Erhöhte Familienbeihilfe; der Grad der Behinderung konnte auf Grund fehlender Befunde für den strittigen Zeitraum nicht mit 50% festgestellt werden
Entscheidungstext
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter Dr. Wolfgang Pavlik über die Beschwerde der Bf., Adresse, vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Österreich vom , betreffend Abweisung des Antrages auf erhöhte Familienbeihilfe ab Dezember 2021, zu Recht erkannt:
Die Beschwerde wird gemäß § 279 BAO als unbegründet abgewiesen.
Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art 133 Abs 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) unzulässig.
Entscheidungsgründe
Verfahrensgang
Die Beschwerdeführerin (Bf) bezog für ihren Sohn N., geb. 2008, auf Grund von Vorgutachten des Sozialministeriumservice den Erhöhungsbetrag zur Familienbeihilfe wegen Erkrankung/Behinderung (angeborene Immunschwäche, Tik Störung).
Am brachte die Bf über FinanzOnline einen Antrag auf Weitergewährung ab Dezember 2021 ein.
N. wurde im Zuge des Antragsverfahrens am von Dr.in Dok1, Fachärztin für Allgemeinmedizin, untersucht und folgendes Gutachten erstellt:
Anamnese:
Die Begutachtung erfolgt nach Neuantrag auf Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe, es existieren VGA aus 2012 ( GdB 50 vH , 2016 GdB 60 vH und 2021: GdB 30 vH ) Es besteht eine angeborene Hypogammaimmunglobulinämie mit erniedrigtem IgM . Im GA von 2016 wurden folgende Leiden berücksichtigt: Immunschwäche ...50 vH, Leiden 2: Verdacht auf Epilepsie ... 50 vH, sensorische Integrationsstörung . 20 vH
Derzeitige Beschwerden:
Aus Sicht der Mutter gab es im letzten Jahr 2 schwer verlaufenden Infektionen, einmal Rotaviren und einmal eine Covid Infektion, es kam zu keinem stationären Aufenthalt. Es besteht nach wie vor die Ticstörung, es komme häufig am Tag zum Grimassieren, zu Schnippbewegungen, es käme auch zu Zwangshandlungen, es müssen manche Handlungen wiederholt werden.
Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
Vit D 3 gtt 30 gtt lx wtl., Ferrotab 1-0-0
Sozialanamnese:
N. besucht das Gymnasium in der X-Gasse in der 4. Klasse, er lebt mit der Mutter und dem 12 jährigen Bruder im gemeinsamen Haushalt
Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
keine aktuellen Befunde vorhanden
Untersuchungsbefund: Allgemeinzustand: gut
…
Psycho(patho)logischer Status:
kooperativer junger Mann , eher schüchtern , wirkt kognitiv normal entwickelt
Das Finanzamt legte die in dem Gutachten getroffenen Feststellungen - Gesamtgrad der Behinderung von 30% ab - seiner Entscheidung zu Grunde und wies den Antrag auf Familienbeihilfe mit Bescheid vom unter Verweis auf die Bestimmungen des § 8 Abs 5 FLAG 1967, wonach Anspruch auf den Erhöhungsbetrag wegen erheblicher Behinderung ua. besteht, wenn der festgestellte Grad der Behinderung mindestens 50 Prozent beträgt und die Behinderung mehr als 3 Jahre andauert, was im vorliegenden Fall nicht zutreffe, da im Gutachten des Sozialministeriumservice der Grad der Behinderung mit lediglich 30% festgestellt worden sei, ab.
Am brachte die Bf einen neuen Antrag ein. Der Antrag wurde vom Finanzamt als Ergänzung bzw. Urgenz des alten Antrages vom gewertet.
Mit Bescheid vom hob das Finanzamt den Bescheid vom gemäß § 299 Bundesabgabenordnung (BAO) auf, da im Spruch des Bescheides irrtümlich der Anspruch auf den Grundbetrag der Familienbeihilfe ab Dezember 2021 verneint wurde statt richtigerweise der Anspruch auf den Erhöhungsbetrag.
In ihrer Beschwerde vom ersuchte die Bf um neuerliche Überprüfung der erhöhten Familienbeihilfe für N.. Leider hätte sie bei der letzten Untersuchung nicht aktuelle Befunde gehabt und die Ärztin habe gemeint, sie müsste die erhöhte Familienbeihilfe neu beantragen.
