Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 29.08.2022, RV/7102167/2022

Hüftoperation im Rahmen einer Sonderklasse-Behandlung als außergewöhnliche Belastung?

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter ***R*** in der Beschwerdesache ***Bf***, ***Bf-Adr***, über die Beschwerde vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Österreich vom betreffend Einkommensteuer (Arbeitnehmerveranlagung) 2020 zur Steuernummer ***Bf-StNr*** zu Recht erkannt:

I. Der Beschwerde wird gemäß § 279 BAO teilweise Folge gegeben.

Der angefochtene Bescheid wird abgeändert.

Die Bemessungsgrundlagen und die Höhe der festgesetzten Abgaben sind dem als Beilage angeschlossenen Berechnungsblatt zu entnehmen und bilden einen Bestandteil des Spruches dieses Erkenntnisses.

II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

Verfahrensgang

A. Erklärung zur Arbeitnehmerveranlagung 2020 und Ergänzungsersuchen

Im Rahmen der am eingereichten Erklärung zur Arbeitnehmerveranlagung 2020 wurden durch Frau ***Bf*** (in der Folge "Beschwerdeführerin" oder "Bf") Krankheitskosten in Höhe von EUR 10.194,16 als außergewöhnliche Belastungen angesetzt sowie der Pauschbetrag iHv EUR 70/Monat wegen des Vorliegens einer Gesundheitsschädigung iSd § 2 Abs. 1 VO 303/1996 zu §§ 34 und 35 EStG 1988 (Tuberkulose, Zuckerkrankheit, Zöliakie oder Aids) beantragt. Mit Ergänzungsersuchen vom wurde seitens des Finanzamtes um die Übermittlung von zusätzlichen Information zur geltend gemachten außergewöhnlichen Belastung ersucht. Insbesondere wurde um Übermittlung einer Aufstellung gebeten, aus der hervorgehen soll, wie sich der geltend gemachte Betrag zusammensetzt.

Mit Eingabe vom hat die Beschwerdeführerin die gewünschte Aufstellung (siehe unten) sowie die konkreten Belege an das Finanzamt übermittelt und mitgeteilt, dass die Kosten nicht von der Krankenkasse erstattet worden seien und auch keine Privatversicherung vorliegen würde.


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Datum
Wer
Inhalt
Summe in EUR
Orthopäd Spital
Patientenverrechnung OP Hüfte
8.714,54
2020
Apotheke
Abrechnung 2020
1.337,59
*** Dr. A***
Zus. Abrechnung
41,00
*** Dr. B***
Schrittmacherkontrolle
130,00
*** Dr. A***
Zus. Abrechnung
52,00
Kostenersparnis Haushalt (10 Tage á EUR 5,23)
  1. 52,30
SUMME
  • 10.222,83

B. Einkommensteuerbescheid 2020, Beschwerde, erneutes Ergänzungsersuchen

In dem am ergangenenEinkommensteuerbescheid wurde lediglich ein Betrag von EUR 1.560,59 (entspricht der Summe von EUR 10.222,83 abzüglich der OP-Kosten iHv EUR 8.714,54) dem Grunde nach anerkannt. Da dieser Betrag allerdings unter dem von der Bf zu leistenden Selbstbehalt gemäß § 34 Abs. 4 EStG 1988 liegt, wurden im Ergebnis keine außergewöhnlichen Belastungen berücksichtigt. Zusätzlich wurde ein Freibetrag wegen eigener Behinderung gemäß § 35 Abs. 3 EStG 1988 mit EUR 0,00 festgesetzt. Begründend wurde wie folgt ausgeführt:

Aufwendungen, die einem Steuerpflichtigen für die eigene medizinische Betreuung anfallen, können auch dann zwangsläufig sein, wenn sie durch die gesetzliche Krankenversicherung gedeckten Kosten übersteigen, sofern diese höheren Aufwendungen aus triftigen medizinischen Gründen getätigt werden. Bloße Wünsche oder Vorstellungen der Betroffenen über eine bestimmte medizinische Betreuung stellen noch keine triftigen medizinischen Gründe dar.

