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Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 17.10.2022, RV/7102675/2022

erhöhte Familienbeihilfe; Eintritt der Erwerbsunfähigkeit

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter Dr. Wolfgang Pavlik über die Beschwerde des Bf., Adresse, vertreten durch Mag. Bernhard Johann Schuller, Marktgasse 1, 2130 Mistelbach, vom , gegen den Bescheid des Finanzamtes Österreich vom , betreffend Abweisung des Antrages auf Gewährung der Familienbeihilfe und des Erhöhungsbetrages ab November 2019, zu Recht erkannt:

Die Beschwerde wird gemäß § 279 BAO als unbegründet abgewiesen.

Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art 133 Abs 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) unzulässig.

Entscheidungsgründe

Verfahrensgang

Der Beschwerdeführer (Bf), geb. 1993, hat seit Oktober 2017 einen Erwachsenenvertreter.

In den Gutachten des Sozialministeriumservice vom , erstellt von Dr.in Dok2, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, und im Gutachten vom , erstellt von Dr. Dok1, Neurologe, wurde dem Bf eine leichte Intelligenzminderung mit einem Behinderungsgrad von 50 vH attestiert. Eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit wurde ab Oktober 2017 (= ab Besachwaltung), und somit nicht vor dem 21. Lebensjahr, bescheinigt.

Im Gutachten vom wurde zur voraussichtlich dauernden Unfähigkeit sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, angemerkt, dass beim Bf die Fähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, nicht gegeben sei, da er auf Grund seiner Defizite nicht ausreichend belastbar sei und deutliche kognitive Beeinträchtigungen bestünden, welche eine Beschäftigung am allgemeinen Arbeitsmarkt nicht möglich machen würden. Die Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, bestünde nach wie vor (Verweis auf Idem zum Vorgutachten) ab 10/2017 (Beginn der Besachwaltung). Auch aus dem neu vorgelegten psychiatrischen Gutachten könne eine Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, vor Oktober 2017 nicht abgeleitet werden. Eine Abänderung im Vergleich zum beeinspruchten Vorgutachten (Anm.: vom ) könne daher nicht erfolgen.

Am brachte der nunmehrige Erwachsenenvertreter beim Finanzamt (FA) neuerlich einen Antrag auf Gewährung der Familienbeihilfe und des Erhöhungsbetrages rückwirkend ab November 2019 ein.

Der Bf wurde am in der Landesstelle des Sozialministeriumservice von Dr. Dok1, Neurologe, untersucht und folgendes Gutachten erstellt:

"Anamnese:
Vorgutachten

Intelligenzminderung, 50%, unterer Rahmensatz da Teilselbstständigkeit im Alltag gegeben.
GdB vorliegend seit 10/2017, idem zum Vorgutachten ()
voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen nicht vor
dem 21. Lebensjahr eingetreten ...die Unfähigkeit sich selbst den Unterhalt zu verschaffen
besteht nach wie vor (Idem zum Vorgutachten) ab 10/2017 (Beginn der Besachwaltung).

Auch aus dem neu vorgelegten psychiatrischen Gutachten, kann eine Unfähigkeit sich
selbst den Unterhalt zu verschaffen vor 10/2017 nicht abgeleitet werden. Eine Abänderung
im Vergleich zum beeinspruchten Vorgutachten kann daher nicht erfolgen.

Herr Michelitsch kommt allein, in deutlich gebrauchter Kleidung zur Untersuchung, er kommt 10 Minuten zu spät, da er unten vor der Tür gewartet hat, da er den Hausbrauch nicht kennt. Er ist mit der ÖBB gekommen, am Bahnhof Landstraße ausgestiegen und ca. 30 Minuten mit Google-Maps hierher zu Fuß gegangen.

Derzeitige Beschwerden: werden keine angegeben

Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
Medikation: keine eingenommen

Sozialanamnese:
Hauptschule abgeschlossen, danach 1 Jahr Polytechnikum, danach keine Lehre, sein Vater hätte gemeint er solle lieber zu Hause bleiben, der Vater ist im Jahr 2011 verstorben, er ist jetzt in ... bei Kolping 5 Tage/Woche tätig, dort in einer Ausbildung zur Küchenhilfe (angeblich nur 6 Monate dauernd), er ist seit 1 Woche dort, er wohnt mit seiner Mutter in
[...], in die Arbeit und nach Hause kommt er mit dem ...taxi

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe): keine neuen Befunde vorgelegt

Untersuchungsbefund:

Psycho(patho)logischer Status:

Pat. klar, wach, orientiert, Duktus deutlich beschleunigt, wirkt nervös, freundlich, sehr mitarbeitsbereit, nachvollziehbar, etwas vereinfacht bei vorbekannter Intelligenzminderung, keine produktive Symptomatik oder wahnhafte Verarbeitung, Stimmung indifferent, bds. ausreichend affizierbar, Realitätssinn eingeschränkt, Auffassung, Konzentration vermindert, etwas verflachter Affekt mit monotoner Stimme

Herr Bf. ist voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: JA

Dies besteht seit: 10/2017

Anmerkung bzw. Begründung betreffend die Fähigkeit bzw. voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen:

Der AW ist nach wie vor voraussichtlich dauerhaft außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, da aufgrund der Einschränkung im Rahmen des festgestellten Leidens 1 die Belastbarkeit sowie Ausdauer deutlich eingeschränkt ist. Die EU besteht nach wie vor seit 10/2017 (Beginn der Besachwaltung), es werden keine neuen Befunde vorgelegt (z.B. Stellungsbefund) die eine Erwerbsunfähigkeit vor 10/2017 ausreichend begründen.

Dauerzustand."