N. wurde auf Grund der eingebrachten Beschwerde am neuerlich untersucht und von Dr.in Dok2, Fachärztin für Allgemeinmedizin, im Gutachten vom der Grad der Behinderung mit 50% ab November 2022 festgestellt.
Die Sachverständige erstellte folgendes Gutachten:
"Anamnese: VGA, 09/2022:
Immunschwäche - 30%
nunmehr vorgelegte Befunde: Zwangsgedanken und Handlungen; länger bestehende Tick-Störung; Verdacht auf Asperger Autismus
Derzeitige Beschwerden:
Letztes Mal habe er keine 50% bekommen, weil dieser Befund von der Psychologin gefehlt habe, den habe man jetzt dabei. Er habe Tick-Störungen mit den Händen, mit dem Mund, er müsse immer auf eine Linie steigen, oder immer dazwischen und das habe er schon sehr lange. In der Schule gehe es ihm gut, er habe soziale Probleme.
Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel: aktuell keine Therapie
Sozialanamnese:
besucht 4. Klasse AHS, lebt im Familienverband
Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe): Befunde mitgebracht
klinisch psychologischer Befund, 11/2022:
Zwangsgedanken und Handlungen, länger bestehende Tick-Störung, Verdacht auf Asperger Autismus
Untersuchungsbefund:
…
Psycho(patho)logischer Status:
beantwortet Fragen adäquat, kann einfache Anweisungen korrekt umsetzen, besucht 4. Klasse AHS ohne Probleme, findet sich im öffentlichen Raum ausreichend sicher selbstständig zurecht.
Begründung - GdB liegt rückwirkend vor:
aktueller GdB entsprechend nunmehr vorgelegter Unterlagen (klinisch psychologischer Befund Mag. S. 11/2022)
alle übrigen entsprechend VGA"
Das Finanzamt wies die Beschwerde unter Zugrundelegung der in dem Gutachten getroffenen Feststellungen mit Beschwerdevorentscheidung vom unter Hinweis auf die maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen (§ 8 Abs 4 bis 6 FLAG 1967) mit der Begründung ab, dass mit Gutachten des Sozialministeriumservice vom bei N. ein Grad der Behinderung in Höhe von 30% ab festgestellt worden sei. Die erhöhte Familienbeihilfe sei somit ab Dezember 2022 (Anschluss an letzten Bezug der erhöhten Familienbeihilfe) abgewiesen worden. Mit Gutachten des Sozialministeriumservice vom sei ein Grad der Behinderung von 50% ab November 2022 festgestellt worden. Für den Vorzeitraum sei keine Änderung bekannt.
Da nach zweimaliger Untersuchung beim Sozialministerium für den Zeitraum August 2021 - Oktober 2022 keine erhebliche Behinderung mit einem Grad von mindestens 50 vH festgestellt worden sei, sei der Anspruch auf erhöhte Familienbeihilfe für den strittigen Zeitraum ausgeschlossen.
Die Bf bringt im Vorlageantrag vom vor, dass ihr Sohn seit vielen Jahren bzw. seit der Geburt an diesen Erkrankungen leide. Diese seien das letzte Jahr nicht plötzlich verschwunden. Daher stehe ihr auch für diesen Zeitraum die erhöhte Familienbeihilfe zu. Die Diagnose der Immunschwäche und der Tic Störung sei bereits seit Jahren, genauer gesagt vor 2018, bekannt, weshalb sie Einspruch erhebe und um Richtigstellung und Überweisung bitte. Wieso die Amtsärztin dies nicht erkannt und nicht rückwirkend bewilligt habe, sei für sie nicht verständlich. Die erhöhte Familienhilfe sei auch damals rückwirkend (ab Bekanntwerden der Erkrankungen) bis zur Geburt nachgezahlt worden. Sie verstehe nicht warum nun nach jahrelanger Auszahlung ein Jahr nicht gezahlt werde. Die Erkrankung sei in diesem Jahr nicht wie durch ein Wunder verschwunden. Auch die Rücksprache mit dem Anwalt habe ergeben, dass es sich hier nur um ein Versehen handeln könne. Sie bitte daher um Überprüfung.
Das Bundesfinanzgericht hat erwogen
Sachverhalt:
Der Sohn der Bf wurde im Zuge des Antrags- und Beschwerdeverfahrens zwei Mal im Sozialministeriumservice untersucht.
