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Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 24.05.2022, RV/7101308/2022

Erhöhte Familienbeihilfe; keine Bescheinigung einer Erwerbsunfähigkeit bei Intelligenzminderung

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter Dr. Wolfgang Pavlik über die Beschwerde des ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, vertreten durch Annemarie Entschev-Kurzmann, Mariahilfer Straße 140 Tür 10, 1150 Wien, vom , gegen den Bescheid des Finanzamtes Österreich vom betreffend Abweisung des Antrages auf Gewährung der Familienbeihilfe und des Erhöhungsbetrages ab März 2020, zu Recht erkannt:

Die Beschwerde wird gemäß § 279 BAO als unbegründet abgewiesen.

Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

Verfahrensgang

Der Beschwerdeführer (Bf.), geb. xx.xx.1975, ist deutscher Staatsbürger und wohnt seit März 2020 in Österreich.

Nach Enthebung der bis dahin bestellten deutschen Erwachsenenvertreterin brachte die mit Beschluss vom bestellte inländische gerichtliche Erwachsenenvertreterin im August 2020 beim Finanzamt (FA) einen Antrag auf Gewährung der Familienbeihilfe und des Erhöhungsantrages wegen geistiger Behinderung /Minderbegabung des Bf. ein. Der Antrag wurde rückwirkend ab März 2020 gestellt.

Dr. Dok1, Facharzt für Psychiatrie, bescheinigte dem Bf. nach der am im Sozialministeriumservice durchgeführten Untersuchung weder einen Grad der Behinderung noch eine Erwerbsunfähigkeit, dies mit der Begründung, dass keine ausreichenden Patienten- bzw. aufschlussreichen medizinischen Unterlagen - bis auf einen 4 Jahre alten Diabetespass - vorgelegt worden seien.

In der Folge wurde der Antrag aus diesem Grund mit Bescheid vom ab März 2020 unter Hinweis auf die Bestimmungen des § 2 Abs. 1 lit. c Familienlastenausgleichsgesetz 1967 {FLAG 1967) abgewiesen.

Gegen den Abweisungsbescheid wurde am folgende Beschwerde eingebracht:

"Wie aus dem zwischenzeitig aus Deutschland angeforderten Gutachten der Dr. G., Fachärztin für Psychiatrie vom zu entnehmen ist, leidet der Beschwerdeführer an

Beweis: Gutachten Dr. G., Psychiaterin, vom
Behindertenausweis GdB 60%

Der Bf. wurde am ein weiteres Mal untersucht und von Dr. Dok2, Fachärztin für Allgemeinmedizin, folgendes Gutachten erstellt:

Sozialanamnese:

lebt in Scheidung, arbeitet beim Sicherheitsdienst X. Vollzeit.

Betreuungsverfahren Dr. M. - FÄ für Psychiatrie, 01/2019

Untersuchungsbefund:

Herr ***Bf1*** ist voraussichtlich dauernd außerstande sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: NEIN

Das Finanzamt wies die Beschwerde unter Zugrundelegung der in dem Gutachten getroffenen Feststellungen mit Beschwerdevorentscheidung vom mit folgender Begründung ab:

"Anspruch auf den Erhöhungsbetrag wegen erheblicher Behinderung besteht, wenn:

Der festgestellte Grad der Behinderung mindestens 50 Prozent beträgt
Die Behinderung nicht nur vorübergehend ist, sondern mehr als 3 Jahre andauert.
Diese Punkte treffen nicht zu (§ 8 Abs. 5 Familienlastenausgleichsgesetz 1967).

Auf Grund Ihrer Beschwerde wurde eine neuerliche Anfrage beim Sozialministeriumservice gemacht. Laut Gutachten vom wurde ein Grad der Behinderung von 40 % sowie keine dauernde Erwerbsunfähigkeit festgestellt."

Die Erwachsenenvertreterin stellte namens des Bf. am einen unbegründeten Vorlageantrag an das Bundesfinanzgericht.

Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

Gesetzliche Grundlagen:

Gemäß § 2 Abs. 1 lit. c FLAG 1967 besteht Anspruch für volljährige Kinder, die wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Als erheblich behindert gilt gemäß § 8 Abs. 5 FLAG 1967 ein Kind, bei dem eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung besteht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von voraussichtlich mehr als drei Jahren. Der Grad der Behinderung muss mindestens 50 v.H. betragen, soweit es sich nicht um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Für die Einschätzung des Grades der Behinderung sind (für Begutachtungen nach dem Stichtag ) § 14 Abs. 3 des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, in der jeweils geltenden Fassung, und die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung) vom , BGBl. II Nr. 261/2010, in der jeweils geltenden Fassung, anzuwenden. Die erhebliche Behinderung ist spätestens nach fünf Jahren neu festzustellen, soweit nicht Art und Umfang eine Änderung ausschließen.

