Art 11 iVm 67 VO (EG) Nr. 883/2004: als alleiniger Beschäftigungsstaat ist ausschließlich Österreich zur Erbringung von Familienleistungen zuständig; ungarischer Wohnort führt nicht zur Ausgleichszahlung.
Entscheidungstext
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesfinanzgericht erkennt durch die Richterin Mag. Heidemarie Winkler über die Beschwerde des ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, vom gegen den Abweisungsbescheid des Finanzamtes Baden Mödling, nunmehr Finanzamt Österreich, vom betreffend Familienbeihilfe 07.2019, Steuernummer ***BF1StNr1***, zu Recht:
I. Der Beschwerde wird gemäß § 279 BAO Folge gegeben.
Der angefochtene Bescheid wird - ersatzlos - aufgehoben.
II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.
Entscheidungsgründe
Verfahrensgang
Der Beschwerdeführer (in Folge kurz: BF) ist Vater der am ***1*** geborenen ***T*** (Tochter).
Er stellte am einen Antrag auf Zuerkennung von Familienbeihilfe für seine an der FH Eisenstadt studierenden Tochter beim Finanzamt Bruck Eisenstadt Oberwart. Im Antrag war der Wohnort der Tochter mit der Adresse in ***2*** angegeben, weiters dass die Kindsmutter (KM), Frau ***KM***, auf die Zuerkennung der Familienbeihilfe verzichte. Von der KM sei er geschieden.
Am brachte er denselben Antrag erneut beim selben Finanzamt ein.
Am wurde der Antrag vom unter Verweis auf die Bestimmung des § 2 Abs 2 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG 1967) abgewiesen.
Dagegen wurde am fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde erhoben und darin vorgebracht:
"[….]der Bescheid ist hinsichtlich der angegeben Daten unrichtig, weil ich beim Ausfüllen des Antrages die österreichische Adresse meiner Tochter, ***T***, angegeben habe. Ihr Lebensmittelpunkt befindet sich jedoch im gleichen Haushalt mit mir (seit 2011.09.05), in ***3***, da sich ihr Studienort, Pädagogische Hochschule Burgenland, nur 25 km von ihrem ungarischen Wohnort befindet. Sie pendelt jeden Tag von dieser Adresse zum Studienort. Die Unterhaltskosten für das Kind, ***T***, trage dadurch ich. Den Meldezettel meiner Tochter und von mir, sowie die Studienbestätigung meiner Tochter, lege ich bei."
Am gab die belangte Behörde der Beschwerde mit Beschwerdevorentscheidung (BVE) statt. Als Begründung wurde lediglich "Laut Antrag" angeführt.
Am selben Tag erging die Mitteilung über den Bezug der Ausgleichszahlung für den Zeitraum Juli 2019 bis Juni 2020.
Dagegen erhob der BF an das als "Beschwerde" bezeichnete Rechtsmittel mit folgendem Inhalt:
"Ich erhebe gegen die Mitteilung über den Bezug der Ausgleichszahlung (vom . zugestellt am ) das Rechtsmittel der Beschwerde und begründe dies wie folgt: da ich österreichischer Staatsbürger bin und seit 1994 in Österreich arbeite und dadurch seit 1994 ausschließlich in Österreich steuerpflichtig bin erhielten wir seit der Geburt meiner Kinder ausschließlich nur aus Österreich Familienbeihilfe. Außer unseres Wohnsitzes haben wir keinen Bezug zu Ungarn und bezogen auch nie aus Ungarn Familienbeihilfe. In der Mitteilung vom wurde bereits festgelegt, dass meine Tochter von Juli 1996 bis Juni 2020 die Familienbeihilfe ausschließlich aus Österreich erhalten hat und auch In der Zukunft erhalten wird. Aus diesem Grund möchte ich die volle Familienbeihilfe auch weiterhin ausÖsterreich beantragen, nicht nur eine Ausgleichszahlung.Eine Kopie der Mitteilung vom lege ich Ihnen bei."
