Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 19.01.2023, RV/7103356/2022

Eintritt der Erwerbsunfähigkeit wurde nicht vor dem 21. Lebensjahr bescheinigt

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter Dr. Wolfgang Pavlik über die Beschwerde der ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, vertreten durch NÖ Landesverein für Erwachsenenschutz - Erwachsenenvertretung, Bewohnervertretung, Wiener Straße 2/2/2, 2340 Mödling, vom , gegen den Bescheid des Finanzamtes Österreich vom , betreffend Abweisung des Antrags auf Gewährung der Familienbeihilfe und des Erhöhungsbetrages ab Jänner 2022, zu Recht erkannt:

Die Beschwerde wird gemäß § 279 BAO als unbegründet abgewiesen.

Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) unzulässig.

Entscheidungsgründe

Verfahrensgang

Die Erwachsenenvertreterin der am 1966 geborenen Beschwerdeführerin (Bf), reichte am einen Antrag auf Zuerkennung der Familienbeihilfe (Grundbetrag) sowie auf Gewährung des Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe wegen erheblicher Behinderung (Organisches Psychosyndrom, Abhängigkeitssyndrom auf multiple Drogen und Alkohol) rückwirkend auf 5 Jahre ein.

Am wurde von Dr.in Dok1, Ärztin für Allgemeinmedizin, folgendes Aktengutachten erstellt:

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
Privatklinik Laßnitzhöhe stationärer Aufenthalt vom -

Hauptdiagnose: Zustand nach Stammganglien - Massenblutung links mit Ventrikeleinbruch in den Seitenventrikel 12/2020, Hepatitis C positiv, arterielle Hypertonie, Zustand nach chronischen C2 und NSAR-Abusus, Zustand nach Polytoxikomanie mit Substitoltherapie, Zustand nach Pangastritis, Zustand nach M. Hodgkin mit 20 Jahren, Zustand nach schwerer Sepsis 2015

Hilfsmittel: Rollstuhl

Medikamente: …

Ärztlicher Entlassungsbrief Landesklinikum Mödling stationär vom -

Diagnose: intrazerebrale Blutung im Stammganglienbereich links mit Ventrikeleinbruch in den Seitenventrikel mit resultierender Hemiplegie rechts und Dysarthrie. NIHSS bei Aufnahme 20.

Klinisch neurologisch bestehen bei Entlassung weiterhin eine Plegie des rechten Armes sowie eine hochgradige Parese des rechten Beines mit einer gleichzeitigen Dysarthrie sowie Dysphasie.

Neuropsychologische Untersuchung vom
54-jährige Patientin mit Polytoxikomanie und Alkoholabusus in der Anamnese wurde mit einer intrazerebralen Blutung links mit Ventrikeleinbruch hierorts stationär aufgenommen und zur neuropsychologischen Testung zugewiesen. Sie war in der Untersuchungssituation, nur teilorientiert, subdepressiv verstimmt und zeigte Wortfindungsstörungen.

Konzentration, Wortflüssigkeit und Benennen waren schwer beeinträchtigt. Teilweise damit zusammenhängend war auch ein deutliches Enkodierungsdefizit im verbalen Gedächtnis objektivierbar. Das neuropsychologische Testprofil zeigt sowohl Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit als auch kognitive Defizite.

Neuropsychologische Untersuchung vom

Das neuropsychologische Testprofil zeigt nach wie vor Beeinträchtigungen der Aufmerksam-keit, kognitive Defizite haben sich jedoch in mehreren Teilbereichen im Vergleich zur Voruntersuchung deutlich gebessert (deutliche Besserung im verbalen Lernen der Enkodierungsfähigkeit, des verbalen Gedächtnisses sowie der lexikalischen Wortflüssigkeit, schlechtere Ergebnisse waren im Bereich der semantischen Wortflüssigkeit und im Benennen objektivierbar).

Behandlung/en / Medikamente / Hilfsmittel:

Stellungnahme zu Vorgutachten:

Der festgestellte Grad der Behinderung wird voraussichtlich mehr als 3 Jahre andauern: ja

GdB liegt vor seit: 12/2020
Rückdatierung ab Blutungsereignis 12/2020 möglich.