Triftige medizinische Gründe liegen nur dann vor, wenn ohne die mit höheren Kosten verbundene medizinische Betreuung konkrete, ernsthafte Schäden drohen. Die Kosten für die Privatklinik konnten daher nicht anerkannt werden.

Die restlichen Aufwendungen wurden bei den außergewöhnlichen Belastungen unter Anrechnung eines Selbstbehaltes berücksichtigt.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die am eingebrachte Beschwerde, in der die Beschwerdeführerin die Berücksichtigung von Krankheitskosten in Höhe von EUR 10.222,83 als außergewöhnliche Belastungen beantragt und zusätzlich begründend ausführt:

Die geltend gemachten Krankheitskosten entsprechen in jeder Hinsicht der Definition aus den LStRL 2002 Rz 902 - 902f. Von einer freiwilligen und gewünschten Leistung kann hier nicht ausgegangen werden.

Die Operation hatte eine medizinische Notwendigkeit, die Wartezeit betrug über 1,5 Jahre. Der Kostenanteil der gesetzlichen Krankenversicherung wurde direkt mit dem Krankenhaus abgerechnet. Die hier angeführten Kosten entsprechen ausschließlich meinem Zusatzaufwand.

Im Rahmen eines weiteren Ergänzungsersuchens vom hat das Finanzamt - nach Darstellung der Voraussetzungen des § 34 EStG - um Vorlage eines Nachweises bzw. Gutachtens betreffend die triftigen medizinischen Gründe ersucht, da nur bei Vorliegen derartiger Gründe eine Abzugsfähigkeit gegeben sei. In diesem Nachweis bzw. Gutachten müsse klar zum Ausdruck kommen, warum die medizinische Behandlung ausschließlich mittels einer Privatoperation und nachfolgender Unterbringung in der Sonderklasse möglich gewesen ist bzw. welche konkreten medizinischen Nachteile durch die Nichtinanspruchnahme gedroht hätten.

Dieses Ergänzungsersuchen wurde mit Eingabe vom beantwortet und es wurde wie folgt ausgeführt:

Es lagen triftige medizinische Gründe vor, die die Operation zeitnah notwendig gemacht haben, wobei diese auf Leistung der Krankenkassa aufgrund der Coronasituation nur mit langer Wartezeit möglich war, war zu meiner Immobilität geführt hätte. Aus diesem Grund musste ich die Leistung von Herrn ***Dr. C*** (behandelnder Orthopäde - Hüftoperation) in Anspruch nehmen. Meine Hausärztin ist Frau ***Dr. D***, Adresse. (Die Stellungnahme zur medizinischen Notwendigkeit finden Sie im Anhang, diese wird von meinem Internisten ***Dr. E*** bestätigt, der in keinem Verhältnis zum behandelnden Facharzt oder meiner Hausärztin steht, aber meinen damaligen Gesundheitszustand fachlich einschätzen kann) Es wurden keine Ersätze bzw. Zuschüsse von einer privaten Krankenversicherung geleistet, da ich über keine solche verfüge.

In der von der Bf angesprochenen Stellungnahme von ***Dr. E*** finden sich die folgenden Ausführungen:

Ab Ende 2019 war die Patientin durch eine schwere Coxarthrose vollständig immobil und durch extreme Schmerzen beeinträchtigt. Die dringend notwendige Hüftoperation war aufgrund der langen Wartezeit und der zusätzlichen Covid-Pandemie erst um mehr als einem Jahr möglich. Um den Leidensdruck und eine komplette Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, war die Patientin bereit, den Eingriff aus eigenem Budget zu finanzieren.

Da dadurch wesentliche Kosten für die Allgemeinheit vermieden werden konnten, ersuche ich um Berücksichtigung des Antrags von Frau Bf.