Mit Vorlagebericht vom legte die belangte Behörde die Beschwerde dem Bundesfinanzgericht (BFG) zur Entscheidung vor:
"Laut Aussagen des Kindesvaters lebt ***4*** bei ihm in Ungarn und pendelt von dort nach Eisenstadt an die Hochschule. Da ***4*** gegenüber der Hochschule in Eisenstadt auch mit ihrer ungarischen Adresse auftritt, die ZMR Meldung nur Indizwirkung hat und die Kindesmutter keinen Antrag für ***4*** gestellt hat, wurde der Beschwerde stattgegeben. Da sich ***4*** aber in Ungarn aufhält, war nur eine Ausgleichszahlung zu gewähren, dagegen richtet sich die Beschwerde."
Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:
Sachverhalt
Der BF, seine Tochter und seine geschiedene Frau, die Kindsmutter, sind österreichische Staatsbürger.
Der BF lebt mit seiner Tochter in Ungarn an der Adresse ***5***.
Die Mutter wohnt in ***2***. An dieser Adresse ist auch die Tochter im Zentralen Melderegister gemeldet.
Die Tochter studiert seit dem WS 2015 an der Pädagogischen Hochschule Burgenland in 7000 Eisenstadt das Lehramtsstudium Primarstufe, Sekundarstufe Allgemeinbildung, Englisch und Mathematik als ordentliche Studierende; im Hochschullehrgang Zweisprachige Unterr. Ungarisch/Deutsch VS, NMS ist sie als außerordentliche Studierende erfasst. Von Studienbeginn bis zum SS 2019 wurden insgesamt 124 ECTS-Punkte, das sind 88,75 Semesterstunden, positiv absolviert.
Der BF und die KM erzielen ausschließlich Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Österreich.
Beweiswürdigung
Der als erwiesen angenommene Sachverhalt ergibt sich aus den oben dargestellten Verfahrensgang und ist unstrittig. Insbesondere geht auch die belangte Behörde in der BVE und im Vorlagebericht- auch wenn sie eine Begründung dafür schuldig bleibt - von einem gemeinsamen Wohnsitz des BF mit seiner Tochter in Ungarn und somit von einer Haushaltszugehörigkeit aus. Auch das BFG ist aufgrund weiterer, nachstehender Ausführung zu diesem Ergebnis gelangt:
Zum tatsächlichen Aufenthalt und Lebensmittelpunkt der Tochter bei Ihrem Vater in Ungarn wird ausgeführt, dass die ZMR-Meldung (bei der KM) lediglich Indizwirkung hat und nicht geeignet ist Auskunft über die tatsächlichen Wohnverhältnisse und für die hier relevante Frage der Haushaltszugehörigkeit zu geben. Die Feststellung des (Familien)Wohnsitzes ist eine Sachverhaltsfeststellung, die gemäß den allgemein gültigen Beweisregeln aufgrund der erhobenen Beweise zu treffen ist. Aus der Aktenlage ist nicht ersichtlich, ob bzw. welche Nachforschungen die belangte Behörde für die Ermittlung des Wohnortes der Tochter vorgenommen hat. Nach stRSp des VwGH hat eine Eintragung im Zentralen Melderegister zwar Indizwirkung, bietet aber keinen Beweis für eine Wohnadresse (; , mwN). Dafür ist vielmehr von Bedeutung, dass diese tatsächlich bewohnt wird. Aufgrund des in freier Beweiswürdigung zu wertenden Akteninhaltes sowie der durchgeführten Ermittlungen im Rechtsmittelverfahren ist davon auszugehen, dass sich der BF im Beschwerdezeitraum gemeinsam mit seiner Tochter in Ungarn aufgehalten hat und daraus die Haushaltszugehörigkeit der Tochter abgeleitet werden kann. Eine Abfrage der beiden Wohnadressen (Quelle: Google Maps) zeigt, dass die Anreise zur Hochschule nach Eisenstadt beinahe um die Hälfte kürzer ist als derselbe Weg von Wien Meidling nach Eisenstadt. Auch lauten sämtliche Studienbestätigungen auf die ungarische Adresse der Tochter; dies auch schon lange vor dem hier relevanten Antrag und dem sich daraus ergebenden Streitzeitraum. Nicht zuletzt hat der BF den Identitätsnachweis/Meldezettel (ausgestellt am , Sopron) seiner Tochter in Kopie vorgelegt; auch daraus ist ersichtlich, dass sie die selbe Adresse wie der BF hat.