Frau ***Bf1*** ist voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: JA

Dies besteht seit: 12/2020

Anmerkung bzw. Begründung betreffend die Fähigkeit bzw. voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: eine dauerhafte Erwerbsunfähigkeit liegt vor

X Dauerzustand

Das Finanzamt (FA) wies den Antrag der Bf auf Grund der in dem Gutachten getroffenen Feststellungen mit Bescheid vom ab Jänner 2022 mit der Begründung ab, dass Anspruch auf Familienbeihilfe bestehe, wenn ein Kind voraussichtlich dauernd erwerbsunfähig sei. Die Erwerbsunfähigkeit müsse vor dem 21. Geburtstag oder während einer Berufsausbildung vor dem 25. Geburtstag eingetreten sein. Bei der Bf sei das nicht der Fall (§ 2 Abs. 1 lit. c Familienlastenausgleichsgesetz 1967).

In der Beschwerde vom brachte die Erwachsenenvertreterin der Bf vor, dass der beigelegte Versicherungsdatenauszug vom sehr kurze Dienstverhältnisse aufweise, die als Arbeitsversuche gewertet werden könnten. Im Abweisungsbescheid werde darauf nicht eingegangen. Es werde beantragt, unter Berücksichtigung der Biografie der Bf einen neuen Bescheid zu erlassen.

Die Bf wurde am von Dr.in Dok2, Ärztin für Allgemeinmedizin, untersucht und am folgendes Gutachten erstellt:

Anamnese:

03/2022 Sozialministeriumservice (Flag GA ): Zustand nach Stammganglien - Massenblutung links mit Ventrikeleinbruch in den Seitenventrikel 12/2020:100 %

Derzeitige Beschwerden:

Fr. Bf. hatte 12/2020 einen Schlaganfall, seither ist die rechte Seite gelähmt. Sie sitzt im Rollstuhl und ist in einem Pflegeheim untergebracht. Ein paar Schritte mit Hilfe sind möglich, bewegt sich im Heim im Rollstuhl. Auch hat sie einen Erwachsenenvertreter. Es besteht ein Zustand nach Drogen und Alkoholkonsum. Sie ist auf Substitol eingestellt.

Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
… Rollstuhl

Sozialanamnese:

56 Jährige, war früher Kellnerin, verschiedene Arbeitsstellen, häufiger Wechsel, Abbruch wegen Drogen,- Alkoholmißbrauch und wegen eines Mb. Hodgkin, lebt seit 2 Jahren in einem Pflegeheim, hat einen Erwachsenenvertreter, Pensionsbezug seit 2006.

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):

03/2021 Adcura (Wohn,- Pflegeheim Maria Lanzendorf)

Z.n. massiver Ösophagitis, St. p. Polytoxikomanie, Substitol Therapie, St. p. mb. Hodgkin mit 20 Jahren, Hypertonie, Tabakkonsum, Hep. C., Z.n. schwerer Sepsis 2015, Stammganglienblutung, HP rechts, rollstuhlmobilisiert

07/2021 Österreichische Sozialversicherung (Versicherungsauszug) 09/1981-02 1982 Arbeiterlehrling, von 1981 bis 1985 verschiedene Arbeitsstellen, dann Kindererziehung, von 09/1989 -01 1990 wieder Arbeit, seit 1999 arbeitslos, Notstandshilfe; seit 08/2006 Pensionsbezug

Untersuchungsbefund

Der festgestellte Grad der Behinderung wird voraussichtlich mehr als 3 Jahre andauern: ja

GdB liegt vor seit: 12/2020

Begründung - GdB liegt rückwirkend vor:

Frau ***Bf1*** ist voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: JA

Dies besteht seit: 12/2020

Anmerkung bzw. Begründung betreffend die Fähigkeit bzw. voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: Derzeit ist eine Erwerbsfähigkeit nicht gegeben.

