Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 16.06.2021, RV/5101241/2019

Rückwirkende Feststellung des Behinderungsgrades bei Entwicklungseinschränkungen

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter***Ri*** in der Beschwerdesache ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, über die Beschwerde vom , eingelangt am , gegen den Bescheid des Finanzamtes Lilienfeld St. Pölten vom zu VNR ***1***, mit dem ein Antrag auf Gewährung des Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe wegen erheblicher Behinderung des Kindes ***K*** (VNR ***2***) für den Zeitraum Mai 2013 bis Dezember 2017 abgewiesen wurde, zu Recht erkannt:

I. Die Beschwerde wird gemäß § 279 BAO als unbegründet abgewiesen.

II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

Verfahrensgang

Die Beschwerdeführerin beantragte mit einem am eingelangten Formblatt Beih 3 die Gewährung des Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe wegen erheblicher Behinderung ihrer minderjährigen Tochter ab dem Zeitpunkt des Eintrittes der erheblichen Behinderung, den der medizinische Sachverständige feststellt im Höchstausmaß von rückwirkend fünf Jahren ab Antragstellung.

Dem Antrag wurde eine Ablichtung des psychologischen Befundes der Kinder- und Jugendpsychologischen Praxis Mag. ***S*** vom angeschlossen.

Im ärztlichen Gutachten des Sozialministeriumservice vom wurde der Grad der Behinderung der Tochter der Beschwerdeführerin mit 50 % ab 01/2018 festgestellt.

In einer Mitteilung vom wurde der Beschwerdeführerin bekanntgegeben, dass für ihre Tochter erhöhte Familienbeihilfe ab Jänner 2018 gewährt wird.

Die Beschwerdeführerin teilte dem Finanzamt mit Eingabe vom mit, dass sie diese Mitteilung (vom ) erhalten habe. Sie möchte hiermit "auch die letzten fünf Jahre nachfordern", da ihre Tochter "seit Geburt an behindert" sei.

Zusätzlich wurde am ein Formblatt Beih 3 eingereicht, mit dem die Gewährung des Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe ab Mai 2013 beantragt wurde.

Daraufhin wurde vom Finanzamt am ein neuerliches Gutachten beim Sozialministeriumservice angefordert. In der Bescheinigung vom wurde jedoch wiederum der Grad der Behinderung von 50 % erst ab festgestellt.

Mit Schreiben vom urgierte die Beschwerdeführerin die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe rückwirkend für die letzten fünf Jahre.

Mit Bescheid vom wurde der Antrag auf Gewährung des Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe für die Tochter der Beschwerdeführerin für den Zeitraum Mai 2013 bis Dezember 2017 abgewiesen, da ein Grad der Behinderung von 50 % erst ab festgestellt worden sei.

Mit E-Mail vom urgierte die Beschwerdeführerin neuerlich die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe für ihre Tochter.

Gegen den Abweisungsbescheid vom richtet sich die Beschwerde vom , in dem die Beschwerdeführerin eine nochmalige Überprüfung forderte. Es sei nicht richtig, dass erst seit "eine Behinderung" ihrer Tochter vorliege. Auch der Arzt des Bundessozialamtes (***E***) habe ihr "dies laut Gutachten von 2013 (Ambulatorium ***A***)" nach der zweiten Untersuchung bestätigt.

Das Finanzamt forderte eine neuerliche (innerhalb eines Jahres bereits die dritte) Bescheinigung des Sozialministeriumservice an, in der am abermals ein Grad der Behinderung von 50 % ab dem bestätigt wurde. Zusätzlich wurde für den Zeitraum vom bis ein Grad der Behinderung von 30 % festgestellt.

Nach einer neuerlichen Urgenz der Beschwerdeführerin vom wies das Finanzamt mit Beschwerdevorentscheidung vom die Beschwerde als unbegründet ab, da vom Sozialministeriumservice erst ab ein Grad der Behinderung von 50 % zuerkannt worden sei.

Im Vorlageantrag vom verwies die Beschwerdeführerin auf den angeschlossenen psychologischen Befund der Mag. ***P*** vom und beantragte die rückwirkende Gewährung des Erhöhungsbetrages ab 2015. Sie beziehe sich nunmehr auf das beigelegte "Gutachten" vom , da sie sich sicher sei, dass auch damals schon eine 50 %ige Behinderung ihrer Tochter bestanden habe. Sie ersuche, dieses Gutachten zu prüfen und bitte um eine neuerliche Einschätzung des Behindertengrades im Jahr 2015. Es gehe aus dem Gutachten von 2015 genauso wie aus dem Gutachten von 2018 hervor, dass bei ihrer Tochter "Dyskalkulie, eine kognitive Beeinträchtigung, etc." bestehe.