C. Beschwerdevorentscheidung

Im Rahmen der am ergangenen Beschwerdevorentscheidung wurde die Beschwerde schließlich als unbegründet abgewiesen. Begründend wurde wie folgt ausgeführt:

Gemäß § 34 Abs. 1 EStG 1988 sind bei der Ermittlung des Einkommens (§ 2 Abs. 2) eines unbeschränkt Steuerpflichtigen nach Abzug der Sonderausgaben (§ 18) außergewöhnliche Belastungen abzuziehen. Die Belastung muss außergewöhnlich sein (Abs. 2), zwangsläufig erwachsen (Abs. 3) und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigen (Abs. 4). Die Belastung ist nach Abs. 2 leg.cit. außergewöhnlich, soweit sie höher ist als jene, die der Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse erwächst. Die Belastung erwächst nach Abs. 3 leg.cit. dem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihr aus tatsächlichen, rechtlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann. Mit der Frage, ob bei pflichtversicherten Steuerpflichtigen höhere Aufwendungen als jene, die von der gesetzlichen Krankenversicherung getragen werden, dem Steuerpflichtigen noch zwangsläufig erwachsen, befassen sich die nachstehenden grundsätzlichen höchstgerichtlichen Erkenntnisse VwGH-Erkenntnis vom , ZI. 85/14/0146, und vom , ZI. 85/14/0181.

Der Verwaltungsgerichtshof hat diese Frage bejaht, sofern solche Aufwendungen aus triftigen medizinischen Gründen geboten sind (vgl. Fuchs in Hofstätter/Reichel, EStG 1988, § 34, Einzelfälle "Krankheitskosten"; Baldauf in Jakom, EStG, 2014, § 34, Rz. 90, Stichwort "Krankheitskosten"). Diese Rechtsprechung ist auf Sonderklassegebühren uneingeschränkt anzuwenden, da durch den Entschluss eines Steuerpflichtigen, sich nicht in der allgemeinen Gebührenklasse eines Krankenhauses behandeln zu lassen, wesentlich höhere Kosten entstehen, welche eben nur in medizinisch begründeten Ausnahmefällen als zwangsläufig entstanden angesehen werden können. Bloße Wünsche und Vorstellungen der Betroffenen über eine bestimmte medizinische Betreuung mitsamt Behandlung durch einen Wahlarzt stellen noch keine triftigen medizinischen Gründe für Aufwendungen dar, welche die durch die gesetzliche Krankenversicherung gedeckten Kosten übersteigen.

Die triftigen medizinischen Gründe müssen vielmehr in feststehenden oder sich konkret abzeichnenden, ernsthaften gesundheitlichen Nachteilen bestehen, welche ohne die mit höheren Kosten verbundene medizinische Betreuung eintreten würden. Die Beweislast hiefür trifft stets den Steuerpflichtigen.

Mit Ergänzungsansuchen vom wurden Sie ersucht einen Nachweis hierüber zu erbringen.

Sie legten ein Schreiben des ***Dr. E*** vor. ***Dr. E*** ist Internist und Kardiologe. Sie sind seit 1996 seine Patientin. In dem Schreiben wird festgehalten, dass Sie sich aufgrund der langen Wartezeit - auch bedingt durch die Covid Situation - und der anhaltenden Schmerzen entschlossen haben, die Operation aus eigenen Mitteln zu bezahlen. Dieses Schreiben ist weder ein medizinisches Gutachten, noch wird damit eine medizinische Notwendigkeit zur Durchführung einer Privatoperation nachgewiesen.

In diesem Zusammenhang wird auf § 16 Abs. 1 lit.d KaKuG (Krankenanstalten und Kuranstaltengesetz) 2004 verwiesen.Dieser Bestimmung ist zu entnehmen, dass für die Behandlung von Patienten ausschließlich der Gesundheitszustand heranzuziehen ist. In der medizinischen Versorgung ergibt sich somit keine Unterscheidung zwischen Patienten der Sonderklasse und denjenigen der allgemeinen Krankenversicherung (vgl. GZ. RV/1386-L/07; GZ. RV/7100517/2014).