X Dauerzustand

Das FA legte die im Gutachten getroffenen Feststellungen seiner Entscheidung zu Grunde und wies die Beschwerde mit Beschwerdevorentscheidung vom mit der Begründung ab, dass gemäß § 8 Abs 5 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG 1967) in der derzeit gültigen Fassung ein Kind als erheblich behindert gelte, bei dem nicht nur eine vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung bestehe. Als nicht nur vorübergehend gelte ein Zeitraum von voraussichtlich mehr als drei Jahren. Der Grad der Behinderung müsse mindestens 50 % betragen, soweit es sich nicht um ein Kind handle, das voraussichtlich dauernd außerstande sei, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit sei durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen.

Eine rückwirkende Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe sei für max. fünf Jahre ab der Antragstellung möglich bzw. ab dem Monat, ab dem das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen den Grad der Behinderung festgestellt habe (§ 10 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 in der geltenden Fassung).

Gemäß § 2 Abs 1 lit. c Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG 1967) in der ab gültigen Fassung bestehe Anspruch auf Familienbeihilfe für volljährige Kinder, die wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande seien, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Gemäß § 2 Abs. 1 lit. c Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG 1967) in der ab gültigen Fassung bestehe Anspruch auf Familienbeihilfe für volljährige Kinder, die wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande seien, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Das Sozialministeriumservice habe im aktuellen Gutachten vom aufgrund der vorgelegten Befunde eine dauernde Erwerbsunfähigkeit erst ab feststellen können. Diese sei für den Bezug der Familienbeihilfe jedoch verspätet.

Am stellte die Erwachsenenvertreterin der Bf einen Vorlageantrag an das Bundesfinanzgericht und brachte erneut vor, dass der dem Antrag beigelegte Versicherungsdatenauszug vom sehr kurze Dienstverhältnisse aufweise, die lediglich als Arbeitsversuche gewertet werden könnten und auf eine Erwerbsunfähigkeit hindeuten. In der Beschwerdevorentscheidung sei darauf nicht Bezug genommen worden.

Das Bundesfinanzgericht hat erwogen

Feststellungen

Die 1966 geborene Bf war früher Kellnerin und von 1981 bis 1985 auf verschiedenen Arbeitsstellen tätig, dann Kindererziehung, von September 1989 bis Jänner 1990 war die Bf wieder berufstätig, seit 1999 ist sie arbeitslos und erhielt Notstandshilfe. Seit August 2006 bezieht sie eine Pension.

Die Bf wohnt seit zwei Jahren in einem Pflegeheim und hat eine Erwachsenenvertreterin.

Im Aktengutachten vom bescheinigte Dr.in Dok1, Ärztin für Allgemeinmedizin, der Bf aufgrund des Zustandes nach Stammganglien - Massenblutung links mit Ventrikeleinbruch einen Gesamtgrad der Behinderung von 100 vH rückwirkend ab Dezember 2020.

Weiters wurde der Bf eine Erwerbsunfähigkeit rückwirkend ab Dezember 2020 bescheinigt.

Im Gutachten vom wurden von Dr.in Dok2, Ärztin für Allgemeinmedizin, die gleichen Feststellungen getroffen.

Die Gutachten sind schlüssig und nachvollziehbar.

Beweiswürdigung

Gutachten im Bereich des Familienbeihilfenrechts sind Beweismittel in einem gerichtlichen Verfahren. Sie unterliegen, wie alle anderen Beweismittel, der freien behördlichen/richter-lichen Beweiswürdigung (vgl. ).

Die Behörde und das Gericht haben unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse nach freier Überzeugung zu beurteilen, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen ist oder nicht (§ 167 Abs 2 BAO). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. für viele ) ist von mehreren Möglichkeiten jene als erwiesen anzunehmen, die gegenüber allen anderen Möglichkeiten eine überragende Wahrscheinlichkeit für sich hat und alle anderen Möglichkeiten ausschließt oder zumindest weniger wahrscheinlich erscheinen lässt.

Von der Bf bzw. der Erwachsenenvertreterin wurden im Zuge des Verfahrens folgende Unterlagen bzw. Befunde vorgelegt:

  1. Sozialversicherungsauszug

  2. Beschluss des Bezirksgerichtes Schwechat vom , GZ. Zahl betreffend Bestellung eines Erwachsenenvertreters

  3. Ärztlicher Entlassungsbrief Landesklinikum Mödling stationär vom bis

  4. Privatklinik Laßnitzhöhe stationärer Aufenthalt vom bis

  5. Neuropsychologische Untersuchung vom 7. und

Laut Sozialversicherungsauszug war die Bf vom bis Arbeiterlehrling und danach bis zur Geburt eines Kindes () bei drei verschiedenen Dienstgebern beschäftigt. Vom bis war die Bf wieder als Arbeiterin beschäftigt. Ab bezog sie Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, Überbrückungshilfe und Krankengeld und ab eine Pension.