Das FA legte die im Gutachten vom getroffenen Feststellungen seiner Entscheidung zu Grunde und wies den Antrag mit Bescheid vom ab November 2019 mit der Begründung ab, dass Anspruch auf Familienbeihilfe bestehe, wenn ein Kind voraussichtlich dauernd erwerbsunfähig sei. Die Erwerbsunfähigkeit müsse vor dem 21. Geburtstag oder während einer Berufsausbildung vor dem 25. Geburtstag eingetreten sein. Beim Bf sei das nicht der Fall (§ 2 Abs 1 lit. c Familienlastenausgleichsgesetz 1967).

Der Erwachsenenvertreter brachte am Beschwerde ein und brachte vor, dass das FA unrichtige Sachverhaltsfeststellungen getroffen habe, das Verfahren sei mangelhaft bzw. liege eine unrichtige rechtliche Beurteilung vor. Der angefochtene Bescheid würde sich in der Begründung lediglich auf das Nichtvorliegen der Voraussetzungen gemäß § 2 Abs. 1 lit. c Familienlastenausgleichsgesetz 1967 beziehen. Es sei im Bescheid nicht näher ausgeführt worden, warum der Bf. vor dem 21. Geburtstag nicht erwerbsunfähig war bzw. auf welche genauen Gründe sich diese Annahme stütze. Der Bescheid sei daher nicht überprüfbar, noch entspreche der festgestellte Sachverhalt dem Gesundheitszustand des Bf. Dieser sei von einem Sachverständigen im Erwachsenenschutzverfahren untersucht worden und das erstellte Sachverständigengutachten des Dr. Dok3, welches dieser dem BG Innere Stadt Wien zu GZ 123 gegenüber erstellt habe, der belangten Behörde bereits vorgelegt worden. Schon dort sei beschrieben worden, dass eine Entwicklungsstörung samt einhergehend intellektuellen Leistungsdefizit seit Geburt vorliege und in diesem Zusammenhang auch die Bestellung eines, damals noch, Sachwalters notwendig gewesen sei. Aus diesem Gutachten könnten jedenfalls Rückschlüsse darauf gezogen werden, dass auch vor dem vollendeten 23. Lebensjahr (gemeint wohl: 21. Lebensjahr) beim Bf. Voraussetzungen für die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe vorgelegen seien. Dieses Gutachten sei ganz offensichtlich nicht ausreichend im jetzigen Verfahren berücksichtigt bzw. bei der Entscheidungsfindung herangezogen worden. Der angefochtene Bescheid leide daher an Rechtswidrigkeit seines Inhaltes, unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Mangelhaftigkeit des Verfahrens. Es seien nicht sämtliche Beweise ausreichend gewürdigt worden und sei in diesem Zusammenhang der Sachverhalt nicht richtig festgestellt worden. Das Gutachten des Dr. Dok3 werde nochmals zur Vorlage gebracht.

Aus all den genannten Gründen stelle er nachstehende Beschwerdeanträge

den angefochtenen Bescheid aufzuheben und den Anspruch auf Familienbeihilfe zumindest ab November 2019 festzustellen, in eventu die Angelegenheit zur neuerlichen Entscheidung der Behörde erster Instanz zur neuerlichen Entscheidung nach Ergänzung des Verfahrens zurückverweisen.

Auf Grund der eingebrachten Beschwerde wurde der Bf von Dr. Dok4, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, am neuerlich untersucht und am folgendes Gutachten erstellt:

"Anamnese:
VORLIEGENDE VORGUTACHTEN:
neurologisches Sachverständigengutachten BASB, FLAG :
Intelligenzminderung GdB 50%

Herr Bf. ist voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst denUnterhalt zu verschaffen: JA

Die Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen ist nicht vor vollendetem 18.Lebensjahr eingetreten.

Die Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen ist nicht vor vollendetem 21.Lebensjahr eingetreten.

Die Fähigkeit sich selbst den Unterhalt zu verschaffen ist nicht gegeben (ab Besachwaltung10/2017) da psychische und kognitive Beeinträchtigungen vorhanden sind; welche eineBeschäftigung am allgemeinen Arbeitsmarkt gegenwärtig nicht möglich machen.

NU 3a
dagegen Beschwerde

neurologisches Sachverständigengutachten BASB, FLAG :
Intelligenzminderung GdB 50%
ab 10/2017

Herr Bf. ist voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: JA

Die Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen ist nicht vor vollendetem 18. Lebensjahr eingetreten.

Die Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen ist nicht vor vollendetem 21. Lebensjahr eingetreten.

Die Fähigkeit sich selbst den Unterhalt zu verschaffen ist nicht gegeben da der Patient aufgrund seiner Defizite nicht ausreichend belastbar ist und deutliche kognitive Beeinträchtigungen bestehen, welche eine Beschäftigung am allgemeinen Arbeitsmarkt nicht möglich machen.

Die Unfähigkeit sich selbst den Unterhalt zu verschaffen besteht nach wie vor (Idem zum Vorgutachten) ab 10/2017 (Beginn der Besachwaltung). Auch aus dem neu vorgelegten psychiatrischen Gutachten, kann eine Unfähigkeit sich selbst den Unterhalt zu verschaffen vor 10/2017 nicht abgeleitet werden. Eine Abänderung im Vergleich zum beeinspruchten Vorgutachten kann daher nicht erfolgen.