Im Gutachten vom setzte die Sachverständige bei N. den Grad der Behinderung mit 30% rückwirkend ab fest.
Im Gutachten vom setzte die Sachverständige den Grad der Behinderung mit 50% ab November 2022 fest.
Rechtsgrundlagen:
Gemäß § 2 Abs 1 lit a FLAG 1967 haben Personen, die im Bundesgebiet ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, Anspruch auf Familienbeihilfe für minderjährige Kinder.
Gemäß § 10 Abs 1 FLAG 1967 wird die Familienbeihilfe nur auf Antrag gewährt und ist die Erhöhung der Familienbeihilfe für ein erheblich behindertes Kind (§ 8 Abs 4 leg. cit.) besonders zu beantragen.
Gemäß § 10 Abs 3 FLAG 1967 werden die Familienbeihilfe und die erhöhte Familienbeihilfe für ein erheblich behindertes Kind (§ 8 Abs 4 FLAG) höchstens für fünf Jahre rückwirkend vom Beginn des Monats der Antragstellung gewährt.
Gemäß § 8 Abs 4 FLAG 1967 erhöht sich die Familienbeihilfe für jedes erheblich behinderte Kind. Als erheblich behindert gilt ein Kind gemäß § 8 Abs. 5 FLAG 1967, bei dem eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung besteht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von voraussichtlich mehr als drei Jahren.
§ 8 Abs. 5 FLAG 1967 normiert:
Als erheblich behindert gilt ein Kind, bei dem eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung besteht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von voraussichtlich mehr als sechs Monaten. Der Grad der Behinderung muß mindestens 50 vH betragen, soweit es sich nicht um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Für die Einschätzung des Grades der Behinderung sind § 14 Abs. 3 des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, , in der jeweils geltenden Fassung, und die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung) vom , BGBl. II Nr. 261/2010, in der jeweils geltenden Fassung anzuwenden. Die erhebliche Behinderung ist spätestens alle fünf Jahre neu festzustellen, wenn nach Art und Umfang eine mögliche Änderung zu erwarten ist.
§ 8 Abs. 6 FLAG 1967 lautet:
Der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumservice) dem Finanzamt Österreich durch eine Bescheinigung auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen. Die Kosten für dieses ärztliche Sachverständigengutachten sind aus Mitteln des Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen zu ersetzen. Das ärztliche Sachverständigengutachten ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumservice) gegen Ersatz der Kosten aus Mitteln des Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen an die antragstellende Person zu übermitteln, eine Übermittlung des gesamten ärztlichen Sachverständigengutachtens an das Finanzamt Österreich hat nicht zu erfolgen. Der Nachweis des Grades der Behinderung in Form der Bescheinigung entfällt, sofern der Grad der Behinderung durch Übermittlung der anspruchsrelevanten Daten durch das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumservice) aufgrund des Verfahrens nach § 40 des Bundesbehindertengesetzes (BBG), BGBl. Nr. 283/1990, zur Ausstellung eines Behindertenpasses, nachgewiesen wird.
Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung)
Gesamtgrad der Behinderung
§ 3.
(1) Eine Einschätzung des Gesamtgrades der Behinderung ist dann vorzunehmen, wenn mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen. Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung sind die einzelnen Werte der Funktionsbeeinträchtigungen nicht zu addieren. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander.
(2) Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung ist zunächst von jener Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, für die der höchste Wert festgestellt wurde. In der Folge ist zu prüfen, ob und inwieweit dieser durch die weiteren Funktionsbeeinträchtigungen erhöht wird. Gesundheitsschädigungen mit einem Ausmaß von weniger als 20 vH sind außer Betracht zu lassen, sofern eine solche Gesundheitsschädigung im Zusammenwirken mit einer anderen Gesundheitsschädigung keine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung verursacht.
Bei Überschneidungen von Funktionsbeeinträchtigungen ist grundsätzlich vom höheren Grad der Behinderung auszugehen.
(3) Eine wechselseitige Beeinflussung der Funktionsbeeinträchtigungen, die geeignet ist, eine Erhöhung des Grades der Behinderung zu bewirken, liegt vor, wenn
- sich eine Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere besonders nachteilig auswirkt,
- zwei oder mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, die gemeinsam zu einer wesentlichen Funktionsbeeinträchtigung führen.