Grundlage der Einschätzung

§ 4. (1) Die Grundlage für die Einschätzung des Grades der Behinderung bildet die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen im körperlichen, geistigen, psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung in Form eines ärztlichen Sachverständigengutachtens. Erforderlichenfalls sind Experten aus anderen Fachbereichen - beispielsweise Psychologen - zur ganzheitlichen Beurteilung heran zu ziehen.

(2) Das Gutachten hat neben den persönlichen Daten die Anamnese, den Untersuchungsbefund, die Diagnosen, die Einschätzung des Grades der Behinderung, eine Begründung für die Einschätzung des Grades der Behinderung innerhalb eines Rahmensatzes sowie die Erstellung des Gesamtgrades der Behinderung und dessen Begründung zu enthalten.

Gemäß § 8 Abs. 6 FLAG 1967 in der Fassung BGBl. I Nr. 105/2002 ist der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen.

Gemäß § 8 Abs. 4 Familienlastenausgleichsgesetz (FLAG) 1967 erhöht sich die Familienbeihilfe für jedes erheblich behinderte Kind.

Rechtliche Beurteilung

Volljährige "Kinder" - Anspruchsvoraussetzungen:

Voraussetzung für den Erhöhungsbetrag ist, dass der Grundbetrag an Familienbeihilfe zusteht (vgl. FLAG Kommentar, Csaszar/Lenneis/Wanke, Rz 5 zu § 8). Das bedeutet, dass bei volljährigen Kindern, denen nicht schon aus anderen Gründen als aus dem Titel der Behinderung der Grundbetrag an Familienbeihilfe zusteht, der Grad der Behinderung ohne jede Bedeutung ist, und würde er auch 100 % betragen. Besteht also keine vor dem 21. (25.) Lebensjahr eingetretene voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, steht weder Grund- noch Erhöhungsbetrag zu. Besteht eine derartige Unterhaltsunfähigkeit, stehen sowohl Grund- als auch Erhöhungsbetrag zu (Lenneis in Csaszar/Lenneis/Wanke, FLAG, § 8 Rz 21, vgl. auch ).

Besteht eine derartige Unterhaltsunfähigkeit, steht sowohl Grund- als auch Erhöhungsbetrag zu (vgl , , vgl. weiters Lenneis in Csaszar / Lenneis / Wanke, FLAG, § 8 Rzln 5 und 19 ff, vgl. auch die Erkenntnisse des , , , , ).

Erwerbsunfähigkeit:

In den Erkenntnissen vom , 99/12/0236, und vom , 2003/12/0174, stellte der VwGH zum Begriff der Erwerbsfähigkeit im Pensionsgesetz fest, dass dieser im allgemeinen Sprachgebrauch bedeute, in der Lage zu sein, durch eigene Arbeit einen wesentlichen Beitrag zum Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Fähigkeit sei nach der Rechtsprechung zwar abstrakt zu beurteilen (dh, es sei nicht entscheidend, ob die in Frage kommenden Tätigkeiten gerade am Arbeitsmarkt verfügbar seien oder nicht, es müsse sich aber um eine Beschäftigung handeln, die grundsätzlich Gegenstand des allgemeinen Arbeitsmarktes sei); es komme aber sehr wohl darauf an, ob die gesundheitlichen Voraussetzungen für eine Einsatzfähigkeit für bestimmte Tätigkeiten (Berufsbilder) vorliegen. Hierbei sei weiters zu berücksichtigen, ob die Einsatzfähigkeit auch im Hinblick auf die üblichen Erfordernisse in der Arbeitswelt (zB Einhaltung der Arbeitszeit oder Fähigkeit zur Selbstorganisation) noch gegeben sei.