Dauerzustand

neurologisches Sachverständigengutachten BASB, FLAG :
Intelligenzminderung GdB 50% ab 10/2017

Herr Bf. ist voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: JA

Dies besteht seit: 10/2017

Der AW ist nach wie vor voraussichtlich dauerhaft außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, da aufgrund der Einschränkung im Rahmen des festgestellten Leidens 1 die Belastbarkeit sowie Ausdauer deutlich eingeschränkt ist. Die EU besteht nach wie vor seit 10/2017 (Beginn der Besachwaltung), es werden keine neuen Befunde vorgelegt (z.B. Stellungsbefund) die eine Erwerbsunfähigkeit vor 10/2017 ausreichend begründen
AKTUELL:
Neuantrag ab Eintritt der Behinderung

Neuerliche Beantragung wegen Beschwerde: ja

Schreiben RA Mag. Schuller : "dass eine Entwicklungsstörung samt einhergehend intellektuellen Leistungsdefizit seit Geburt vorliegt und in diesem Zusammenhang auch die Bestellung eines, damals noch, Sachwalters notwendig war."

ANAMNESE:
keine Voroperationen oder schwerer Erkrankungen erhebbar.

In der 2. HS Klasse sei er ein paar Mal bei der Schulpsychologin gewesen. Er habe es nicht verkraftet, dass sein Bruder nicht mehr mit ihm die Schule gefahren sei, weil er in eine andere Schule gekommen sei.

Drogen: keine
Alkohol: selten
Nikotin: keiner

Derzeitige Beschwerden:

Er sei jetzt müde, weil er jetzt versucht habe schnell herzukommen, weil er sich verlaufen habe. Ansonsten gehe es ihm gut.

Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
keine medikamentöse/therapeutische/ psychiatrische Behandlung

Sozialanamnese:
Wuchs bei den Eltern auf, 7 Geschwister (zum Teil fremduntergebracht).
Tod des Vaters als der AW 17 Jahre war.
AW lebt jetzt im Haus des Vaters gemeinsam mit Mutter und Stiefvater und 3 Geschwistern.
4a VS
4a HS, er habe einen HS Abschluss
Polytechnikum
Er sei dann zu Hause gewesen.
Die Geschwister waren fremduntergebracht, weil sie die Mutter angezeigt hätten, dass sie ihnen nichts zu essen gäbe. Sie hätten dann umziehen müssen, damit alle wieder zu Hause wohnen konnten. Er habe in der HS einmal einen Sommerjob gehabt bei einem Tierarzt. Nach der Schule habe er nicht gearbeitet, keine weitere Ausbildung. Er half der Mutter bei den täglichen Hausarbeiten, sie seien eine große Familie. 2022 war er in ... bei Kolping 5 Tage/Woche tätig, dort in einer Ausbildung zur Küchenhilfe - er habe es vor 2 Monaten beendet, weil der Stiefvater einen Schlaganfall hatte und die Mutter auch gesundheitlich beeinträchtigt ist und sonst alleine gewesen wäre.

Erwachsenenvertreter: seit 2017
Er bekomme von Sachwalter lx/Woche 80 Euro
Er glaube nicht, dass er eine Waisenrente habe.
Pflegegeld: Stufe 1 seit 2017 It. Vorgutachten. AW gibt an, dass er das nicht wisse.
Führerschein: keiner
Bundesheer: untauglich
Tagesablauf: er helfe der Mutter

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
keine neuen Befunde vorliegend

Das psychiatrische Gutachten Dr. M. bezgl. Erwachsenenvertretung lag bereits beim Gutachten vom vor:

Auszug aus dem Gutachten:
Anregung zur Bestellung eines Sachwalters, :
...Seit Jahren nicht krankenversichert, war auch lange Zeit nicht mehr beim Arzt, Vernachlässigung, Entwicklungsverzögerung, massive Angst die Wohnung zu verlassen, weil die Hunde sonst noch lauter bellen würden und er dann Schwierigkeiten mit den Familienmitgliedern und Nachbarn bekommt.
Clearingbericht, VertretungsNetz Sachwalterschaft, :
Es wird empfohlen das Sachwalterschaftsverfahren weiterzuführen. Schwierige Kindheit, sieben Geschwister, zum Teil fremduntergebracht. Bereits im Alter von fünf Jahren von Vater angehalten worden exzessiv Computerspiele zu spielen. Als er nach der Sonderschule eine Ausbildung beginnen wollte, hätte der Vater die Unterlagen verbrannt und gemeint, dass er zu Hause bleiben und am PC spielen soll....

Neuropsychiatrische und somatisch relevante Diagnosen (ICD-10):
Intelligenzminderung leicht
DD: Schizophrenie

Zusammenfassung:
Anamnestisch findet sich beim Untersuchten eine Entwicklungsstörung einhergehend mit intellektuellen Leistungsdefizit. Differentialdiagnostisch ist an eine schizophrene Entwicklung zu denken. Der Untersuchte ist nicht in der Lage den Erfordernissen des Alltags nachkommen zu können. Es bestehen ein Leistungsknick und eine Minussymptomatik. Eine fachbezogene Behandlung ist im Verlauf nicht erhebbar. Aufgrund eines Selbstfürsorgedefizites in der Handhabung seiner Angelegenheiten wurde für den Betroffenen die Einleitung einer Sachwalterschaft angeregt.

Untersuchungsbefund:

Psycho(patho)logischer Status:
Kooperativ und freundlich, gibt bereitwillig Auskunft, wirkt nervös, bewußtseinsklar, überhastete Antworten, leichte Zeitrasterstörung (DD: überhastete Auskunft), zur Person orientiert, kein schwerwiegendes kognitiv- mnestisches Defizit, einfach strukturiert,

Gedankenductus: geordnet, beschleunigt, berichtet in raschem Tempo, durch äußere Struktur zu bremsen, Konzentration und Auffassung vermindert, Realitätssinn imponiert eingeschränkt, Antrieb unauffällig; Stimmungslage ausgeglichen, stabil, affizierbar; Affekte: angepasst, keine produktive Symptomatik, unreife Persönlichkeit

Herr Bf. ist voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: JA

Dies besteht seit: 10/2017

Anmerkung bzw. Begründung betreffend die Fähigkeit bzw. voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen:

Nach der Anamnese und dem vorliegenden Befund (Gutachten Psychiater Dr. M. bzgl. Erwachsenenvertretung) ist eine Entwicklungsstörung- Verzögerung, schwierige familiäre Verhältnisse nachvollziehbar. Es wird im Gutachten eine leichte Intelligenzminderung beschrieben. Aus dieser und auch korrelierend zur angegebenen Schulbildung sind keine behinderungsbedingten Funktionseinschränkungen in einem solchen Ausmaß zu erwarten, dass sich eine anhaltende Selbsterhaltungsunfähigkeit daraus ergeben würde.