Der positive Studienerfolg der Tochter konnte anhand der Studienbestätigung, dem Studienblatt für das WS 2019 sowie der Studienzeitbetätigung (Auszug aller Unterlagen vom ) entnommen werden.
Die Beschäftigungsverhältnisse der Eltern entstammen der Abfrage des Abgabeninformationssystems (AIS) der Finanzverwaltung und sind unstrittig.
Die Wohnadresse der KM und die Meldung der Tochter an dieser ergibt sich aus der Abfrage aus dem Zentralen Melderegister.
Rechtliche Beurteilung
Zu dem als "Beschwerde" bezeichneten Rechtsmittel vom
Aus der Bezeichnung "Beschwerde" kann ebenso wie aus im Bereich der BAO bisher nicht vorkommenden Bezeichnungen wie "Einspruch" oder "Rekurs" (nunmehr sieht § 9 Kontenregister- und Konteneinschaugesetz BGBl. I Nr. 116/2015 im Verfahren vor dem BFG auch einen Rekurs vor) lediglich geschlossen werden, dass der Einschreiter sich eines Rechtsbehelfs bedienen möchte. Um welchen Rechtsbehelf es sich handelt, ist aus dem Zusammenhang des Anbringens zu schließen. Bei verbleibenden Unklarheiten ist ein Mängelbehebungsverfahren (§ 85 Abs. 2 BAO) durchzuführen, in dessen Rahmen bei nicht rechtsfreundlich vertretenen Parteien diesen im Rahmen der Manuduktionspflicht (§ 113 BAO) die in Betracht kommenden Rechtsbehelfe näher zu erläutern wären.
Es ist allgemeiner Grundsatz des Abgabenverfahrensrechts, dass es nicht auf die Bezeichnung von Schriftsätzen und die zufälligen verbalen Formen ankommt, sondern auf den Inhalt, das erkennbare oder zu erschließende Ziel des Parteischritts ().
Die Bundesabgabenordnung kennt verschiedene Rechtsbehelfe. Unter anderem ist das ordentliche Rechtsmittel die Beschwerde (§ 243 BAO). Die daraufhin ergehende Beschwerdevorentscheidung wirkt wie eine Entscheidung über die Beschwerde, es sei denn, dass innerhalb eines Monats nach Zustellung der Beschwerdevorentscheidung der Antrag auf Entscheidung über die Beschwerde (Vorlageantrag) durch das Bundesfinanzgericht bei dem oben angeführten Amt gestellt wird.
Der BF ist in diesem Verfahren unvertreten und selbst kein berufsmäßiger Parteienvertreter. Sein Anbringen vom ist daher als jener verfahrensrechtliche Rechtsbehelf zu deuten, der am ehesten dem Rechtschutzinteresse des BF Rechnung trägt, im vorliegenden Fall geht das BFG von einem Vorlageantrag gem. § 264 BAO aus. Selbst das Finanzamt scheint - ohne dass es hierfür ein gesondertes Vorbringen gibt - von einem zulässigen Vorlageantrag auszugehen, andernfalls nicht mit Vorlage(bericht) an das BFG vorgegangen worden wäre.
Zu Spruchpunkt I. (Stattgabe)
Nationales Familienbeihilfenrecht
Gemäß § 2 (1) Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG) haben Personen Anspruch auf Familienbeihilfe, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben.
Nach Abs 2 der genannten Gesetzesbestimmung hat jene Person Anspruch auf Familienbeihilfe für ein in Abs 1 genanntes Kind, zu deren Haushalt das Kind gehört. Eine Person, zu deren Haushalt das Kind nicht gehört, die jedoch die Unterhaltskosten für das Kind überwiegend trägt, hat dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn keine andere Person nach dem ersten Satz anspruchsberechtigt ist.
§ 2a FLAG 1967 lautet:
§ 2a. (1) Gehört ein Kind zum gemeinsamen Haushalt der Eltern, so geht der Anspruch des Elternteiles, der den Haushalt überwiegend führt, dem Anspruch des anderen Elternteiles vor. Bis zum Nachweis des Gegenteils wird vermutet, daß die Mutter den Haushalt überwiegend führt.
(2) In den Fällen des Abs. 1 kann der Elternteil, der einen vorrangigen Anspruch hat, zugunsten des anderen Elternteiles verzichten. Der Verzicht kann auch rückwirkend abgegeben werden, allerdings nur für Zeiträume, für die die Familienbeihilfe noch nicht bezogen wurde. Der Verzicht kann widerrufen werden.