Aus dem Beschluss des Bezirksgerichts Schwechat vom , GZ. Zahl, geht hervor, dass sich bei der Bf im Langzeitverlauf ein Abhängigkeitssyndrom auf multiple Drogen und Alkohol finde. Es bestanden schwere somatische Erkrankungen und ein Zustand nach Stammganglienblutung.

Aus den vorgelegten Befunden ergibt sich als Hauptdiagnose ein Zustand nach Stammganglien - Massenblutung links mit Ventrikeleinbruch in den Seitenventrikel 12/2020. Weiters leidet die Bf an Hepatitis C positiv, arterielle Hypertonie, Zustand nach chronischen C2 und NSAR-Abusus, Zustand nach Polytoxikomanie mit Substitoltherapie, Zustand nach Pangastritis, Zustand nach M. Hodgkin mit 20 Jahren, Zustand nach schwerer Sepsis 2015.

Befunde und Unterlagen über die weiteren Erkrankungen der Bf wurden nicht vorgelegt.

Zweifelsfrei steht fest, dass sich der Gesundheitszustand der Bf nach ihrem Schlaganfall im Dezember 2020 verschlechtert und zu einer Erwerbsunfähigkeit ab diesem Zeitpunkt geführt hat.

Fest steht auch, dass die Bf bis 1999 immer wieder, wenn auch mit Unterbrechungen und bei wechselnden Dienstverhältnissen, berufstätig war.

Kurze Dienstverhältnisse oder wechselnde Arbeitgeber bedeuten aber nicht, dass diese - wie die Erwachsenenvertreterin vermeint - nur als Arbeitsversuche anzusehen sind. Kurze Dienstverhältnisse, Arbeitsunterbrechungen oder ein häufiger Wechsel des Arbeitgebers können verschiedenste Ursachen haben, zB Unzufriedenheit am Arbeitsplatz, Kindererziehung, schlechte Bezahlung etc.

Das Bundesfinanzgericht erachtet die in den Gutachten vom und vom von den Sachverständigen übereinstimmend getroffene Feststellung, dass bei der Bf die Erwerbsunfähigkeit erst nach ihrem Schlaganfall im Dezember 2020 eingetreten ist, als schlüssig und nachvollziehbar und mit einer mit Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit als den Tatsachen entsprechend.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsgrundlagen:

Gemäß § 2 Abs. 1 lit. c FLAG 1967 besteht Anspruch für volljährige Kinder, die wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Als erheblich behindert gilt gemäß § 8 Abs. 5 FLAG 1967 ein Kind, bei dem eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung besteht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von voraussichtlich mehr als drei Jahren. Der Grad der Behinderung muss mindestens 50 v.H. betragen, soweit es sich nicht um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Für die Einschätzung des Grades der Behinderung sind (für Begutachtungen nach dem Stichtag ) § 14 Abs. 3 des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, in der jeweils geltenden Fassung, und die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung) vom , BGBl. II Nr. 261/2010, in der jeweils geltenden Fassung, anzuwenden. Die erhebliche Behinderung ist spätestens nach fünf Jahren neu festzustellen, soweit nicht Art und Umfang eine Änderung ausschließen.

Grundlage der Einschätzung

§ 4. (1) Die Grundlage für die Einschätzung des Grades der Behinderung bildet die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen im körperlichen, geistigen, psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung in Form eines ärztlichen Sachverständigengutachtens. Erforderlichenfalls sind Experten aus anderen Fachbereichen - beispielsweise Psychologen - zur ganzheitlichen Beurteilung heran zu ziehen.

(2) Das Gutachten hat neben den persönlichen Daten die Anamnese, den Untersuchungsbefund, die Diagnosen, die Einschätzung des Grades der Behinderung, eine Begründung für die Einschätzung des Grades der Behinderung innerhalb eines Rahmensatzes sowie die Erstellung des Gesamtgrades der Behinderung und dessen Begründung zu enthalten.