Intelligenzminderung:

Intelligenz ist nicht eindeutig definiert und hängt von einer Reihe von Fertigkeiten ab, zB von Kognition, Sprache, Merkfähigkeit, Gedächtnis, Übersichtsfähigkeit, von motorischen und sozialen Fertigkeiten. Bei Intelligenzminderung können alle Fertigkeiten oder nur einzelne Teilbereiche beeinträchtigt sein. Die Intelligenzminderung führt oft zu Schwierigkeiten im Aneignen von Kenntnissen sowie beim Handeln und Denken (bedingt durch Konzentrations-störungen oder Gedächtnisschwäche), beschränktes Interesse und eine verzögerte intellek-tuelle Reife. Betroffene sind schulbildungsfähig, meist allerdings nur in Förderschulen für Lernbehinderte. Zusätzlich kann zur Intelligenzminderung noch eine soziale und emotionale Unreife hinzukommen, sodass die Betroffenen eigenständig den Anforderungen einer Ehe oder der Kindererziehung nicht nachkommen können (BVwG , W200 2012322-1).

Die klinisch-psychologische Diagnostik bei Personen mit intellektueller Beeinträchtigung ist ein komplexer Prozess und setzt umfassendes diagnostisches Wissen, die Kenntnis geeigneter Verfahren sowie ausreichende Erfahrung mit der Untersuchung intellektuell beeinträchtigter Personen der jeweiligen Altersgruppe seitens des Gutachters voraus. Bei Durchführung der Diagnostik ist auf das Entwicklungsniveau der Person und deren kommunikative Möglich-keiten zu achten. Die Fragen sollten kurz, konkret und deutlich formuliert sein. Informationen über den Entwicklungsstand, die Entwicklungs- und Bildungsgeschichte, die Krankengeschichte einschließlich Komorbiditäten und störungsrelevanter Rahmenbedingungen sollten durch Befragung von mehreren zuverlässigen, unabhängigen Quellen erhoben werden. Die Anamnese wird durch eine Verhaltensbeobachtung und Verhaltensanalyse ergänzt. Neben dem kognitiven ist auch das soziale und emotionale Entwicklungsniveau sowie die Persönlich-keitsentwicklung ein Bestandteil der Untersuchung (Auszug aus der Richtlinie für die Erstellung von klinisch-psychologischen und gesundheitspsychologischen Befunden und Gutachten, Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz).

Der VwGH sprach in seinen Erkenntnissen vom , 2010/16/0220 und vom , 2009/16/0325, aus, dass auch bei einer Behinderung von 100 % nicht ausgeschlossen sei, dass der Betreffende imstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Es komme daher neben dem Grad auf die Art der Behinderung und die trotz Behinderung verrichtbaren Tätigkeiten an.

Die hier unstrittig vorhandene Intelligenzminderung bewirkt per se somit keine Arbeitsunfähig-keit, da die Leistung von einfachen Arbeiten durchaus möglich ist (Erkenntnis des Bundesver-waltungsgerichtes vom , GZ. W200 2012322-1, vgl. auch ).

Gutachten Allgemeines:

Ein Gutachten ist die begründete Darstellung von Erfahrungssätzen und die Ableitung von Schlussfolgerungen für die tatsächliche Beurteilung eines Geschehens oder Zustands auf der Basis des objektiv feststellbaren Sachverhaltes durch einen oder mehrere Sachverständige. Sachverständige haben dabei fundierte und wissenschaftlich belegbare konkrete Aussagen zu treffen und dürfen ihre Beurteilungen und Feststellungen nicht auf Spekulationen, sondern ausschließlich auf die festgestellten Tatsachen, verbunden mit ihrem fachspezifischen Wissen, stützen. Alleine die Möglichkeit, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmter Sach-verhalt vorgelegen sein könnte, reicht dabei keinesfalls aus, diesen Sachverhalt gutachterlich als gegeben anzusehen und zu bestätigen (vgl. z.B. ; ).

Bescheinigung des Sozialministeriumservice:

Der Grad der Behinderung und die Feststellung, ob bzw. ab wann eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit vorliegt, ist gemäß den Bestimmungen des § 8 Abs. 6 FLAG 1967 durch eine Bescheinigung des Sozialministeriumservice auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen.

Das nach dieser Bestimmung abzuführende qualifizierte Nachweisverfahren hat Feststellungen über die Art und das Ausmaß des Leidens sowie auch der konkreten Auswirkungen der Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit in schlüssiger und damit nachvollziehbarer Weise zu enthalten (vgl. , ) und bildet die Grundlage für die Entscheidung, ob die erhöhte Familienbeihilfe zusteht.