(4) Eine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung ist dann gegeben, wenn das Gesamtbild der Behinderung eine andere Beurteilung gerechtfertigt erscheinen lässt, als die einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen alleine.
Rechtliche Beurteilung und Beweiswürdigung:
Die Entscheidung über die Gewährung von monatlich wiederkehrenden Leistungen ist ein zeitraumbezogener Abspruch. Ein derartiger Ausspruch gilt mangels eines im Bescheid festgelegten Endzeitpunktes für den Zeitraum, in dem die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse keine Änderung erfahren, jedenfalls aber bis zum Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides (vgl. Zl. 2012/16/0052).
Allgemeines
Wird ein Antrag auf erhöhte Familienbeihilfe gestellt, ist zufolge der Bestimmungen des § Abs 6 FLAG 1967 der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumservice) durch eine Bescheinigung auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen.
Die Sachverständigen im Sozialministerium haben den Grad der Behinderung und/oder die Feststellung, ob bzw. ab wann eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit vorliegt, in schlüssiger und nachvollziehbarer Form zu treffen.
Sachverständige sind Personen, die aufgrund der Ausbildung und Erfahrung über besondere Kenntnisse auf einem bestimmten Sachgebiet verfügen. Sie erheben Tatsachen (Befunde) und ziehen aus diesen Tatsachen auf Grund besonderer fachlicher Fähigkeiten Schlussfolgerungen (Gutachten).
Das nach dieser Bestimmung abzuführende qualifizierte Nachweisverfahren hat Feststellungen über die Art und das Ausmaß des Leidens sowie auch der konkreten Auswirkungen der Be-hinderung auf die Erwerbsfähigkeit in schlüssiger und damit nachvollziehbarer Weise zu enthalten (vgl. , ) und bildet die Grundlage für die Entscheidung, ob die erhöhte Familienbeihilfe zusteht. Ein Abweichen ist nur nach entsprechend qualifizierter Auseinandersetzung möglich (, ).
Ein Gutachten ist die begründete Darstellung von Erfahrungssätzen und die Ableitung von Schlussfolgerungen für die tatsächliche Beurteilung eines Geschehens oder Zustands auf der Basis des objektiv feststellbaren Sachverhaltes durch einen oder mehrere Sachverständige. Sachverständige haben dabei fundierte und wissenschaftlich belegbare konkrete Aussagen zu treffen und dürfen ihre Beurteilungen und Feststellungen nicht auf Spekulationen, sondern ausschließlich auf die festgestellten Tatsachen, verbunden mit ihrem fachspezifischen Wissen, stützen. Alleine die Möglichkeit, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmter Sach-verhalt vorgelegen sein könnte, reicht dabei keinesfalls aus, diesen Sachverhalt gutachterlich als gegeben anzusehen und zu bestätigen (vgl. z.B. , ; ).
Ein Gutachten ist
• vollständig, wenn es die von der Behörde oder dem Gericht gestellten Fragen beantwortet (sofern diese zulässig waren)
• nachvollziehbar, wenn das Gutachten von der Beihilfenstelle und vom Gericht verstanden werden kann und diese die Gedankengänge des Gutachters, die vom Befund zum Gutachten führten, prüfen und beurteilen kann und
• schlüssig, wenn es nach der Prüfung auf Vollständigkeit und Nachvollziehbarkeit immer noch überzeugend und widerspruchsfrei erscheint
Diagnoseerstellung durch die sachverständigen Ärzte des Sozialministeriumservice
Die sachverständigen Ärzte des Sozialministeriumservice ziehen für ihre zu treffenden Fest-stellungen (zB Höhe des Grades der Behinderung) neben der Anamnese und Untersuchung der an einer Erkrankung oder Behinderung leidenden Person den Kenntnisstand der Medizin und ihr eigenes Fachwissen heran.
Für die zu treffenden Feststellungen, seit wann eine Erkrankung besteht und wie hoch das Ausmaß der Beeinträchtigung in der Vergangenheit war (bzw. wann eine Erwerbsunfähigkeit mit größter Wahrscheinlichkeit eingetreten ist) sind Befunde, Arztbriefe oder sonstige Unterlagen, aus denen Rückschlüsse gezogen werden können, in aller Regel unerlässlich.