Als Zweitdiagnose wird differentialdiagnostisch eine Schizophrenie angeführt, was prinzipiell in Kombination als deutlich erschwerend hinsichtlich Erreichung einer Selbsterhaltungsfähigkeit sein könnte.

Es liegen aber keine Unterlagen vor, die hier den Beginn/ Ausmaß einer psychiatrischen Erkrankung dokumentieren würden, dass daraus eine Selbsterhaltungsunfähigkeit vor dem 18. /21. LJ eindeutig abgeleitet werden könnte.

Diese kann - gleichbleibend zum Vorgutachten - ab Beistellung eines Erwachsenenvertreters mit entsprechender klinischer Beschreibung - bestätigt werden.

Dauerzustand.

Das FA wies die Beschwerde mit Beschwerdevorentscheidung vom mit folgender Begründung ab:

"Nach § 8 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG 1967) haben volljährige Kinder Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn sie wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Gemäß § 8 Absatz 4 erhöht sich die Familienbeihilfe für jedes erheblich behinderte Kind.

In Absatz 6 der genannten Bestimmung ist festgelegt, dass der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, durch eine Bescheinigung des Sozialministeriumservice auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen ist.

In dem Gutachten des Sozialministeriumservice vom wurde festgestellt, dass eine Behinderung im Ausmaß von 50% seit Oktober 2017 besteht und dass vom Vorliegen einer voraussichtlich dauernden Erwerbsunfähigkeit ab diesem Zeitpunkt ausgegangen werden kann.

Da eine Erwerbsunfähigkeit erst nach Vollendung des 21. Lebensjahres und auch nicht während einer späteren Berufsausbildung eingetreten ist, fehlen somit die Voraussetzungen für die Gewährung der Familienbeihilfe ab November 2019. Ein Erhöhungsbetrag wegen erheblicher Behinderung steht grundsätzlich nur dann zu, wenn Anspruch auf den Grundbetrag der Familienbeihilfe besteht…"


Der Erwachsenenvertreter stellte am einen Vorlageantrag an das Bundesfinanzgericht.

Das Bundesfinanzgericht hat erwogen

Sachverhalt

Der Bf ist am 1993 geboren.

Er hat die Hauptschule abgeschlossen und besuchte danach 1 Jahr das Polytechnikum.

Der Bf wohnt mit seiner Mutter im gemeinsamen Haushalt.

Er war nach der Schule nie berufstätig. 2022 war er in NÖ bei Kolping 5 Tage/Woche tätig und machte eine Ausbildung zur Küchenhilfe. Die Ausbildung wurde beendet, weil der Stiefvater einen Schlaganfall hatte und die Mutter gesundheitlich beeinträchtigt ist.

Der Bf leidet an einer Behinderung, weshalb für ihn ein Sachwalter bestellt wurde.

Der Bf erhält seit 2017 (= Besachwaltung) Pflegegeld Stufe 1.

In den Sachverständigengutachten des Sozialministeriumservice vom und vom , erstellt im Zuge dieses Verfahrens, wurde beim Bf eine leichte Intelligenzminderung diagnostiziert und die Erkrankung unter die Richtsatzposition mit einem Behinderungsgrad von 50 vH eingereiht. Eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit wurde rückwirkend ab Oktober 2017, und somit nicht vor dem 21. Lebensjahr, bescheinigt.

Diese Feststellung wurde damit begründet, dass keine Unterlagen vorliegen würden, die den Beginn/Ausmaß einer psychiatrischen Erkrankung dokumentieren würden, dass daraus eine Selbsterhaltungsunfähigkeit vor dem 18./21. Lebensjahr eindeutig abgeleitet werden könnte.

Beweiswürdigung

Dieser Sachverhalt beruht auf dem vom Bf vorgelegten Gutachten des Dr. M. vom , den Vorgutachten vom und vom sowie den im Zuge des vorliegenden Verfahrens erstellten Gutachten des Sozialministeriumservice vom und vom .

Das Bundesfinanzgericht gelangt aus den nachstehend angeführten Gründen zum Ergebnis, dass die in den Gutachten übereinstimmend getroffenen Feststellungen, wonach beim Bf eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit erst ab Oktober 2017 vorliegt, mit größter Wahrscheinlichkeit den Tatsachen entspricht.

Der Bf bezieht erst seit 2017 Pflegegeld (Stufe 1).

Die beiden im Zuge des Verfahrens erstellten Gutachten sind schlüssig, nachvollziehbar und widerspruchsfrei.

Auf die Art der Leiden und deren Ausmaß wurde ausführlich eingegangen.

Vom Bf wurden keine Befunde vorgelegt, aus denen der Eintritt der voraussichtlich dauernden Erwerbsunfähigkeit bereits vor dem 18./21. Lebensjahr abgeleitet hätte werden können.

Das Gutachten von Dr. M. vom ist in die Beurteilung eingeflossen und steht nicht im Widerspruch zu den gutachterlichen Beurteilungen.