Ebenso wurde seitens der Regierung immer wieder beteuert, dass unbedingt notwendige Operationen auch am Höhepunkt der Covidkrise durchgeführt wurden.

Der Entschluss, sich im Falle einer Operation an einen Facharzt des Vertrauens zu wenden, ist durchaus verständlich und nachvollziehbar (vgl. GZ. RV/2100796/2014). Allerdings handelt es sich dabei um eine freiwillige Entscheidung, die nach der Rechtslage keine Zwangsläufigkeit begründet. Wenngleich daher die Entscheidung für die Operation in der Privatklinik plausibel und menschlich verständlich ist, sind die Aufwendungen dafür nicht zwangsläufig erwachsen. Die geltende Rechtslage und die höchstgerichtliche Rechtsprechung erlauben daher keine Berücksichtigung dieser Kosten als außergewöhnliche Belastung.

D. Vorlageantrag

Mit Eingabe vom wurde durch die Beschwerdeführerin ein Vorlageantrag eingebracht. In diesem wurde begründend wie folgt ausgeführt:

Gem. § 34 Abs. 1 EStG 1988 sind außergewöhnliche Belastungen dann abzuziehen, wenn sie außergewöhnlich sind, zwangsläufig erwachsen und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigen. Sowohl Abs. 2 als auch Abs. 4 stehen außer Frage, weshalb ich hier auf Abs. 3 - die Zwangsläufigkeit - eingehe. Die zitierten Verwaltungsgerichtserkenntnisse möchte ich wie folgt kommentieren:

ZI. 85/14/0146 beschäftigt sich mEn mit dem Ausmaß der der Nebenbetriebseigenschaft unschädlichen Fremdzukäufe und ist hier nicht anwendbar. ZI. 85/14/0181 beschäftigt sich mit dem bloßen Befürchten von Komplikationen während einer Geburt. Da die medizinischen Gründe bei diesem Fall, im Gegensatz zu meinem Fall, nicht bereits eingetreten waren, ist das Erkenntnis ebenfalls nicht auf meinen Fall anzuwenden, da ich bereits starke Schmerzen hatte, und keinen verfügbaren OP-Termin in absehbarer Zeit in Aussicht hatte. Die Zwangsläufigkeit ist somit auch gem. Stellungnahme von ***Dr. E*** gegeben gewesen, die OP war nicht vermeidbar. Dass die Regierung in den Medien wiederholt angekündigt hat, dass unbedingt notwendige Operationen durchgeführt werden, lässt auf keinen Fall den Schluss zu, dass meine Operation nicht unbedingt notwendig war. Im Zuge dieses Vorlageantrags mache ich weitere Kosten iHv. € 517,75 für mobile Dienste und teilstationäre Leistungen im August 2020 gemäß einer Abrechnung des Fonds Soziales Wien geltend. Die Förderung iHv. € 478,34 durch den Fonds Soziales Wien wurde hier bereits in Abzug gebracht.

Die Beschwerde wurde dem Bundesfinanzgericht am zur Entscheidung vorgelegt.

E. Verfahren vor dem BFG

Mit Schreiben vom wurde die Bf durch das BFG aufgefordert, einen Nachweis für das Vorliegen einer Gesundheitsschädigung iSd § 2 Abs. 1 der VO 303/1996 zu §§ 34 und 35 EStG 1988 (Tuberkulose, Zuckerkrankheit, Zöliakie oder Aids), die zu Mehraufwendungen wegen Krankendiätverpflegung führt, zu erbringen. Zusätzlich wurde die Übermittlung der Rechnung des Fonds Soziales Wien (siehe oben, Punkt I.D.) aufgetragen.

Hinsichtlich des Vorliegens der Gesundheitsschädigung wurde kein Nachweis erbracht bzw. mitgeteilt, dass ein solcher nicht verfügbar sei. Die Rechnung des Fonds Soziales Wien wurde übermittelt, ebenso eine Rechnung des Samariterbundes Wien über insgesamt 30 Essenslieferungen im Rahmen von "Essen auf Rädern" im September 2019 mit einem Rechnungsbetrag von EUR 294,00. Zusätzlich wurde mitgeteilt, dass der Grad der Behinderung 20% beträgt.

Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin unterzog sich - aufgrund des Vorliegens einer schweren Coxarthrose ab Ende 2019 - am einer Hüftoperation in einem orthopädischen Spital. Diese Operation wurde im Rahmen einer Sonderklasse-Behandlung durchgeführt und versursachte der Beschwerdeführerin Aufwendungen in Höhe von EUR 8.714,54. Die Beschwerdeführerin verfügt über keine Privatversicherung, die diese Kosten übernehmen hätte können.

Dieser Eingriff hätte auch in einem öffentlichen Krankenhaus erfolgen können, allerdings erst nach einer Wartezeit von mehr als einem Jahr. Die Beschwerdeführerin war aufgrund der Coxarthrose ab Ende 2019 immobil und wäre ohne Verkürzung dieser Wartezeit durch Vornahme der Operation im Rahmen der Sonderklasse dem Eintritt einer umfassenden Pflegebedürftigkeit ausgesetzt gewesen.

Im Nachgang zur Operation hat die Beschwerdeführerin außerdem Unterstützung durch den Fonds Soziales Wien (mobile Dienste, teilstationäre Leistungen) erhalten. Die diesbezüglichen Aufwendungen betragen EUR 517,75 (nach Abzug der Förderung des Fonds Soziales Wien in Höhe von EUR 478,34). Diese Aufwendungen wurden erst im Rahmen des Vorlageantrages geltend gemacht. Zusätzlich wurden der Bf vom Samariterbund Wien insgesamt 30 Essenslieferungen im Rahmen von "Essen auf Rädern" mit einem Rechnungsbetrag von EUR 294,00 in Rechnung gestellt. Die Rechnung des Samariterbundes wurde erst im Verfahren vor dem BFG vorgelegt. Die Voraussetzungen für die Gewährung des in der Erklärung zur Arbeitnehmerveranlagung 2020 beantragten Pauschbetrages für Mehraufwendungen wegen Krankendiätverpflegung gemäß § 2 Abs. 1 VO 303/1996 zu §§ 34 und 35 EStG 1988 liegen nicht vor. Über einen Behindertenpass verfügt die Beschwerdeführerin (Grad der Behinderung iHv 20%) nicht.

Strittig ist das Vorliegen der Zwangsläufigkeit in Form von triftigen medizinischen Gründen und somit die Abzugsfähigkeit als außergewöhnliche Belastung (mit Selbstbehalt) von Aufwendungen in Höhe von EUR 8.662,24 (EUR 8.714,54 abzüglich einer Haushaltsersparnis von EUR 52,30).

Unstrittig ist die Abzugsfähigkeit von Aufwendungen in Höhe von EUR 1.560,59 als außergewöhnliche Belastung mit Selbstbehalt.

Beweiswürdigung

Gemäß § 167 Abs. 1 BAO bedürfen Tatsachen, die bei der Abgabenbehörde offenkundig sind, und solche, für deren Vorhandensein das Gesetz eine Vermutung aufstellt, keines Beweises.

Gemäß § 167 Abs. 2 BAO hat die Abgabenbehörde im Übrigen unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse des Abgabenverfahrens nach freier Überzeugung zu beurteilen, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen ist oder nicht.

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes genügt es, von mehreren Möglichkeiten jene als erwiesen anzunehmen, die gegenüber allen anderen Möglichkeiten eine überragende Wahrscheinlichkeit oder gar die Gewissheit für sich hat und alle anderen Möglichkeiten absolut oder mit Wahrscheinlichkeit ausschließt oder zumindest weniger wahrscheinlich erscheinen lässt. Die Abgabenbehörde muss dieser Rechtsprechung zufolge den Bestand einer Tatsache nicht im naturwissenschaftlich-mathematisch exakten Sinn nachweisen (vgl etwa ; Ritz, BAO7 § 167 Rz 8 mwN).