Fehlen derartige Unterlagen, warum auch immer, können die vom Sachverständigen getroffenen Feststellungen, ab welchem Zeitpunkt der Grad der Behinderung ein bestimmtes Ausmaß erreicht hat oder ab wann eine Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist, denklogisch immer nur mit hoher Wahrscheinlichkeit den Tatsachen entsprechen, was darin begründet liegt, dass Erkrankungen häufig einen schleichenden Verlauf nehmen, unterschiedlich stark ausgeprägt sind oder sich mit zunehmendem Alter verschlechtern.
Nach der Judikatur des VwGH besteht bei Begünstigungsvorschriften und in Fällen, in denen die Ermittlungsmöglichkeiten der Behörde eingeschränkt sind, eine erhöhte Mitwirkungspflicht, dh der Antragsteller/die Antragstellerin haben im Zuge der Untersuchung Befunde, Arztbriefe, Bestätigung über Spitalsaufenthalte, etc., soweit vorhanden, beizubringen.
Der Antragsteller hat auch die Möglichkeit, Unvollständigkeiten und Unschlüssigkeiten eines Gutachtens im Rahmen des Verfahrens der Behörde aufzuzeigen oder einem Gutachten (etwa durch Beibringung eines eigenen Gutachtens) auf gleicher fachlicher Ebene entgegenzutreten (vgl. ; ).
Bindung an die Gutachten des Sozialministeriumservice
Bei der Antwort auf die Frage, in welcher Höhe der Behinderungsgrad ab einem bestimmten Zeitpunkt vorgelegen ist (bzw. ob eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit vor dem 21. Lebensjahr oder allenfalls während einer Berufsausbildung vor Vollendung des 25. Lebensjahres) eingetreten ist, sind die Abgabenbehörde und das Bundesfinanzgericht an die der Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumservice) zugrunde liegenden Gutachten gebunden und dürfen diese nur insoweit prüfen, ob sie schlüssig und vollständig sind und im Falle mehrerer Gutachten nicht einander widersprechen (vgl. zB ; ; ; ).
Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes
Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. zB ; ; Ra 2014/16/0010; ) stellte das Gericht fest, dass eine Behinderung iSd § 8 Abs. 5 FLAG mit einem Grad von mindestens 50 v.H. durchaus die Folge einer Krankheit sein könne, die schon seit längerem vorliegt (bei angeborenen Krankheiten oder genetischen Anomalien etwa seit Geburt), sich jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt manifestiert. Erst wenn diese Krankheit zu einer derart erheblichen Behinderung führt, welche einen Grad von mindestens 50 v.H. aufweise, sei der Tatbestand des § 8 Abs 5 FLAG erfüllt. Mithin komme es weder auf den Zeitpunkt an, zu dem sich eine Krankheit als solche äußere, noch auf den Zeitpunkt, zu welchem diese Krankheit zu (irgend) einer Behinderung führe. Maßgeblich sei der Zeitpunkt, zu dem diejenige Behinderung (als Folge der allenfalls schon länger bestehenden Krankheit) eintrete, welche einen Grad von mindestens 50 v.H. erreiche.
Beweiswürdigung durch das Finanzamt und das Bundesfinanzgericht
Gutachten im Bereich des Familienbeihilfenrechts sind Beweismittel in einem gerichtlichen Verfahren. Sie unterliegen, wie alle anderen Beweismittel, der freien behördlichen/-richterlichen Beweiswürdigung (vgl. ).
Dabei ist unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse nach freier Überzeugung zu beurteilen, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen ist oder nicht (§ 167 Abs. 2 BAO). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. für viele ) ist von mehreren Möglichkeiten jene als erwiesen anzunehmen, die gegenüber allen anderen Möglichkeiten eine überragende Wahrscheinlichkeit für sich hat und alle anderen Möglichkeiten ausschließt oder zumindest weniger wahrscheinlich erscheinen lässt.
Im vorliegenden Fall sind im Zuge des Antrages auf Weitergewährung des Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe und in weiterer Folge im Zuge des Beschwerdeverfahrens zwei Gutachten erstellt worden.
Für Entwicklungsstörungen leichten Grades sieht die Einschätzungsverordnung folgende Richtsatzpositionen vor:
Die mit dem Gutachten vom befasste Sachverständige reihte die Erkrankung/Behinderung von N. unter die Richtsatzposition der anzuwendenden Einschätzungsverordnung mit einem Grad der Behinderung mit 30% ab und begründete die Einstufung damit, dass auf Grund fehlender aktueller fachärztlicher Befunde eine Berücksichtigung der Tic Störung nicht möglich sei.