§ 4 Abs 1 FLAG 1967 bestimmt, dass Personen, die Anspruch auf eine gleichartige ausländische Beihilfe haben, keinen Anspruch auf Familienbeihilfe haben, wobei jedoch eine in den nachfolgenden Absätzen definierte Ausgleichszahlung unter den dort angeführten Bedingungen möglich wäre.
Gemäß § 5 Abs 3 FLAG 1967 besteht kein Anspruch auf Familienbeihilfe für Kinder, die sich ständig im Ausland aufhalten.
Daher hat der BF nach rein innerstaatlichem Recht keinen Anspruch auf Familienbeihilfe für seine Tochter.
In diesem Zusammenhang bestimmt jedoch § 53 Abs 1 FLAG 1967, dass Staatsbürger von Vertragsparteien des Übereinkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), soweit es sich aus dem genannten Übereinkommen ergibt, in diesem Bundesgesetz österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt sind. Hierbei ist der ständige Aufenthalt eines Kindes in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraumes nach Maßgabe der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen dem ständigen Aufenthalt eines Kindes in Österreich gleichzuhalten. Nach Wittmann/Papacek, Der Familienlastenausgleich, Kommentar § 53, wird dadurch die Gebietsgleichstellung mit Österreich bezüglich des ständigen Aufenthaltes der Kinder im EWR bzw in der EU im Sinne der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen hervorgehoben.
Unionsrecht
Ungarn ist seit Mai 2004 Mitglied der Europäischen Union.
Der räumliche Anwendungsbereich findet zwar in der VO 883/2004 keinen ausdrücklichen Niederschlag, doch ergibt sich dieser unmittelbar aus dem primären Unionsrecht selbst, wenn eine Person, die den persönlichen Anwendungsbereich eröffnet, die Personenfreizügigkeit ausübt. Der Anwendungsbereich der Verordnung ist demnach in räumlicher Hinsicht bei jedem grenzüberschreitenden Sachverhalt iZm der Ausübung der Arbeitnehmer-, der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit, an dem zumindest zwei Mitgliedstaatenbeteiligt sind, eröffnet. Erst ein grenzüberschreitender Sachverhalt führt zu einer Person iSd Art 2 VO 883/2004, die eine "Beschäftigung" (Art 1 Buchstabe a der VO) oder eine "selbständige Erwerbstätigkeit" (Art 1 Buchstabe b der VO) ausübt, oder die "Versicherter" (Art 1 Buchstabe c der VO), "Beamter" (Art 1 Buchstabe d der VO) oder "Grenzgänger" (Art 1 Buchstabe f der VO) ist. Ein grenzüberschreitender Sachverhalt entsteht auch dadurch, dass der Wohnort aus dem einen Mitgliedstaat in einen anderen wegverlegt wird und ein Elternteil im erstgenannten Mitgliedstaat weiterhin beschäftigt bleibt (, Fassbender-Firman, Rn 10). Sämtliche Rückkehrkonstellationen eröffnen den räumlichen Anwendungsbereich der Verordnung (s. Gebhart in Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG, 2. Aufl. 2020, § 53, II. Sekundärrecht und nationales Recht [Rz 155]).
Durch die Erwerbstätigkeit des BF im Inland und dem Wohnort in Ungarn liegt ein grenzüberschreitender Sachverhalt vor und ist nicht nur innerstaatliches Recht zu beachten. Vielmehr ist der BF als in Österreich Erwerbstätiger bei Vorliegen der dort normierten Voraussetzungen auch von der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit erfasst (in der Folge: "VO").
Nach Artikel 1 Buchstabe i der VO ist "Familienangehöriger"
1. i) jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, als Familienangehöriger bestimmt oder anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet wird;
2. unterscheiden die gemäß Nummer 1 anzuwendenden Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Familienangehörigen nicht von anderen Personen, auf die diese Rechtsvorschriften anwendbar sind, so werden der Ehegatte, die minderjährigen Kinder und die unterhaltsberechtigten volljährigen Kinder als Familienangehörige angesehen;
3. wird nach den gemäß Nummern 1 und 2 anzuwendenden Rechtsvorschriften eine Person nur dann als Familien- oder Haushaltsangehöriger angesehen, wenn sie mit dem Versicherten oder dem Rentner in häuslicher Gemeinschaft lebt, so gilt diese Voraussetzung als erfüllt, wenn der Unterhalt der betreffenden Person überwiegend von dem Versicherten oder dem Rentner bestritten wird.