Da der vorgelegte psychologische Befund vom bereits in den Gutachten des Sozialministeriumservice berücksichtigt worden war, wurde seitens des Finanzamtes keine neuerliche Begutachtung durch das Sozialministeriumservice mehr veranlasst.

Am legte das Finanzamt die Beschwerde dem Bundesfinanzgericht zur Entscheidung vor.

Nachdem der damals zuständig gewesene Richter in den Ruhestand getreten war, wurde durch eine Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesfinanzgerichtes in weiterer Folge die Gerichtsabteilung des erkennenden Richters für die Erledigung (unter anderem) der gegenständlichen Beschwerde zuständig.

Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

Sachverhalt

Laut psychologischem Befund der Mag. ***P*** vom wurde eine Untersuchung der kognitiven Leistungsfähigkeit der Tochter der Beschwerdeführerin durchgeführt. Dabei sind folgende Verfahren angewendet worden: K-ABC (Kaufmann-Assessment Battery for Children) und KT-1 (Konzentrationstest 1), die zu folgenden Ergebnissen führten:

K-ABC: SED: S tw70 SGD: S tw 87 S IF: S tw 80 FS: S tw 90

***Ks*** kognitive Leistungsfähigkeit ist aktuell unter dem Normbereich angesiedelt. Neben Förderdefiziten (vgl. "Rechnen" Stw 87") sind Mängel im räumlichen Gedächtnis, der intermodalen Verarbeitung und dem visuomotorischen Koordinationsvermögen zu vermerken, wie anhand der Subtestresultate "Räumliches Gedächtnis" (Skw 4), "Wortreihe" (Skw 4) und "Handbewegungen" (Skw 5) belegbar ist. Zudem zeigen sich Beeinträchtigungen im auditiven Gedächtnis (vgl. "Zahlennachsprechen" Skw 6).

KT-1: PR 15

ln diesem Durchstreichverfahren erzielt ***K*** ein unterdurchschnittliches Resultat hinsichtlich ihrer Konzentrationsleistung.

Kaufman Assessment Battery for Children, kurz K-ABC, ist ein auf theoretischer Grundlage basierender, individuell anwendbarer Intelligenztest zur Messung kognitiver Fähigkeiten bei Kindern und Jugendlichen von 3 bis 18 Jahren. Die repräsentativen Normen jeder Altersgruppe basieren auf erhobene Daten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Originalversion der K-ABC bestand aus 16 Untertests für Kinder von 2,5 bis 12,5 Jahren. Da die Eichung einschlägiger Verfahren entsprechend der Forderung der DIN 33430 spätestens alle acht Jahre hinsichtlich ihrer Aktualität überprüft werden soll, erschien 2004 mit der KABC-II eine weiterentwickelte Version des Testverfahrens. Die Originalversion der K-ABC bestand aus 16 Untertests, die den jeweiligen Altersgruppen von 2,5 bis 12,5 Jahren zugeordnet und in drei Skalen eingeordnet wurden: drei Untertests der Skala einzelheitlichen Denkens (SED), sieben der Skala ganzheitlichen Denkens (SGD) und sechs Untertests der Fertigkeitenskala. Die Werte von SED und SGD werden gemittelt und ergeben eine Maßzahl für die intellektuellen Fähigkeiten des Kindes, die dem Mittelmaß der Fertigkeiten gegenübergestellt wird. Durch diese Teilung lassen sich Werte für Cattells zwei-Faktoren-Theorie ermitteln, die die Intelligenz in fluide und kristalline Intelligenz unterteilt. Die Skalen haben einen Mittelwert von 100 und ein Standardabweichung von 15. So lässt sich der Wert für "intellektuelle Fähigkeiten" dem Intelligenzquotienten gleichsetzen. Die KABC-II basiert wie ihre Vorgängerversion auf theoretischen Grundlagen. Der Unterschied liegt im konzeptuellen Umfang und der Testkonstruktion. Während die K-ABC auf den zwei Fähigkeitsbereichen der sequentiellen und simultanen Verarbeitungen beruht, basiert die KABC-II auf einer dualen theoretischen Fundament: der psychometrischen CHC-Theorie mit fluidem/kristallinen Fähigkeitsmodell und der Theorie Lurias über neuropsychologische Verarbeitungsprozesse. Die Reliabilitätskoeffizienten der einzelnen Skalen liegen zwischen 88 und 97, die Gesamtskala zwischen 94 und 98. Die Reliabilitätsmaße der Untertests für unter 6-Jährige befinden sich als split-half und Konsistenzkoeffizienten zwischen 70 und 97, bei den 7- bis 18-Jährigen zwischen 78 und 97. Bei den nonverbalen Skalen errechnete man einen Koeffizienten von 90 bis 95. Ende 2014 folgte eine neu normierte deutsche Version der KABC-II (Quelle: Wikipedia).