Laut diesem Gutachten und dessen mündlicher Erörterung besteht beim Bf eine psychiatrische Symptomatik im Rahmen einer Entwicklungsstörung, einhergehend mit einem intellektuellen Leistungsdefizit und eingeschränkten Problemstrategien. Psychopathologisch würden sich Störungen der emotionalen und affektiven Befindlichkeit, des Gedankenganges, der kognitiven Erfassung und Verarbeitung finden. Die Kritik- und Urteilsfähigkeit sei schwankend. Die Überblicksgewinnung komplexe Angelegenheiten betreffend sei als nicht gegeben zu beurteilen. Der Betroffene sei nicht in der Lage, den sozialen Anforderungen nachzukommen.

Der Gutachter und die Gutachterin konnten aus dem Gutachten von Dr. M., für das Gericht nachvollziehbar, keine Schlüsse ziehen, ab wann beim Bf die Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist, da sich dieses Gutachten nicht mit der Erwerbsfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit auseinandersetzt.

Das Gericht kann sich daher dem Vorbringen des Erwachsenenvertreters, dass aus dem Gutachten von Dr. M. Rückschlüsse daraus gezogen werden könnten, dass beim Bf bereits vor dem 21. Lebensjahr die Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist, nicht anschließen.

Zum Vorbringen des Erwachsenenvertreters, wonach nicht sämtliche Beweise ausreichend gewürdigt worden seien, wird festgestellt, dass zufolge der Aktenlage keine weiteren Befunde vorgelegt wurden.

Die Ausführungen der Sachverständigen im Gutachten, dass eine weiter zurückreichende Bestätigung von Erwerbsunfähigkeit auf Grund fehlender Befundvorlage nicht möglich war, sind daher einleuchtend und überzeugend.

Ein Arzt kann die Beeinträchtigung durch eine Erkrankung bzw. Behinderung naturgemäß nur zum Zeitpunkt der Untersuchung mit Sicherheit feststellen kann und eine Einschätzung über Zeiträume, die bereits mehrere Jahre zurückliegen, in den meisten Fällen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in aller Regel nur bei Vorliegen von relevanten Befunden vornehmen.

Gesetzliche Grundlagen

Gemäß § 2 Abs. 1 lit. c FLAG 1967 besteht Anspruch für volljährige Kinder, die wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

§ 8 Abs. 4 FLAG 1967 legt fest, in welchem Ausmaß sich die Familienbeihilfe bei einem erheblich behinderten Kind erhöht.

Gemäß § 8 Abs 5 FLAG 1967 gilt ein Kind als erheblich behindert, bei dem eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung besteht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von voraussichtlich mehr als drei Jahren. Der Grad der Behinderung muss mindestens 50 vH betragen, soweit es sich nicht um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Gemäß § 8 Abs. 6 FLAG 1967 ist der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, durch eine Bescheinigung des Bundes-amtes für Soziales und Behindertenwesen (nunmehr: Sozialministeriumservice) auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen.

Für die Einschätzung des Grades der Behinderung sind § 14 Abs 3 des Behindertenein-stellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, in der jeweils geltenden Fassung, und die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung) vom , BGBl. II Nr. 261/2010, in der jeweils geltenden Fassung anzuwenden. Die erhebliche Behinderung ist spätestens nach fünf Jahren neu festzustellen, soweit nicht Art und Umfang eine Änderung ausschließen.

In der Einschätzungsverordnung, BGBl. II Nr. 261/2010, geändert durch BGBl. II Nr. 251/2012, ist Folgendes normiert:

"Behinderung

§ 1. Unter Behinderung im Sinne dieser Verordnung ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, insbesondere am allgemeinen Erwerbsleben, zu erschweren. Als nicht nur vorübergehendgilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.

Grad der Behinderung

§ 2. (1) Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen sind als Grad der Behinderung zu beurteilen. Der Grad der Behinderung wird nach Art und Schwere der funktionellen Einschränkungen in festen Sätzen oder Rahmensätzen in der Anlage dieser Verordnung festgelegt. Die Anlage bildet einen Bestandteil dieser Verordnung.

(2) Bei Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen, die nicht in der Anlage angeführt sind, ist der Grad der Behinderung in Analogie zu vergleichbaren Funktionsbeeinträchtigungen festzulegen.

(3) Der Grad der Behinderung ist nach durch zehn teilbaren Hundertsätzen festzustellen. Ein um fünf geringerer Grad der Behinderung wird von ihnen mit umfasst. Das Ergebnis der Einschätzung innerhalb eines Rahmensatzes ist zu begründen.

Gesamtgrad der Behinderung

§ 3. (1) Eine Einschätzung des Gesamtgrades der Behinderung ist dann vorzunehmen, wenn mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen. Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung sind die einzelnen Werte der Funktionsbeeinträchtigungen nicht zu addieren. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander.

(2) Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung ist zunächst von jener Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, für die der höchste Wert festgestellt wurde. In der Folge ist zu prüfen, ob und inwieweit dieser durch die weiteren Funktionsbeeinträchtigungen erhöht wird. Gesundheitsschädigungen mit einem Ausmaß von weniger als 20 vH sind außer Betracht zu lassen, sofern eine solche Gesundheitsschädigung im Zusammenwirken mit einer anderen Gesundheitsschädigung keine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung verursacht. Bei Überschneidungen von Funktionsbeeinträchtigungen ist grundsätzlich vom höheren Grad der Behinderung auszugehen.

(3) Eine wechselseitige Beeinflussung der Funktionsbeeinträchtigungen, die geeignet ist, eine Erhöhung des Grades der Behinderung zu bewirken, liegt vor, wenn

- sich eine Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere besonders nachteilig auswirkt,

- zwei oder mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, die gemeinsam zu einer wesentlichen Funktionsbeeinträchtigung führen.