Die Art der durchgeführten Operation bzw. die Höhe der Aufwendungen ergibt sich unstrittig aus dem Vorbringen der Bf bzw. den vorgelegten Unterlagen.

Die Ausführungen hinsichtlich der Wartezeit bei Durchführung des Eingriffs in einem öffentlichen Krankenhaus ergeben sich aus dem Vorbringen der Beschwerdeführerin sowie dem Schreiben des ***Dr. E***. Aufgrund der gerade im Jahr 2020 bestehenden, allseits bekannten Ausnahmesituation im Gesundheitsbereich aufgrund der COVID-19-Pandemie erscheint es völlig realistisch, dass selbst notwendige medizinische Eingriffe in öffentlichen Krankenhäusern nicht in der erforderlichen zeitlichen Nähe durchgeführt werden konnten. Soweit das belangte Finanzamt darauf hinweist, dass "seitens der Regierung immer wieder beteuert wurde, dass unbedingt notwendige Operationen auch am Höhepunkt der Covidkrise durchgeführt wurden" so ist darauf hinzuweisen, dass diese Beteuerungen der Regierung keinesfalls einen stärkeren Beweischarakter zu entfalten vermögen als das gleichlautende Vorbringen der Beschwerdeführerin und des ***Dr. E***.

Dass diese Verzögerung von mehr als einem Jahr gemäß den Ausführungen im Schreiben des ***Dr. E*** zu einer umfassenden Pflegebedürftigkeit der Beschwerdeführerin geführt hätte, erscheint ebenfalls völlig schlüssig. Die Beschwerdeführerin war im Zeitpunkt der Operation 82 Jahre alt. Dass in diesem Alter bei vollständiger Immobilität und starken Schmerzen eine umfassende Pflegebedürftigkeit droht, sofern nicht zeitnahe entsprechende medizinische Schritte (im konkreten Fall die Durchführung einer Operation) gesetzt werden, steht im Einklang mit der Lebenserfahrung.

Hinsichtlich des in der Erklärung zur Arbeitnehmerveranlagung 2020 beantragten Pauschbetrages wegen Krankendiätverpflegung ist festzuhalten, dass sich ein diesbezüglicher Nachweis weder aus den Datenbanken der Finanzverwaltung ergibt noch von der Beschwerdeführerin erbracht wurde. Dies, obwohl im Rahmen des Verfahrens vor dem BFG explizit die Erbringung eines derartigen Nachweises aufgetragen wurde. Zudem wird ein solcher Pauschbetrag auch in den Erklärungen zur Arbeitnehmerveranlagung betreffend frühere Jahre nicht durchgehend beantragt. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung wird daher vom Nichtvorliegen der Voraussetzungen für die Beantragung dieses Pauschbetrages ausgegangen.

Rechtliche Beurteilung

Zu Spruchpunkt I. (Teilweise Stattgabe)

A. Rechtliche Grundlagen

§ 34 EStG 1988 in der für das Streitjahr maßgeblichen Fassung lautet:

(1) Bei der Ermittlung des Einkommens (§ 2 Abs. 2) eines unbeschränkt Steuerpflichtigen sind nach Abzug der Sonderausgaben (§ 18) außergewöhnliche Belastungen abzuziehen. Die Belastung muß folgende Voraussetzungen erfüllen:

1. Sie muß außergewöhnlich sein (Abs. 2).

2. Sie muß zwangsläufig erwachsen (Abs. 3).

3.Sie muß die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigen (Abs. 4).

[…]

(3) Die Belastung erwächst dem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihr aus tatsächlichen, rechtlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann.

[…]

§ 35 Abs. 1 EStG 1988 lautet:

(1) Hat der Steuerpflichtige außergewöhnliche Belastungen

- durch eine eigene körperliche oder geistige Behinderung,

[…]

und erhält weder der Steuerpflichtige noch sein (Ehe-)Partner noch sein Kind einepflegebedingte Geldleistung (Pflegegeld, Pflegezulage, Blindengeld oder Blindenzulage), sosteht ihm jeweils ein Freibetrag (Abs. 3) zu.