Gemäß § 8 Abs. 6 FLAG 1967 in der Fassung BGBl. I Nr. 105/2002 ist der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen.

Gemäß § 8 Abs. 4 FLAG 1967 erhöht sich die Familienbeihilfe für jedes erheblich behinderte Kind.

Volljährige "Kinder" - Anspruchsvoraussetzungen:

Voraussetzung für den Erhöhungsbetrag ist, dass der Grundbetrag an Familienbeihilfe zusteht (vgl. FLAG Kommentar, Csaszar/Lenneis/Wanke, Rz 5 zu § 8). Das bedeutet, dass bei volljährigen Kindern, denen nicht schon aus anderen Gründen als aus dem Titel der Behinderung der Grundbetrag an Familienbeihilfe zusteht, der Grad der Behinderung ohne jede Bedeutung ist, und würde er auch 100 % betragen. Besteht also keine vor dem 21. (25.) Lebensjahr eingetretene voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, steht weder Grund- noch Erhöhungsbetrag zu. Besteht eine derartige Unterhaltsunfähigkeit, steht sowohl Grund- als auch Erhöhungsbetrag zu (vgl ; ; vgl. auch die Erkenntnisse des ; ; ).

Gutachten Allgemeines:

Ein Gutachten ist die begründete Darstellung von Erfahrungssätzen und die Ableitung von Schlussfolgerungen für die tatsächliche Beurteilung eines Geschehens oder Zustands auf der Basis des objektiv feststellbaren Sachverhaltes durch einen oder mehrere Sachverständige. Sachverständige haben dabei fundierte und wissenschaftlich belegbare konkrete Aussagen zu treffen und dürfen ihre Beurteilungen und Feststellungen nicht auf Spekulationen, sondern ausschließlich auf die festgestellten Tatsachen, verbunden mit ihrem fachspezifischen Wissen, stützen. Alleine die Möglichkeit, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmter Sach-verhalt vorgelegen sein könnte, reicht dabei keinesfalls aus, diesen Sachverhalt gutachterlich als gegeben anzusehen und zu bestätigen (vgl. z.B. ; ).

Bescheinigung des Sozialministeriumservice:

Der Grad der Behinderung und die Feststellung, ob bzw. ab wann eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit vorliegt, ist gemäß den Bestimmungen des § 8 Abs 6 FLAG 1967 durch eine Bescheinigung des Sozialministeriumservice auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen.

Das nach dieser Bestimmung abzuführende qualifizierte Nachweisverfahren hat Feststellungen über die Art und das Ausmaß des Leidens sowie auch der konkreten Auswirkungen der Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit in schlüssiger und damit nachvollziehbarer Weise zu enthalten (vgl. ; ) und bildet die Grundlage für die Entscheidung, ob die erhöhte Familienbeihilfe zusteht.

Im Fall, dass eine volljährige Person die erhöhte Familienbeihilfe beantragt, haben sich die Feststellungen des Sachverständigen darauf zu erstrecken, ob die Erwerbsunfähigkeit bereits vor Vollendung des 21. Lebensjahres (oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres) eingetreten ist (vgl. etwa ).

Für die Beurteilung dürfen andere als behinderungskausale Gründe (wie z.B. mangelnde oder nicht spezifische Ausbildung, die Arbeitsplatzsituation, Arbeitsunwilligkeit, oÄ) ebenso wenig herangezogen werden wie eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes (etwa auch durch Folgeschäden) nach Vollendung des 21. Lebensjahres.

Maßgeblich ist der Zeitpunkt, zu dem die Behinderung (als Folge der allenfalls schon länger bestehenden Krankheit) eine Erwerbsunfähigkeit bewirkt hat. Es kommt weder auf den Zeitpunkt an, zu dem sich eine Krankheit als solche äußert, noch auf den Zeitpunkt, zu welchem diese Krankheit zu (irgend)einer Behinderung führt (vgl. ; ; ).

