Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 12.07.2022, RV/5100624/2021

Eintrittszeitpunkt der voraussichtlich dauernden Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch die Richterin ***US*** in der Beschwerdesache ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, vertreten durch Dr. Thomas Langer, Landstraße 84, 4020 Linz, über die Beschwerde vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Österreich vom betreffend Familienbeihilfe ab 10/2014 Steuernummer ***BF1StNr1*** zu Recht erkannt:

I. Der Beschwerde wird gemäß § 279 BAO Folge gegeben. Der angefochtene Abweisungsbescheid wird aufgehoben.

II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

Verfahrensgang

Die im Mai 1984 geborene Beschwerdeführerin (in der Folge kurz Bf.) brachte am einen Antrag auf rückwirkende Gewährung der (erhöhten) Familienbeihilfe ein.

Einem in der Folge erstellten ärztlichen Sachverständigengutachten des Sozialministerium- service vom zufolge sei die Bf. zwar derzeit dauernd außerstande sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, jedoch sei dieser Zustand nicht vor dem 21. LJ eingetreten.

Mit Bescheid vom lehnte die belangte Behörde die Anträge mit der Begründung ab, dass gemäß der Bescheinigung des Sozialministeriumservice vom der Grad der Behinderung ab der Geburt mit 30 %, ab 02/2016 mit 50 % und ab 02/2018 mit 80 % festgestellt worden sei, eine voraussichtliche dauernde Erwerbsunfähigkeit vor dem 21. Lebensjahr allerding nicht bescheinigt worden sei.

Dagegen richtet sich die mit datierte Beschwerde mit folgender Begründung:

"Mit dem angefochtenen Bescheid wurde mir die Familienbeihilfe und erhöhte Familienbeihilfe ab dem Zeitraum ab Oktober 2014 abgewiesen. Die Abweisung erfolgte jedoch zu Unrecht, da mir seitens des Sozialministeriumservice nicht die vereinbarte Zeit eingeräumt wurde, die erforderlichen älteren Befunde und den Nachweis über meinen früheren Bezug der erhöhten Familienbeihilfe zu erbringen. Im Rahmen der Untersuchung durch das SMS hatte ich mit der zuständigen Ärztin vereinbart, dass ich ihr noch weitere Unterlagen beibringe, die meinen gesundheitlichen Zustand und meinen schon immer bestandene 50 %ige Beeinträchtigung, nachweisen. Jedoch habe ich die zuständige Ärztin kurz nach der Untersuchung nicht mehr erreicht und es erging der abweisende Bescheid bereits 8 Tage danach, sodass mir keineausreichende Zeit verblieben ist, diese Nachweise nachzureichen. Wie dem Finanzamt auf Basis der älteren Unterlagen ersichtlich sein müsste, habe ich bereits im Kindesalter die erhöhte Familienbeihilfe bezogen, auch im Zeitraum, in dem das jetzige Gutachten einen Behinderungsgrad in Höhe von 30 % attestiert, sodass bereits auf dieser Tatsache hervorgeht, dass das nunmehrige Gutachten des SMS fehlerhaft ist."

Über Ersuchen der belangten Behörde und im Auftrag des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen wurde neuerlich ein ärztliches Sachverständigengutachten am erstellt. Die durchgeführte Begutachtung brachte folgendes Ergebnis:

Die abweisende Beschwerdevorentscheidung vom begründet die belangte Behörde mit dem Nichtvorliegen einer dauernden Erwerbsfähigkeit vor dem 21. Lebensjahr. Der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Erwerbsunfähigkeit sei durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen. Laut Gutachten vom könne eine dauernde Erwerbsunfähigkeit vor dem vollendeten 21. Lebensjahr nicht bestätigt werden. Es steht der Bf. daher ab 10/2014 keine Familienbeihilfe und keine erhöhte Familienbeihilfe zu.

Mit Schreiben vom wurde die Entscheidung durch das Bundesfinanzgericht beantragt und der Akt dem Gericht am zur Entscheidung vorgelegt.

Aufgrund der dem Vorlageantrag beigelegten sowie weiterer im Verfahren vor dem Bundesfinanzgericht vorgebrachter Unterlagen wurde neuerlich ein Sachverständigengutachten angefordert. Dieses Gutachten vom bescheinigt bezug- nehmend auf die von der Bf. vorgelegten Unterlagen das Vorliegen einer dauernden Erwerbsunfähigkeit ab 1/2001 und somit den Eintritt der dauernden Erwerbsunfähigkeit vor dem 21. Lebensjahr.

Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

Sachverhalt

Auf Basis des oben geschilderten Verwaltungsgeschehens und der aktenkundigen Unterlagen wird folgender entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt:

Die 1984 geborene Bf. ist laut diesbezüglicher Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen aufgrund einer vor dem 21. Lebensjahr eingetretenen körperlichen Behinderung dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Mit Schreiben vom wurde von der Bf. die rückwirkende Zuerkennung von Familienbeihilfe und Gewährung des Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe wegen erheblicher Behinderung beantragt.

Dass andere Personen vorrangig Anspruch auf Familienbeihilfe für die Bf. hätten, lässt sich der Aktenlage nicht entnehmen.

Das zu versteuernde Einkommen gem. § 33 Abs. 1 EStG 1988 der Bf. betrug laut Einkommensteuerbescheid 2018 vom € 10.486,09.

Beweiswürdigung

Die obigen Sachverhaltsfeststellungen sind allesamt aktenkundig bzw ergeben sich diese aus den nicht der Aktenlage widersprechenden und auch von der belangten Behörde nicht widerlegten Ausführungen der Bf.

Eine Unvollständigkeit oder Unschlüssigkeit des vorliegenden ärztlichen Sachverständigengutachtens vom ist für das Bundesfinanzgericht nicht erkennbar und wird auch von der belangten Behörde nicht behauptet. Vielmehr geht die belangte Behörde laut E-Mail vom davon aus, dass die Voraussetzungen für die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe aufgrund des vorgenannten Gutachtens nunmehr erfüllt seien.

Vor diesem Hintergrund durfte das Bundesfinanzgericht die obigen Sachverhaltsfeststellungen gemäß § 167 Abs 2 BAO als erwiesen annehmen.

Rechtliche Beurteilung

Zu Spruchpunkt I. (Stattgabe)

Gemäß § 6 Abs 2 lit d FLAG 1967 idF BGBl I 2010/111 haben - neben minderjährigen - auch volljährige Vollwaisen unter anderem dann Anspruch auf Familienbeihilfe, "wenn auf sie die Voraussetzungen des Abs. 1 lit. a bis c zutreffen und wenn sie (…) wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, und sich in keiner Anstaltspflege befinden".

Gem § 6 Abs 5 leg cit haben "Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und die sich nicht auf Kosten der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe in Heimerziehung befinden, [ … ] unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 bis 3)."

Gemäß § 6 Abs 2 lit d FLAG 1967 idF BGBl I 2018/77 haben - neben minderjährigen - auch volljährige Vollwaisen unter anderem dann Anspruch auf Familienbeihilfe, "wenn auf sie die Voraussetzungen des Abs. 1 lit. a bis c zutreffen und wenn sie (…) wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 25. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, und deren Unterhalt nicht zur Gänze aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe oder nicht zur Gänze aus öffentlichen Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes getragen wird, sofern die Vollwaise nicht einen eigenständigen Haushalt führt; dies gilt nicht für Vollwaisen, die Personen im Sinne des § 1 Z 3 und Z 4 des Strafvollzugsgesetzes, BGBl. Nr. 144/1969, sind, sofern die Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes, BGBl. Nr. 144/1969, auf sie Anwendung finden".

Gem § 6 Abs 5 leg cit haben "Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und deren Unterhalt nicht zur Gänze aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe oder nicht zur Gänze aus öffentlichen Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes getragen wird, [ … ] unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 bis 3). Erheblich behinderte Kinder im Sinne des § 2 Abs. 1 lit. c, deren Eltern ihnen nicht überwiegend den Unterhalt leisten und die einen eigenständigen Haushalt führen, haben unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 und 3)."

Gemäß § 8 Abs 4 FLAG 1967 erhöht sich die Familienbeihilfe für jedes Kind, das "erheblich behindert" ist, monatlich um die in den Z 1 bis 3 des § 8 Abs 4 in der jeweils geltenden Fassung genannten Beträge.

Als erheblich behindert gilt gemäß § 8 Abs 5 FLAG 1967 "ein Kind, bei dem eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung besteht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von voraussichtlich mehr als drei Jahren. Der Grad der Behinderung muß mindestens 50 vH betragen, soweit es sich nicht um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Für die Einschätzung des Grades der Behinderung sind die Vorschriften der §§ 7 und 9 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957, BGBl. Nr. 152 in der jeweils geltenden Fassung, und die diesbezügliche Verordnung des Bundesministeriums für soziale Verwaltung vom , BGBl. Nr. 150 in der jeweils geltenden Fassung, anzuwenden. Die erhebliche Behinderung ist spätestens nach fünf Jahren neu festzustellen, soweit nicht Art und Umfang eine Änderung ausschließen."

Der Grad der Behinderung und/oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, ist gemäß § 8 Abs 6 FLAG 1967 durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen.

Gemäß § 8 Abs 7 FLAG 1967 gelten die Abs 4 bis 6 des § 8 leg cit sinngemäß für Vollwaisen, die gemäß § 6 leg cit Anspruch auf Familienbeihilfe haben.