Artikel 2 der VO regelt den persönlichen Geltungsbereich. Danach sind Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen von der VO erfasst.
Nach Artikel 3 Abs 1 lit j umfasst der sachliche Geltungsbereich der VO auch Familienleistungen.
Die VO ist also persönlich und sachlich auf den BF anwendbar.
Art. 4 VO 883/2004 zufolge haben die Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.
Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen nach Art. 11 Abs. 1 VO 883/2004 den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats.
Nach Art. 11 Abs. 3 lit. a VO 883/2004 unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats.
Artikel 67 der VO besagt, dass eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats hat, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.
Die Verordnung enthält Durchführungsbestimmungen zur VO 883/2004.
Art. 60 VO 987/2009 lautet auszugsweise:
Artikel 60
Verfahren bei der Anwendung von Artikel 67 und 68 der Grundverordnung
(1) Die Familienleistungen werden bei dem zuständigen Träger beantragt. Bei der Anwendung von Artikel 67 und 68 der Grundverordnung ist, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf die Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr, berücksichtigt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind, einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem anderen Elternteil, einer als Elternteil behandelten Person oder von der Person oder Institution, die als Vormund des Kindes oder der Kinder handelt, gestellt wird.
(2) Der nach Absatz 1 in Anspruch genommene Träger prüft den Antrag anhand der detaillierten Angaben des Antragstellers und berücksichtigt dabei die gesamten tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die die familiäre Situation des Antragstellers ausmachen.
Die Tatsache der Auflösung der Ehe bzw Lebensgemeinschaft des BF von der jeweiligen Kindesmutter ändert nichts an der grundsätzlichen Anwendbarkeit der VO; wie der VwGH im Erkenntnis vom , Zl 2004/15/0049, unter Berufung auf das Humer C-255/99 eindeutig klarstellte. Demnach sind unter dem Ausdruck "Familienlast" auch Familiensituationen nach einer Scheidung erfasst.
Da die Tochter beim BF haushaltszugehörig ist, liegt Familienangehörigkeit iSd VO vor.
Im Beschwerdezeitraum ist Wohnmitgliedstaat des BF und seiner Tochter Ungarn. Auf Grund der Beschäftigung des BF (und der KM) in Österreich, ist Österreich Beschäftigungsmitgliedstaat. In diesem Zeitraum unterlag der BF gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. a VO (EG) 883/2004 den österreichischen Rechtsvorschriften in Bezug auf Familienleistungen.
Aufgrund der Regelung des Art. 67 der VO (EG) 883/2004 hat auch eine Person für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat (hier: HU) wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats (hier: AT) hat, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat (AT) wohnen würden.
Der BF als Familienangehöriger löst mit der Beschäftigung in Österreich einen Anspruch aus (Anm.: die KM auch). Er unterliegt ausschließlich den österreichischen Rechtsvorschriften. Mit der Bestimmung des Art 67 wird fingiert, dass die gesamte Familie in Österreich lebt. Der Elternteil, der mit dem Kind im gemeinsamen Haushalt lebt, hat nach § 2 Abs 2 FLAG 1967 den Anspruch auf Familienbeihilfe. Dies trifft auf den BF zu. Österreich ist daher nach Art. 11 und Art. 67 VO-EG ausschließlich zuständig. Daher hat der BF Anspruch auf Familienbeihilfe in voller Höhe.
Auf die Auswirkungen der Verzichtserklärung der KM war aufgrund der Haushaltszugehörigkeit der Tochter beim BF nicht weiter einzugehen.