Im Fall, dass ein volljähriger Antragsteller die erhöhte Familienbeihilfe beantragt, haben sich die Feststellungen darauf zu erstrecken, ob die Erwerbsunfähigkeit bereits vor Vollendung des 21. Lebensjahres (oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres) eingetreten ist (vgl. etwa ).

Andere als behinderungskausale Gründe (wie z.B. mangelnde oder nicht spezifische Ausbildung, die Arbeitsplatzsituation, Arbeitsunwilligkeit, oÄ) dürfen für die Beurteilung ebenso wenig herangezogen werden wie eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes (etwa auch durch Folgeschäden) nach Vollendung des 21. Lebensjahres.

Maßgeblich ist der Zeitpunkt, zu dem die Behinderung (als Folge der allenfalls schon länger bestehenden Krankheit) eine Erwerbsunfähigkeit bewirkt hat. Es kommt weder auf den Zeitpunkt an, zu dem sich eine Krankheit als solche äußert, noch auf den Zeitpunkt, zu welchem diese Krankheit zu (irgend)einer Behinderung führt (vgl. , , ).

Diagnoseerstellung durch die sachverständigen Ärzte des Sozialministeriumservice:

Festgehalten wird zunächst, dass die allgemeinärztliche Berufsbefugnis den gesamten Bereich der Medizin auf allen Fachgebieten der medizinischen Wissenschaft umfasst, sofern der Arzt über die entsprechenden Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt und nicht bestimmte Tätigkeiten besonders qualifizierten (Fach-)Ärzten vorbehalten sind. Ein Arzt für Allgemeinmedizin ist daher grundsätzlich zur Erstattung eines Gutachtens befugt (vgl. ).

Die sachverständigen Ärzte des Sozialministeriumservice ziehen für ihre zu treffenden Feststellungen, wie hoch der Grad der Behinderung bzw. wann die voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist, neben der durchgeführten Anamnese und Untersuchung des Antragstellers die Kenntnisse der Medizin und ihr eigenes Fachwissen heran. Unerlässlich für die Feststellungen sind auch Befunde und besonders hilfreich "alte" Befunde und Arztbriefe oder sonstige Unterlagen, die darauf schließen lassen, dass die voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit auf Grund der Erkrankung (Behinderung bereits vor dem 21. Lebensjahr (bzw. wenn sich der Antragsteller noch in schulischer Ausbildung befand, das 25. Lebensjahr) eingetreten ist (vgl. , , , Ro 2017/16/0009).

Geht es um die Feststellung des Eintrittes der Erwerbsunfähigkeit, so hat der Sachverständige nur die Möglichkeit, neben der Anamnese und der Untersuchung seinen ärztlichen Erfahrungen allenfalls vorhandene andere Hinweise wie Befunde, Krankenhausaufenthalte etc. heranzuziehen, da ansonsten der Gesundheitszustand bzw. die Behinderung nur zum Zeitpunkt der Untersuchung festgestellt werden kann.

Die Feststellungen, zu welchem Zeitpunkt eine Erkrankung bzw. Behinderung zu einer Erwerbsunfähigkeit geführt hat, können daher naturgemäß immer nur mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit, aber nie mit Sicherheit getroffen werden().

Mitwirkungspflicht bei Begünstigungsvorschriften:

Nach der Judikatur des VwGH besteht bei Begünstigungsvorschriften und in Fällen, in denen die Ermittlungsmöglichkeiten der Behörde eingeschränkt sind, eine erhöhte Mitwirkungspflicht. Eine Mitwirkungspflicht ist gerade in den Fällen wichtig und unerlässlich, in denen der Antrag auf erhöhte Familienbeihilfe wegen Erwerbsunfähigkeit von Personen gestellt wird, die erheblich älter als 21 bzw. 25 Jahre alt sind.

Die Vorlage von "alten" und relevanten Unterlagen (Befunden, Bestätigung über Spitalsaufenthalte oder Therapien etc.) seitens des Antragstellers ist gerade dann wichtig bzw. unerlässlich, wenn ein Sachverständiger (weit rückwirkend) den Zeitpunkt festzusetzen hat, seit wann ein bestimmter Behinderungsgrad vorliegt oder wann die Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist. Fehlen derartige Befunde, warum auch immer, können die vom Sachverständigen getroffenen Feststellungen nur mit hoher Wahrscheinlichkeit den Tatsachen entsprechen und liegt die Ursache auch darin, dass Erkrankungen unterschiedlich stark ausgeprägt sind, häufig einen schleichenden Verlauf nehmen oder sich mit zunehmendem Alter verschlechtern.