§ 35 Abs. 2 EStG 1988 lautet:

(2) Die Höhe des Freibetrages bestimmt sich nach dem Ausmaß der Minderung derErwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung). Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung) richtet sich in Fällen,

1. in denen Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden, nach der hiefür maßgebenden Einschätzung,

[…]

Gemäß § 35 Abs. 3 EStG 1988 steht ein Freibetrag wegen eigener Behinderung ab einem Grad der Behinderung von mindestens 25% zu.

§ 1 der Verordnung des Bundesministers für Finanzen über außergewöhnliche Belastungen in der für das streitgegenständliche Jahr maßgeblichen Fassung lautet:

(1) Hat der Steuerpflichtige Aufwendungen

- durch eine eigene körperliche oder geistige Behinderung,

[…]

so sind die in den §§ 2 bis 4 dieser Verordnung genannten Mehraufwendungen als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen.

(2) Eine Behinderung liegt vor, wenn das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung) mindestens 25% beträgt.

(3) Die Mehraufwendungen gemäß §§ 2 bis 4 dieser Verordnung sind nicht um eine pflegebedingte Geldleistung (Pflegegeld, Pflegezulage oder Blindenzulage) oder um einen Freibetrag nach § 35 Abs. 3 EStG 1988 zu kürzen.

§ 2 der Verordnung des Bundesministers für Finanzen über außergewöhnliche Belastungen in der für das streitgegenständliche Jahr maßgeblichen Fassung lautet:

(1) Als Mehraufwendungen wegen Krankendiätverpflegung sind ohne Nachweis der tatsächlichen Kosten bei

- Tuberkulose, Zuckerkrankheit, Zöliakie oder Aids 70 Euro

[…]

pro Kalendermonat zu berücksichtigen. Bei Zusammentreffen mehrerer Krankheiten ist der höhere Pauschbetrag zu berücksichtigen.

(2) Bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von weniger als 25% sind die angeführten Beträge ohne Nachweis der tatsächlichen Kosten nach Abzug des Selbstbehaltes gemäß § 34 Abs. 4 EStG 1988 zu berücksichtigen.

B. Erwägungen

Gemäß der Rechtsprechung des VwGH (vgl. das Erkenntnis vom ) macht die Bestimmung des § 34 Abs. 3 EStG 1988 den Anspruch auf Steuerermäßigung wegen außergewöhnlicher Belastung davon abhängig, dass die Belastung dem Steuerpflichtigen zwangsläufig erwächst; dies ist dann der Fall, wenn der Steuerpflichtige sich der Belastung aus tatsächlichen, rechtlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann. Dabei ist die Zwangsläufigkeit des Aufwandes stets nach den Umständen des Einzelfalles zu prüfen (vgl. Hofstätter/Reichel, § 34 Abs. 2 bis 5 EStG 1988 Tz 7).

Bloße Wünsche, Befürchtungen oder Standesrücksichten der Betroffenen reichen nicht, um die Zwangsläufigkeit zu rechtfertigen. Zu den als außergewöhnliche Belastung abzugsfähigen Krankheitskosten zählen nur Aufwendungen für solche Maßnahmen, die zur Heilung oder Linderung einer Krankheit nachweislich notwendig sind (vgl. das Erkenntnis des , sowie weiters das Erkenntnis vom , 2001/15/0116).

Die Zwangsläufigkeit im Sinne des § 34 Abs. 3 EStG 1988 ergibt sich bei Krankheitskosten aus der Tatsache der Krankheit. Im Rahmen der Krankenbehandlung ist das Recht auf freie Arztwahl grundsätzlich anzuerkennen. Liegen triftige medizinische Gründe vor, sind auch höhere Aufwendungen als die von der Sozialversicherung finanzierten, als zwangsläufig zu beurteilen (ebenfalls ).