Gemäß § 10 Abs 3 FLAG 1967 werden die Familienbeihilfe und die erhöhte Familienbeihilfe für ein erheblich behindertes Kind höchstens für fünf Jahre rückwirkend vom Beginn des Monats der Antragstellung gewährt. Da der betreffende Antrag des Bf. am gestellt wurde, beginnt der in § 10 Abs 3 FLAG 1967 definierte Rückwirkungszeitraum somit mit Oktober 2014 (vgl zum maßgeblichen Zeitraum zB auch mwH).

Strittig war im gegenständlichen Fall die Frage, ob die Bf. gem § 6 Abs 2 lit d FLAG 1967 aufgrund einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres eingetretenen körperlichen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Bei der Antwort auf die Frage, ob das Kind bzw die Vollwaise erheblich behindert ist und/oder voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, ist das Bundesfinanzgericht nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH an die der Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen zugrunde liegenden Gutachten grundsätzlich gebunden und darf diese nur insoweit prüfen, ob sie schlüssig und vollständig und nicht einander widersprechend sind (vgl ; ; ; Lenneis in Lenneis/Wanke [Hrsg], FLAG² § 8 Rz 29 mwH).

Im Beschwerdefall wurde die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit der Bf., sich selbst den Unterhalt zu verschaffen und deren Eintritt vor Vollendung des 21. Lebensjahres auf der Grundlage des nach Vorlage der Beschwerde an das Bundesfinanzgericht erstellten Sachverständigengutachtens vom durch das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen bescheinigt. Wie bereits unter Punkt 2 ausgeführt wurde, ist eine Unvollständigkeit oder Unschlüssigkeit des dieser Bescheinigung zugrundeliegenden ärztlichen Sachverständigengutachtens vom für das Bundesfinanzgericht nicht erkennbar und wird auch von der belangten Behörde nicht behauptet.

Es sind auch keine anderen einem Anspruch des Beschwerdeführers entgegenstehenden Gründe, etwa Anstaltspflege oder vorrangiger Familienbeihilfeanspruch durch einen Elternteil iSd § 2 Abs 3 FLAG 1967, aus der Aktenlage ersichtlich. Die belangte Behörde geht ebenfalls davon aus, dass dem Beschwerdeführer aufgrund der Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen vom Familienbeihilfe (samt Erhöhungsbetrag) zusteht.

Da die Familienbeihilfe gem § 12 FLAG 1967 nicht mit Bescheid zuzuerkennen ist, sondern vom Wohnsitzfinanzamt lediglich eine Mitteilung auszustellen ist, ist der angefochtene Abweisungsbescheid vor dem Hintergrund obiger Ausführungen aufzuheben (vgl ).

Gemäß § 5 Abs. 1 FLAG 1967 führt ein zu versteuerndes Einkommen (§ 33 Abs. 1 EStG 1988) eines Kindes bis zu einem Betrag von € 10.000 in einem Kalenderjahr nicht zum Wegfall der Familienbeihilfe. Übersteigt das zu versteuernde Einkommen (§ 33 Abs. 1 EStG 1988) eines Kindes in einem Kalenderjahr, das nach dem Kalenderjahr liegt, in dem das Kind das 19. Lebensjahr vollendet hat, den Betrag von € 10.000, so verringert sich die Familienbeihilfe, die für dieses Kind nach § 8 Abs. 2 FLAG 1967 einschließlich § 8 Abs. 4 FLAG 1967 gewährt wird, für dieses Kalenderjahr um den € 10.000 übersteigenden Betrag, wobei § 10 Abs. 2 FLAG 1967 nicht anzuwenden ist. Der Betrag von € 10.000 wurde ab 2020 auf € 15.000 angehoben.

Das zu versteuernde Einkommen (§ 33 Abs. 1 EStG 1988) der Bf. betrug laut Einkommensteuerbescheid 2018 vom € 10.486,09.

Das Einkommen der Bf. im Jahr 2018 übersteigt den damaligen Grenzbetrag von € 10.000.

Vom Finanzamt ist eine entsprechende Mitteilung über die Anrechnung des Einkommens und die Ermittlung des Auszahlungsbetrags gemäß § 12 FLAG 1967 auszufertigen.

Zu Spruchpunkt II. (Revision)

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Das gegenständliche Erkenntnis folgt der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungs-gerichtshofes, weshalb gemäß § 25a Abs 1 VwGG spruchgemäß zu entscheiden war.

Linz, am

Zusatzinformationen


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Materie
Steuer
FLAG
betroffene Normen
ECLI
ECLI:AT:BFG:2022:RV.5100624.2021

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at