In der Zusammenfassung wurde im psychologischen Befund vom ausgeführt:

***Ks*** kognitive Leistungsfähigkeit ist aktuell unter dem Normbereich angesiedelt, das Arbeitstempo und die Konzentrationsleistung sind reduziert. Neben Förderdefiziten sind Mängel im räumlichen Gedächtnis, in der intermodalen Verarbeitung und im visuomotorischen Koordinationsvermögen zu vermerken. Zudem zeigt sich das auditive Gedächtnis beeinträchtigt. Kompensatorisch wird das geplante Förder-/ Teilleistungstraining angeraten.

Im psychologischen Befund der Mag. ***S*** vom wurde in der Anamnese unter anderem festgehalten (Hervorhebungen durch das BFG):

***K*** wird in früher erhobenen Entwicklungsstandabklärungen (Ambulatorium ***A*** 2013; Mag. ***P*** 2015) jeweils als leicht entwicklungsverzögert beschrieben. Das Mädchen wird durch die Mutter seit jeher schüchtern, vor allem deutlich ablehnend gegenüber Männern, sowie ängstlich vor ärztlichen Untersuchungen erinnert.

Die Untersuchung der kognitiven Leistungsfähigkeit der Tochter der Beschwerdeführerin durch Mag. ***S*** führte zu folgenden Ergebnissen unter Zugrundelegung der angeführten Verfahren:

HAWIK-IV:

***Ks***kognitives Potenzial ist gesamt gesehen deutlich unter dem Normbereich gelegen. Am stärksten betroffen sind die Subtests des Arbeitsgedächtnisses, wobei auch die Verarbeitungsgeschwindigkeit und Handlungsplanung Defizite aufweist. Knapp unter dem Normbereich sind darüber hinaus die Subtests "Wortschatztest" und "Matrizentest", womit das logisch technische Verständnis überprüft wird, nachweislich.


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Indizes
Index-Werte
Sprachverständnis
85
Wahrnehmungsgebundenes Logisches Denken
84
Arbeitsgedächtnis
71
Verarbeitungsgeschwindigkeit
68
Gesamt-IQ
72

Normbereich der Index-Werte: 85 bis 115


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WP
Mosaik-Test (räumliches Vorstellungsvermögen)
8
Gemeinsamkeiten finden (verbales Schlussfolgern)
8
Zahlen nachsprechen (auditive Merkfähigkeit)
4
Bildkonzepte (Fähigkeit zum abstrakten kategorialem Denken)
8
Zahlen-Symbol-Test (visuomotorische Koordination)
5
Wortschatz-Test (Wortwissen, Begriffsbildung)
6
Buchstaben-Zahlen-Folgen (Arbeitsgedächtnis)
6
Matrizen-Test (schlussfolgerndes Denken)
6
Allgemeines Verständnis (soziales Verständnis)
8
Symbol-Suche (kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit, visuomotorische Koordination)
3

WP = altersabhängige Wertpunkte, Normbereich: WP 7 bis 13

BUEGA:

***Ks***Schulleistungspotenzial stellt sich gesamt gesehen (T 35,75) deutlich unter dem Normbereich gelegen dar. Bei altersgemäße Lesefähigkeit (T 42) zeigen sich die Schwierigkeiten des Kindes nicht ausschließlich im mathematischen Bereich (T 30), sondern auch in der Rechtschreibung (T 33). Die Aufmerksamkeitsleistung ist knapp unter dem Normbereich (T 38) gelegen (Norm: T 40 bis 60).