Diagnoseerstellung durch die sachverständigen Ärzte des Sozialministeriumservice:

Die sachverständigen Ärzte des Sozialministeriumservice ziehen für ihre zu treffenden Feststellungen, wie hoch der Grad der Behinderung bzw. wann die voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist, neben der durchgeführten Anamnese und Untersuchung des Antragstellers die Kenntnisse der Medizin und ihr eigenes Fachwissen heran. Unerlässlich für die Feststellungen sind auch Befunde und besonders hilfreich "alte" Befunde und Arztbriefe oder sonstige Unterlagen, die darauf schließen lassen, dass die voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit auf Grund der Erkrankung (Behinderung bereits vor dem 21. Lebensjahr (bzw. wenn sich der Antragsteller noch in schulischer Ausbildung befand, das 25. Lebensjahr) eingetreten ist (vgl. , , , Ro 2017/16/0009).

Geht es um die Feststellung des Eintrittes der Erwerbsunfähigkeit, hat der Sachverständige nur die Möglichkeit, neben der Anamnese, der Untersuchung, dem medizinischen Wissensstand und seinen ärztlichen Erfahrungen allenfalls vorhandene andere Hinweise wie Befunde, Krankenhausaufenthalte etc. heranzuziehen, da ansonsten der Gesundheitszustand bzw. die Behinderung nur zum Zeitpunkt der Untersuchung festgestellt werden kann.

Fehlen derartige Befunde, warum auch immer, können die vom Sachverständigen getroffenen Feststellungen nur mit hoher Wahrscheinlichkeit den Tatsachen entsprechen und liegt die Ursache auch darin, dass Erkrankungen unterschiedlich stark ausgeprägt sind, häufig einen schleichenden Verlauf nehmen oder sich mit zunehmendem Alter verschlechtern ().

Bindung an die Gutachten des Sozialministeriumservice:

Die Beihilfenbehörden (Finanzamt), und auch das Gericht, haben bei ihrer Entscheidung von dieser durch ärztliche Gutachten untermauerten Bescheinigung auszugehen und sind an die Gutachten des SMS gebunden. Ein Abweichen ist nur nach entsprechend qualifizierter Auseinandersetzung möglich (; ).

Die Beihilfenbehörden und das Gericht dürfen die Gutachten nur insoweit prüfen, ob diese vollständig, nachvollziehbar und schlüssig sind und im Fall mehrerer Gutachten oder einer Gutachtensergänzung nicht einander widersprechen (vgl. ; ; Erkenntnisse VwGH jeweils vom , 2009/16/0307 und 2009/16/0310). Erforderlichenfalls ist für deren Ergänzung zu sorgen (; ; ).

Ein Gutachten ist

• vollständig, wenn es die von der Behörde oder dem Gericht gestellten Fragen beantwortet (sofern diese zulässig waren)

• nachvollziehbar, wenn das Gutachten von der Beihilfenstelle und vom Gericht verstanden werden kann und diese die Gedankengänge des Gutachters, die vom Befund zum Gutachten führten, prüfen und beurteilen kann und

• schlüssig, wenn es nach der Prüfung auf Vollständigkeit und Nachvollziehbarkeit immer noch überzeugend und widerspruchsfrei erscheint

Ergebnis:

Wie schon ausgeführt, ist für die Gewährung des Grundbetrages und des Erhöhungsbetrages Voraussetzung, dass dem Antragsteller bzw. der Antragstellerin im Gutachten des Sozialministeriumservice eine Erwerbsunfähigkeit vor dem 21. Lebensjahr bescheinigt wird.

Da der Bf in den schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten des SMS eine Erwerbsunfähigkeit erst ab Dezember 2020 bescheinigt wurde, war die Beschwerde abzuweisen und spruchgemäß zu entscheiden.

Unzulässigkeit der Revision:

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Bei der Frage, ob eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit vorliegt, handelt es sich um eine Tatfrage und ist das Bundesfinanzgericht an das vom Sozialministeriumservice erstellte ärztliche Gutachten de facto gebunden. Eine über den Individualfall hinaus relevante Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung liegt nicht vor. Da das gegenständliche Erkenntnis der geltenden Gesetzeslage sowie der ständigen Judikatur des VwGH folgt, ist die Revision an den Verwaltungsgerichtshof nicht zulässig.

Wien, am

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