Diese Auffassung vertritt auch Lenneis in Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG, 2. Aufl. 2020, § 8, II. Erhebliche Behinderung [Rz 10 - 35]. Es sei wohl nicht zu bestreiten, dass die Ermittlungsmöglichkeiten der Behörde eingeschränkt sind, wenn Sachverhalte zu beurteilen sind, die teilweise Jahrzehnte zurückliegen. Auch der Sachverständige könne aufgrund seines medizinischen Fachwissens ohne Probleme nur den aktuellen Gesundheitszustand des Erkrankten beurteilen. Hierauf komme es aber nur dann an, wenn der derzeitige Behinderungsgrad zu beurteilen sei oder die Feststellung, ob eine dauernde Erwerbsunfähigkeit vorliegt, zeitnah zum relevanten Zeitpunkt erfolgen könne. Der Sachverständige könne in den übrigen Fällen nur aufgrund von Indizien, insbesondere anhand von vorliegenden Befunden, Rückschlüsse darauf ziehen, zu welchem Zeitpunkt eine erhebliche Behinderung eingetreten ist. Somit werde es primär an den Beschwerdeführern, allenfalls vertreten durch ihre Sachwalter, liegen, den behaupteten Sachverhalt, nämlich ihre bereits vor der Vollendung des 21. Lebensjahres eingetretene dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, klar und ohne Möglichkeit eines Zweifels nachzuweisen (Verweis auf die Entscheidungen des ; ).

Bindung an die Gutachten des Sozialministeriumservice:

Die Beihilfenbehörden (Finanzamt), und auch das Gericht, haben bei ihrer Entscheidung von dieser durch ärztliche Gutachten untermauerten Bescheinigung auszugehen und sind an die Gutachten des SMS gebunden. Ein Abweichen ist nur nach entsprechend qualifizierter Auseinandersetzung möglich (, ).

Die Beihilfenbehörden und das Gericht dürfen die Gutachten nur insoweit prüfen, ob diese vollständig, nachvollziehbar und schlüssig sind und im Fall mehrerer Gutachten oder einer Gutachtensergänzung nicht einander widersprechen (vgl. ; ; Erkenntnisse VwGH jeweils vom , 2009/16/0307 und 2009/16/0310). Erforderlichenfalls ist für deren Ergänzung zu sorgen (; ; ).

Ein Gutachten ist

• vollständig, wenn es die von der Behörde oder dem Gericht gestellten Fragen beantwortet (sofern diese zulässig waren)

• nachvollziehbar, wenn das Gutachten von der Beihilfenstelle und vom Gericht verstanden werden kann und diese die Gedankengänge des Gutachters, die vom Befund zum Gutachten führten, prüfen und beurteilen kann und

• schlüssig, wenn es nach der Prüfung auf Vollständigkeit und Nachvollziehbarkeit immer noch überzeugend und widerspruchsfrei erscheint

Möglichkeiten des Antragstellers:

Der Antragsteller hat auch die Möglichkeit, Unvollständigkeiten und Unschlüssigkeiten eines Gutachtens im Rahmen des Verfahrens der Behörde aufzuzeigen oder einem Gutachten (etwa durch Beibringung eines eigenen Gutachtens) auf gleicher fachlicher Ebene entgegenzutreten (vgl. , ).

Beweiswürdigung durch die Abgabenbehörde und das Gericht:

Gutachten im Bereich des Familienbeihilfenrechts sind Beweismittel in einem gerichtlichen Verfahren. Sie unterliegen, wie alle anderen Beweismittel, der freien behördlichen/richter-lichen Beweiswürdigung (vgl. ).

Das Bundesfinanzgericht hat unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse nach freier Überzeugung zu beurteilen, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen ist oder nicht (§ 167 Abs. 2 BAO). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. für viele ) ist von mehreren Möglichkeiten jene als erwiesen anzunehmen, die gegenüber allen anderen Möglichkeiten eine überragende Wahrscheinlichkeit für sich hat und alle anderen Möglichkeiten ausschließt oder zumindest weniger wahrscheinlich erscheinen lässt.

Im vorliegenden Fall steht Folgendes fest:

Der Bf. war im Zeitpunkt der Antragstellung 45 Jahre alt. Er leidet unter einer Intelligenzminderung und hat seit April 2019 eine Erwachsenenvertretung.