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass es für die Beurteilung von Anbringen nicht auf die Bezeichnung und die zufällige verbale Form, sondern auf den Inhalt, das erkennbare oder zu erschließende Ziel des Parteischrittes ankommt (vgl. Ritz, BAO 6.A., § 85 Tz 1; ). Parteierklärungen und damit auch Anbringen sind nach ihrem objektiven Erklärungswert auszulegen (vgl. , m.w.N.). Wenn Unionsbürger und ihnen diesbezüglich gleichgestellte Personen ihr nach der VO (EG) 883/2004 zustehendes Recht auf österreichische Familienleistungen geltend machen, ist im Allgemeinen davon auszugehen, dass sie diese Familienleistungen im höchstmöglichen Umfang erhalten wollen. Dabei ist es grundsätzlich ohne Belang, ob der diesbezügliche Antrag mit dem Formular Beih 1 (Beih 100) oder dem Formular Beih 38 gestellt wird und ob auf dem Formular Beih 38 "Ausgleichszahlung", "Differenzzahlung" oder keiner dieser Punkte angekreuzt wurde. Auch bei einer Antragstellung mittels Formulars Beih 38 ist gegebenenfalls Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag ungekürzt auszuzahlen, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind. (vgl. ).
Im gegenständlichen Fall geht es dem BF um die Zuerkennung der (vollen) (österreichischen) Familienbeihilfe, das heißt um Auszahlung in ungekürzter Form und eben nicht um die Gewährung einer allfälligen Differenz- oder Ausgleichszahlung. Ein Anspruch auf ungarische Familienbeihilfe ist im konkreten Fall nicht gegeben. Der Wohnort kommt nach Art. 11 VO-EG nur subsidiär zur Anwendung, wenn keine Beschäftigung (oder ähnliches) vorliegt. Auch die KM kann nur einen österreichischen Anspruch vermitteln. Art 68 (Prioritätsregeln) greift daher nicht, da hier 2 Mitgliedstaaten einen Anspruch iSd VO vermitteln müssten.
Der angefochtene Bescheid erweist sich daher ab Juni 2019 als rechtswidrig (Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG), er ist insoweit gemäß § 279 BAO ersatzlos aufzuheben.
Finanzamt Österreich
§ 323b Abs. 1 bis 3 BAO lautet i. d. F. BGBl. I Nr. 99/2020 (2. FORG)
§ 323b. (1) Das Finanzamt Österreich und das Finanzamt für Großbetriebe treten für ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereich am an die Stelle des jeweils am zuständig gewesenen Finanzamtes. Das Zollamt Österreich tritt am an die Stelle der am zuständig gewesenen Zollämter.
(2) Die am bei einem Finanzamt oder Zollamt anhängigen Verfahren werden von der jeweils am zuständigen Abgabenbehörde in dem zu diesem Zeitpunkt befindlichen Verfahrensstand fortgeführt.
(3) Eine vor dem von der zuständigen Abgabenbehörde des Bundes genehmigte Erledigung, die erst nach dem wirksam wird, gilt als Erledigung der im Zeitpunkt des Wirksamwerdens für die jeweilige Angelegenheit zuständigen Abgabenbehörde.
Die gegenständliche Entscheidung ergeht daher an das Finanzamt Österreich.
Zuständigkeitsänderung
Durch den Beschluss des Geschäftsverteilungsausschusses vom wurde der gegenständliche Fall der unbesetzten Gerichtsabteilung 1064 abgenommen und zum Stichtag der Gerichtsabteilung 1078 neu zugeteilt.
Zu Spruchpunkt II. (Revision)
Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Die Tatfrage des tatsächlichen Wohnsitzes und somit der Haushaltszugehörigkeit der Tochter ist grundsätzlich nicht reversibel. Im gegenständlichen Fall liegt keine Rechtsfrage vor, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Die rechtliche Würdigung des vorliegenden Sachverhaltes ergibt sich bereits aus dem klaren Wortlaut der angeführten Verordnung. Weder die im Rahmen der freien Beweiswürdigung getroffenen Feststellungen noch die einzelfallbezogene rechtliche Beurteilung weisen eine Bedeutung auf, die über den Beschwerdefall hinausgeht.
Wien, am
Zusatzinformationen
Tabelle in neuem Fenster öffnen
Materie | Steuer FLAG |
betroffene Normen | § 53 Abs. 1 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1 Art. 11 Abs. 1 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1 Art. 11 Abs. 3 lit. a VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1 Art. 11 Abs. 3 Buchstabe a VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1 Art. 67 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1 |
Verweise | |
ECLI | ECLI:AT:BFG:2022:RV.7101317.2020 |
Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at