(4) Eine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung ist dann gegeben, wenn das Gesamtbild der Behinderung eine andere Beurteilung gerechtfertigt erscheinen lässt, als die einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen alleine.

Grundlage der Einschätzung

§ 4. (1) Die Grundlage für die Einschätzung des Grades der Behinderung bildet die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen, psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung in Form eines ärztlichen Sachverständigengutachtens. Erforderlichenfalls sind Experten aus anderen Fachbereichen - beispielsweise Psychologen - zur ganzheitlichen Beurteilung heran zu ziehen.

(2) Das Gutachten hat neben den persönlichen Daten die Anamnese, den Untersuchungsbefund, die Diagnosen, die Einschätzung des Grades der Behinderung, eine Begründung für die Einschätzung des Grades der Behinderung innerhalb eines Rahmensatzes sowie die Erstellung des Gesamtgrades der Behinderung und dessen Begründung zu enthalten…"

Rechtliche Beurteilung

Gutachten

Allgemeines:

Ein Gutachten ist die begründete Darstellung von Erfahrungssätzen und die Ableitung von Schlussfolgerungen für die tatsächliche Beurteilung eines Geschehens oder Zustands auf der Basis des objektiv feststellbaren Sachverhaltes durch einen oder mehrere Sachverständige. Sachverständige haben dabei fundierte und wissenschaftlich belegbare konkrete Aussagen zu treffen und dürfen ihre Beurteilungen und Feststellungen nicht auf Spekulationen, sondern ausschließlich auf die festgestellten Tatsachen, verbunden mit ihrem fachspezifischen Wissen, stützen. Alleine die Möglichkeit, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmter Sachverhalt vorgelegen sein könnte, reicht dabei keinesfalls aus, diesen Sachverhalt gutachterlich als gegeben anzusehen und zu bestätigen (vgl. z.B. ; ).

Erhöhte Familienbeihilfe - Bescheinigung des Sozialministeriumservice:

Nach den Bestimmungen des § 8 Abs 6 FLAG 1967 ist der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, durch eine Bescheinigung des Sozialministeriumservice (früher: Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen) auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens) nachzuweisen (vgl z.B. ; ; ; ).

Das ärztliche Zeugnis betreffend das Vorliegen einer Behinderung iSd FLAG 1967 hat Feststellungen über die Art und das Ausmaß des Leidens sowie auch der konkreten Auswirkungen der Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit in schlüssiger und damit nachvollziehbarer Weise zu enthalten (vgl. ; ; ).

Das nach dieser Bestimmung abzuführende qualifizierte Nachweisverfahren durch ein ärztliches Gutachten (vgl. dazu , und , sowie ) hat sich im Fall, dass ein volljähriger Antragsteller die erhöhte Familienbeihilfe beantragt, darauf zu erstrecken, ob die 50%ige Behinderung oder die Erwerbsunfähigkeit bereits vor Vollendung des 21. Lebensjahres (oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres) eingetreten ist (vgl. etwa ).

Anwendung der Richtsatzverordnung:

Für die Einschätzung des Grades der Behinderung sind § 14 Abs 3 des Behindertenein-stellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, in der jeweils geltenden Fassung, und die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung) vom , BGBl. II Nr. 261/2010, in der jeweils geltenden Fassung anzuwenden.

Bei der Anwendung der Richtsatzverordnung kann man zufolge der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. zB ) auf Erfahrungswerte einer jahrzehntelangen Praxis zurückblicken, wobei auch eine breite Akzeptanz der Bevölkerung festgestellt wurde. Die Anwendung der Richtsatzverordnung wird durch deren klar abgrenzbare Vorgaben bei der Beurteilung von Behinderungen durch Prozentsätze nicht nur eine bundeseinheitliche Vollziehung nach objektiven Kriterien, sondern insbesondere auch das erforderliche Maß an Rechtssicherheit bringen. Zwar basiert die Richtsatzverordnung auf Vorschriften des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957, Experten aus der Ärzteschaft und der Verwaltung haben aber bestätigt, daß diese Verordnung auch altersbezogen und spezifisch auf Kinder angewandt werden kann.

Feststellung, in welchem Ausmaß eine Behinderung gegeben ist bzw. wann die Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist:

Die Aufgabe des Arztes als Gutachter bzw. fachkundiger Berater des Gerichtes oder sonstiger Auftraggeber besteht darin, entsprechend den ihm vom Auftraggeber gestellten Beweisfragen medizinische Befunde zu erheben und diese unter Berücksichtigung der sonstigen ihm zugänglich gemachten Informationen auf der Basis medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnis und ärztlichen Erfahrungswissens zu bewerten, um so dem "Auftraggeber" (hier: FA) eine Entscheidung der rechtlich erheblichen Fragen zu ermöglichen.

Demgemäß werden bei der Feststellung, ab welchem Zeitpunkt ein bestimmter Grad der Behinderung bzw. ab wann die Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist, von den sachverständigen Ärzten des Sozialministeriumservice neben der Anamnese, den Untersuchungsergebnissen und dem ärztlichen Erfahrungswissen die von den Antragstellern vorgelegten Befunde herangezogen.

Bei der Einschätzung dürfen andere als behinderungskausale Gründe (wie z.B. mangelnde oder nicht spezifische Ausbildung, die Arbeitsplatzsituation, Arbeitsunwilligkeit, oÄ) wie eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes (etwa durch Folgeschäden) nach Vollendung des 21. Lebensjahres) für die Beurteilung nicht herangezogen werden (vgl ).