Ergänzend zu diesem Gutachten berücksichtigte die mit dem Gutachten vom befasste Sachverständige den von der Bf im Zuge der Untersuchung vorgelegten klinisch psychologischen Befund von Mag. S. von November 2022 und gelangte dadurch insgesamt zu einem Gesamtgrad der Behinderung von 50%, allerdings erst ab November 2022 (siehe untenstehende Tabelle).
Eine rückwirkende Einstufung mit einem Grad der Behinderung von 50vH wurde von der Sachverständigen nicht vorgenommen, da für den Streitzeitraum keine Befunde vorgelegt wurden, die eine solche Einstufung zugelassen hätten.
Für den Streitzeitraum wurde somit in beiden Gutachten übereinstimmend ein Grad der Behinderung von 30% festgestellt.
Das Gericht erachtet die in den beiden Gutachten getroffenen Feststellungen, die letztlich zum gleichen Ergebnis führten, als schlüssig und nachvollziehbar und mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit den Tatsachen entsprechend an, da für die Beurteilung, wann ein bestimmter Behinderungsgrad vorliegt, relevante Befunde unerlässlich sind und derartige Befunde für den strittigen Zeitraum nicht vorgelegt wurden.
Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. für viele ) ist ein Gutachten die begründete Darstellung von Erfahrungssätzen und die Ableitung von Schlussfolgerungen für die tatsächliche Beurteilung eines Geschehens oder Zustands auf der Basis des objektiv feststellbaren Sachverhalts durch einen oder mehrere Sachverständige. Sachverständige haben dabei fundierte und wissenschaftlich belegbare konkrete Aussagen zu treffen und dürfen ihre Beurteilungen und Feststellungen nicht auf Spekulationen, sondern ausschließlich auf die festgestellten Tatsachen verbunden mit ihrem fachspezifischen Wissen stützen. Alleine die Möglichkeit, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmter Sachverhalt vorgelegen sein könnte, reicht dabei keinesfalls aus, diesen Sachverhalt gutachterlich als gegeben anzusehen und zu bestätigen (vgl zB ; ).
Das Gericht erachtet aus diesem Grund die Einholung eines weiteren Gutachtens nicht als erforderlich an.
Wenn die Bf in ihrer Beschwerde vorbringt, dass die Erkrankung/Behinderung ihres Sohnes auch im Streitzeitraum in Höhe von 50% gegeben war, kann dies der Beschwerde nicht zum Erfolg verhelfen, da ein derartiges Vorbringen nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht ausreichend ist, einen Sachverhalt gutachterlich als gegeben anzusehen und zu bestätigen.
Abschließend wird informativ festgehalten, dass Zweck der erhöhten Familienbeihilfe ist, die besonderen Bedürfnisse, die aus der Behinderung folgen und im Verhältnis zu den Kosten der Lebensführung nicht behinderter Personen einen finanziellen Mehraufwand auslösen, zumindest teilweise abzudecken (vgl. zB ).
Die Bf hat in diesem Zusammenhang nicht vorgebracht, dass ihr Sohn im Streitzeitraum wegen seiner Tic Störung eine Therapie gemacht hat.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Unzulässigkeit der Revision
Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Die Lösung der Frage, unter welcher Voraussetzung der Erhöhungsbetrag zur Familienbeihilfe zusteht, ergibt sich aus den bezughabenden Gesetzesbestimmungen. Bei der Frage, ob bzw. ab wann ein bestimmter Grad der Behinderung vorliegt, handelt es sich um eine Tatfrage und ist das BFG an die vom Sozialministeriumservice erstellten Gutachten gebunden, sofern diese schlüssig sind. Da sohin keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu beurteilen war, ist eine Revision nicht zulässig.
Wien, am
Zusatzinformationen
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Materie | Steuer FLAG |
betroffene Normen | § 2 Abs. 1 lit. a FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 § 8 Abs. 4 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 § 8 Abs. 5 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 § 8 Abs. 6 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 § 10 Abs. 1 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 § 10 Abs. 3 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 |
Verweise | |
ECLI | ECLI:AT:BFG:2023:RV.7100958.2023 |
Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at