BBG, Bundesbehindertengesetz, BGBl. Nr. 283/1990
§ 8 Abs. 5 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
Verweise
Anmerkung
ECLI
ECLI:AT:BFG:2023:RV.7102758.2022

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at