Mitwirkungspflicht bei Begünstigungsvorschriften:

Nach der Judikatur des VwGH besteht bei Begünstigungsvorschriften und in Fällen, in denen die Ermittlungsmöglichkeiten der Behörde eingeschränkt sind, eine erhöhte Mitwirkungspflicht. Eine Mitwirkungspflicht ist gerade in den Fällen wichtig und unerlässlich, in denen der Antrag auf erhöhte Familienbeihilfe wegen Erwerbsunfähigkeit von Personen gestellt wird, die erheblich älter als 21 bzw. 25 Jahre alt sind.

Die Vorlage von "alten" und relevanten Unterlagen (Befunden, Bestätigung über Spitalsaufenthalte oder Therapien etc.) seitens des Antragstellers ist gerade dann wichtig bzw. unerlässlich, wenn ein Sachverständiger (weit rückwirkend) den Zeitpunkt festzusetzen hat, seit wann ein bestimmter Behinderungsgrad vorliegt oder wann die Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist.

Fehlen derartige Befunde, warum auch immer, können die vom Sachverständigen getroffenen Feststellungen nur mit hoher Wahrscheinlichkeit den Tatsachen entsprechen und liegt die Ursache auch darin, dass Erkrankungen unterschiedlich stark ausgeprägt sind, häufig einen schleichenden Verlauf nehmen oder sich mit zunehmendem Alter verschlechtern.

Diese Auffassung vertritt auch Lenneis in Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG, 2. Aufl. 2020, § 8, II. Erhebliche Behinderung [Rz 10 - 35]. Es sei wohl nicht zu bestreiten, dass die Ermittlungsmöglichkeiten der Behörde eingeschränkt sind, wenn Sachverhalte zu beurteilen sind, die teilweise Jahrzehnte zurückliegen. Auch der Sachverständige könne aufgrund seines medizinischen Fachwissens ohne Probleme nur den aktuellen Gesundheitszustand des Erkrankten beurteilen. Hierauf komme es aber nur dann an, wenn der derzeitige Behinderungsgrad zu beurteilen sei oder die Feststellung, ob eine dauernde Erwerbsunfähigkeit vorliegt, zeitnah zum relevanten Zeitpunkt erfolgen könne. Der Sachverständige könne in den übrigen Fällen nur aufgrund von Indizien, insbesondere anhand von vorliegenden Befunden, Rückschlüsse darauf ziehen, zu welchem Zeitpunkt eine erhebliche Behinderung eingetreten ist. Somit werde es primär an den Beschwerdeführern, allenfalls vertreten durch ihre Sachwalter, liegen, den behaupteten Sachverhalt, nämlich ihre bereits vor der Vollendung des 21. Lebensjahres eingetretene dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, klar und ohne Möglichkeit eines Zweifels nachzuweisen (Verweis auf die Entscheidungen des ; , RV/0687-W/05).

Für den im Jahr 1993 geborenen Bf sind diese Ausführungen uneingeschränkt anwendbar.

Bindung der Abgabenbehörde und des Bundesfinanzgerichtes an die Sachverständigengutachten des Sozialministeriumservice, wenn diese schlüssig sind:

Ein Gutachten ist

•vollständig, wenn es die von der Behörde oder dem Gericht gestellten Fragen beantwortet (sofern diese zulässig waren)

•nachvollziehbar, wenn das Gutachten von der Beihilfenstelle und vom Gericht verstanden werden kann und diese die Gedankengänge des Gutachters, die vom Befund zum Gutachten führten, prüfen und beurteilen kann und

•schlüssig, wenn es nach der Prüfung auf Vollständigkeit und Nachvollziehbarkeit immer noch überzeugend und widerspruchsfrei erscheint

Die Gutachten unterliegen, wie alle anderen Beweismittel, der freien behördlichen/richterlichen Beweiswürdigung.

Das FA und das Bundesfinanzgericht sind an die Gutachten des SMS gebunden und dürfen diese nur insoweit prüfen, ob diese vollständig, nachvollziehbar und schlüssig sind und im Fall mehrerer Gutachten oder einer Gutachtensergänzung nicht einander widersprechen (vgl. ; ; Erkenntnisse VwGH jeweils vom , 2009/16/0307 und 2009/16/0310). Erforderlichenfalls ist für deren Ergänzung zu sorgen (; ; ). Eine andere Form der Beweisführung ist nicht zugelassen (vgl. ua.).

Die Beihilfenbehörden, und auch das Gericht, haben bei ihrer Entscheidung jedenfalls von dieser durch ärztliche Gutachten untermauerten Bescheinigung auszugehen und können von ihr nur nach entsprechend qualifizierter Auseinandersetzung abgehen (vgl. ).

Voraussetzung für den Erhöhungsbetrag zur Familienbeihilfe:

Voraussetzung für den Erhöhungsbetrag ist, dass der Grundbetrag an Familienbeihilfe zusteht (vgl FLAG Kommentar, Csaszar/Lenneis/Wanke, § 8, Rz 5 ). Das bedeutet, dass bei volljährigen Kindern, denen nicht schon aus anderen Gründen als aus dem Titel der Behinderung der Grundbetrag an Familienbeihilfe zusteht, der Grad der Behinderung ohne jede Bedeutung ist, und würde er auch 100 % betragen. Besteht also keine vor dem 21. (25.) Lebensjahr einge-tretene voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, steht weder Grund- noch Erhöhungsbetrag zu. Besteht eine derartige Unterhaltsunfähigkeit, stehen sowohl Grund- als auch Erhöhungsbetrag zu (FLAG Kommentar, Csaszar/Lenneis/Wanke, § 8, Rz 21).

(vgl. ; ; ).