Die triftigen medizinischen Gründe müssen in feststehenden oder sich konkret abzeichnenden ernsthaften gesundheitlichen Nachteilen bestehen, welche ohne die mit höheren Kosten verbundene medizinische Betreuung eintreten würden (; ; , RV/5101062/2018).

Im Beschwerdefall werden die triftigen medizinischen Gründe aufgrund folgender Tatsachen als gegeben angesehen:

  1. Die Beschwerdeführerin litt an einer schweren Coxarthrose, durch welche sie vollständig immobil und durch massive Schmerzen beeinträchtigt war.

  2. Aufgrund der besonderen Umstände im Gesundheitsbereich, ausgelöst durch die COVID-19-Pandemie, hätte die Beschwerdeführerin für einen entsprechenden medizinischen Eingriff (Hüftoperation) in einem öffentlichen Krankenhaus eine Wartezeit von mehr als einem Jahr gehabt. Gemäß den glaubwürdigen Ausführungen des ***Dr. E***, der die Beschwerdeführerin seit 1996 medizinisch betreut, wäre die Beschwerdeführerin in diesem Fall umfassend pflegebedürftig geworden.

  3. Die möglichst rasche Durchführung der Operation im Rahmen einer Sonderklasse-Behandlung war somit erforderlich, um ernsthafte gesundheitliche Nachteile (umfassende Pflegebedürftigkeit der Bf) abzuwenden. Dies auch unter dem Gesichtspunkt, dass die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt des Eingriffs 82 Jahre alt war sowohl das Operationsrisiko mit zunehmendem Alter (noch) weiter steigt als auch das Risiko weiterer Konsequenzen der erkrankungsbedingten vollständigen Immobilität (zB Muskelschwund) bis zur Durchführung der Operation mit zunehmendem Alter zunimmt.

Da die Abzugsfähigkeit der außergewöhnlichen Belastung (mit Selbstbehalt) somit aufgrund der einzelfallbezogenen Umstände feststeht, sind auch die im Rahmen des Vorlageantrages sowie im Verfahren vor dem BFG zusätzlich geltend gemachten Aufwendungen iZm mobilen Diensten und teilstationärer Pflege im August 2020 bzw. den Essenslieferungen im Rahmen von "Essen auf Rädern" im September 2020 entsprechend anzuerkennen (vgl. Peyerl in Jakom EStG, 15. Aufl. (2022), § 34, Rz 90, wonach Aufwendungen für die Pflege dann als außergewöhnliche Belastung abzugsfähig sein können, wenn der Pflegebedarf durch Krankheit verursacht wurde).

Hinsichtlich des Freibetrages wegen eigener Behinderung gemäß § 35 Abs. 3 EStG 1988 ist darauf hinzuweisen, dass dieser Freibetrag - dem Grunde nach - erst ab einem Grad der Behinderung von 25% zusteht. Da der Grad der Behinderung der Beschwerdeführerin laut dem festgestellten Sachverhalt bei 20% liegt, steht der Freibetrag gemäß § 35 Abs. 3 EStG 1988 somit nicht zu.

Gemäß dem festgestellten Sachverhalt liegen die Voraussetzungen für die Gewährung des Pauschbetrages für Mehraufwendungen wegen Krankendiätverpflegung iSd § 2 der VO 303/1996 nicht vor. Der Pauschbetrag steht somit nicht zu.

Der Beschwerde war somit teilweise stattzugeben.

Zu Spruchpunkt II. (Revision)

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die Frage, ob triftige medizinische Gründe für die Anerkennung von Krankheitskosten vorliegen, oder ob die Voraussetzungen für die Abzugsfähigkeit von Aufwendungen als außergewöhnliche Belastung glaubhaft gemacht worden sind, sind auf Ebene der Sachverhaltsermittlung und Beweiswürdigung zu lösende Tatfragen, die zu keiner Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung führen.

Linz, am

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Materie
Steuer
betroffene Normen
Verweise
ECLI
ECLI:AT:BFG:2022:RV.7102167.2022

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at