Zufolge der Bestätigung der Familienkasse Bauern-Süd bezog Betreuerin für den Bf. Kindergeld in Deutschland und wurde dieses ab dem Monat April 2020 gemäß § 70 Abs. 2 dEStG aufgehoben.

Dem Bf. wurde weder im Gutachten vom (Untersuchung am ) noch im Gutachten vom (Untersuchung am ) eine voraus-sichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit bescheinigt.

Laut vorgelegtem Gutachten von Dr. G., Fachärztin für Psychiatrie, vom , leidet der Bf. an einer Intelligenzminderung mit einer ausgeprägten Lese- und Rechenschwäche und kann auf Grund des vorliegenden Krankheitsbildes weder Vertragsinhalte richtig erfassen, finanzielle Folgen absehen oder ausreichend reflektieren. Es bestehe eine angeborene oder früh erworbene Intelligenzminderung, andererseits ein ausgeprägtes alkoholbedingtes organisches Psychosyndrom mit ausgeprägten Einschränkungen in Auffassung, Merkfähigkeit und Orientierung, sohin eine schwere psychische Erkrankung.

In der Einschätzungsverordnung sind für kognitive Leistungseinschränkungen folgende Richtsatzpositionen vorgesehen:

Der mit dem Gutachten vom (Untersuchung am ) befasste Sachverständige bescheinigte dem Bf. wegen fehlender Unterlagen bzw. Befunde weder einen Grad der Behinderung noch eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit.

Die mit dem Gutachten vom befasste Sachverständige attestierte dem Bf. nach Anamneseerhebung, durchgeführter Untersuchung und unter Einbeziehung des Gutachtens von Dr. G. vom eine leichte Intelligenzminderung und reihte die Erkrankung/Behinderung unter die Pos.Nr. der Einschätzungsverordnung mit einem Grad der Behinderung von 40 vH.

Eine Erwerbsunfähigkeit wurde mit der Begründung nicht bescheinigt, dass es dem Bf. trotz kognitiver und psychischer Funktionseinschränkung möglich sei, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Die Gutachter haben bei ihren Einschätzungen die vorliegenden Unterlagen gewürdigt und hieraus die entsprechenden Schlüsse gezogen. In die Schlussfolgerungen wurde auch - entsprechend der Judikatur des VwGH - miteinbezogen, dass andere als behinderungskausale Gründe, wie zB die Verschlechterung des Gesundheitszustandes (hier: wegen Alkoholkonsum) nach Vollendung des 21. Lebensjahres (vgl. RV/0309-I/11; ) nicht berücksichtigt werden dürfen.

Im vorliegenden Fall wäre für die Beurteilung, ob der Bf. bereits vor dem 21. Lebensjahr voraussichtlich dauernd erwerbsunfähig war, die Vorlage von "alten" Befunden bzw. Unterlagen hilfreich bzw. erforderlich gewesen. Der älteste vorgelegte Befund von Dr. G. datiert aber mit .

Mit diesem Befund kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass der Bf. trotz seiner leichten Intelligenzminderung am Arbeitsmarkt nicht wenigstens einer einfachen Beschäftigung nachgehen hätte können bzw. nachgehen kann.

Das Bundesfinanzgericht erachtet daher die in den Gutachten vom (Untersuchung am ) und vom (Untersuchung am ) getroffene Feststellung, wonach beim Bf. keine voraussichtliche Erwerbsunfähigkeit vorliegt, als mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit den Tatsachen entsprechend.

Das Bundesfinanzgericht sieht die Gutachten als schlüssig, nachvollziehbar und vollständig und einander nicht widersprechend an und geht nach eingehender Befassung mit den Gutachten in freier Beweiswürdigung davon aus, dass die darin getroffene Feststellung, dass der Bf. nicht erwerbsunfähig ist, mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit den Tatsachen entspricht.

Unzulässigkeit der Revision:

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Bei der Frage, ob eine voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit vorliegt, handelt es sich um eine Tatfrage und ist das Bundesfinanzgericht an das vom Sozialministeriumservice erstellte ärztliche Gutachten de facto gebunden. Eine über den Individualfall hinaus relevante Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung liegt nicht vor. Da das gegenständliche Erkenntnis der geltenden Gesetzeslage sowie der ständigen Judikatur des VwGH folgt, ist die Revision an den Verwaltungsgerichtshof nicht zulässig.

Wien, am

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