Antrag auf Familienbeihilfe und erhöhte Familienbeihilfe durch erwachsene Personen:

Beantragt eine erwachsene Person die Familienbeihilfe und den Erhöhungsbetrag, so hat sich das nach dieser Bestimmung abzuführende qualifizierte Nachweisverfahren durch ein ärztliches Gutachten (vgl dazu , und , sowie ) darauf zu erstrecken, ob eine Antragstellerin/ein Antragsteller wegen einer vor Vollendung seines 21. Lebensjahres (oder - für den Beschwerdefall nicht relevant - während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres) eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außer Stande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen (vgl etwa ).

Leichte Intelligenzminderung:

Im vorliegenden Fall attestierten die Sachverständigen dem Bf nach Anamneseerhebung, durchgeführter Untersuchung und unter Einbeziehung des Gutachtens von Dr. M. eine leichte Intelligenzminderung.

Intelligenz ist nicht eindeutig definiert und hängt von einer Reihe von Fertigkeiten ab, zB von Kognition, Sprache, Merkfähigkeit, Gedächtnis, Übersichtsfähigkeit, von motorischen und sozialen Fertigkeiten. Bei Intelligenzminderung können alle Fertigkeiten oder nur einzelne Teilbereiche beeinträchtigt sein. Die Intelligenzminderung führt oft zu Schwierigkeiten im Aneignen von Kenntnissen sowie beim Handeln und Denken (bedingt durch Konzentrations-störungen oder Gedächtnisschwäche), beschränktes Interesse und eine verzögerte intellek-tuelle Reife. Betroffene sind schulbildungsfähig, meist allerdings nur in Förderschulen für Lernbehinderte. Zusätzlich kann zur Intelligenzminderung noch eine soziale und emotionale Unreife hinzukommen, sodass die Betroffenen eigenständig den Anforderungen einer Ehe oder der Kindererziehung nicht nachkommen können (BVwG , W200 2012322-1).

Die klinisch-psychologische Diagnostik bei Personen mit intellektueller Beeinträchtigung ist ein komplexer Prozess und setzt umfassendes diagnostisches Wissen, die Kenntnis geeigneter Verfahren sowie ausreichende Erfahrung mit der Untersuchung intellektuell beeinträchtigter Personen der jeweiligen Altersgruppe seitens des Gutachters voraus. Bei Durchführung der Diagnostik ist auf das Entwicklungsniveau der Person und deren kommunikative Möglich-keiten zu achten. Die Fragen sollten kurz, konkret und deutlich formuliert sein. Informationen über den Entwicklungsstand, die Entwicklungs- und Bildungsgeschichte, die Krankengeschichte einschließlich Komorbiditäten und störungsrelevanter Rahmenbedingungen sollten durch Befragung von mehreren zuverlässigen, unabhängigen Quellen erhoben werden. Die Anamnese wird durch eine Verhaltensbeobachtung und Verhaltensanalyse ergänzt. Neben dem kognitiven ist auch das soziale und emotionale Entwicklungsniveau sowie die Persönlich-keitsentwicklung ein Bestandteil der Untersuchung (Auszug aus der Richtlinie für die Erstellung von klinisch-psychologischen und gesundheitspsychologischen Befunden und Gutachten, Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz).

Erwerbsunfähigkeit:

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann eine zu einer solchen Erwerbsunfähigkeit führende geistige oder körperliche Behinderung Folge einer Krankheit sein, die schon seit längerem vorliegt. Erst wenn diese Krankheit zu einer derart erheblichen Be-hinderung führt, welche die Erwerbsunfähigkeit bewirkt, ist der Tatbestand des § 2 Abs. 1 lit. c FLAG 1967 erfüllt. Mithin kommt es weder auf den Zeitpunkt an, zu dem sich eine Krankheit als solche äußert, noch auf den Zeitpunkt, zu welchem diese Krankheit zu (irgend)einer Behinderung führt. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, zu dem diejenige Behinderung (als Folge der allenfalls schon länger bestehenden Krankheit) eintritt, welche die Erwerbsunfähigkeit bewirkt.

Eine Intelligenzminderung (Mangel an intellektuellen Fähigkeiten), die zweifelsfrei seit Geburt besteht oder durch andere Umstände verursacht wird, bedeutet nicht, dass eine Person niemals imstande war, einer für sie adäquaten Arbeit nachzugehen oder dass eine Erwerbs-unfähigkeit bereits vor dem 21. Lebensjahr bestanden hat.

Zusammenfassend wird festgestellt, dass das Bundesfinanzgericht die in den zwei im Zuge des Verfahrens erstellten Gutachten getroffenen Feststellungen zufolge der vorstehenden Ausführungen als vollständig, nachvollziehbar und schlüssig erachtet.

Im ggstdl. Fall besteht keine vor dem 21. Lebensjahr (eine spätere Berufsausbildung liegt nicht vor) eingetretene voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Daher steht weder der Grundbetrag noch der Erhöhungsbetrag an Familienbeihilfe zu.

Die Beschwerde war daher abzuweisen und spruchgemäß zu entscheiden.

Unzulässigkeit einer Revision:

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die Lösung der Frage, unter welcher Voraussetzung die erhöhte Familienbeihilfe (Grundbetrag und Erhöhungsbetrag) zusteht, ergibt sich aus den bezughabenden Gesetzesbestimmungen. Bei der Frage, ob und ab wann eine "dauernde Erwerbsunfähigkeit" gegeben ist, handelt es sich um eine Tatfrage und ist das BFG an die vom Sozialministeriumservice erstellten Gutachten gebunden, sofern diese schlüssig sind. Da sohin keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu beurteilen war, ist eine Revision nicht zulässig.

Wien, am

Zusatzinformationen


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Materie
Steuer
FLAG
betroffene Normen
Verweise
ECLI
ECLI:AT:BFG:2022:RV.7102675.2022

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at