ZAREKI-R:

Die mathematischen Fertigkeiten des Kindes entsprechen derzeit einem weit unter dem Normbereich gelegenen Ergebnis (PR 2), weshalb vom Vorliegen einer Dyskalkulie auszugehen ist. Die Schwierigkeiten des Kindes zeigen sich in sämtlichen Grundrechnungsarten (Addition PR 4; Subtraktion PR 3; Multiplikation PR 1), hängen allerdings auch hier mit Gedächtnisbeeinträchtigungen zusammen, weshalb ***K*** Zwischenergebnisse schlecht abzuspeichern vermag. Während die perzeptive Mengenbeurteilung (PR 100) gut gewährleistet ist, weist ***K*** Probleme in der kognitiven Mengenbeurteilung (PR 5) auf. Das Mädchen vermag darüber hinaus Textaufgaben nicht in adäquater Form in Rechnungen zu transkribieren (PR 1). ***K*** lässt zusätzlich noch Schwierigkeiten im Schreiben (PR 6) und Lesen (PR 3) höherer Zahlen erkennen (Norm: PR 16 bis 84).

ELFE:

Das Leseverständnis bestätigt sich im Wortverständnistest (T 43,8) im Normbereich gelegen, lässt geringe Schwächen im Satzverständnistest (T 38,5) erkennen. Die Lesegeschwindigkeit (T 44,2) ist altersgemäß gewährleistet (Norm: T 40 bis 60).

Zusammenfassung und Behandlungsvorschlag:

***Ks*** kognitives Potenzial ist deutlich unter dem Normbereich gelegen. Dies stellt sich in einer generalisierten kognitiven Schwäche im Ausmaß einer Lernbehinderung dar. Neben nachweislichem Vorliegen einer Dyskalkulie sind auch die Rechtschreibleistung und Konzentrationsfähigkeit unter dem Normbereich gelegen. Trotz gesetzter Lernfördermaßnahmen ist wenig Verbesserung zu erkennen und davon auszugehen, dass ***K*** auf Dauer wohl kaum dem Lehrplan des Regelschulwesens entsprechen wird können.

Im ersten ärztlichen Sachverständigengutachten des Sozialministeriumservice vom wurde auszugsweise festgestellt:

Anamnese:
Es erfolgt die erstmalige Beantragung der erhöhten Familienbeihilfe; anamnestisch bestand bei der aktuell 9-jährigen
***K*** im Kleinkindalter eine Sprachentwicklungsverzögerung, im Kindergartenalter logopädische Förderung im Ambulatorium ***A***; Beginn in der 1. Klasse Volksschule, dann Rückstellung in die Vorschule; neuerlicher Beginn in der 1. Klasse Volksschule, seither nach Angabe der Mutter Dyskalkulietraining, dann Nachhilfe ab der 2. Klasse Volksschule; It. vorliegendem psychologischen Befund von Fr. Mag. ***P*** aus 06/2015 war ***Ks*** kognitive Leistungsfähigkeit damals unter dem Normbereich angesiedelt, das Arbeitstempo und die Konzentrationsleistung reduziert, weiters Förderdefizite It. Befund - es wurde ein Förder- u. Teilleistungstraining angeraten;

Derzeitige Beschwerden:
Aktuell besucht
***K*** die 3. Klasse Volksschule als Integrationsschülerin; aufgrund von starken Stimmungsschwankungen und Schulleistungsproblemen war 01/2018 eine neuerliche psychologische Testung bei Fr. Mag. ***S*** erfolgt, wobei ***Ks*** kognitives Potential nun deutlich unter dem Normbereich gelegen war, bei generalisierter kognitiver Schwäche lag It. Befund nun neben der bereits bekannten Dyskalkulie eine Lernbehinderung vor; trotz Lernfördermaßnahmen (Nachhilfe, Förderkurs) war wenig Verbesserung zu erkennen, daher könne ***K*** It. Befund auf Dauer kaum dem Lehrplan des Regelschulwesens entsprechen; die Stimmungsbeeinträchtigung sei auch durch die chronische schulische Überforderungssituation erklärbar; weiters wurde eine systemische Psychotherapie zur Verbesserung der innerfamiliären Situation empfohlen; nach Angabe der Mutter sei seit Einführung des ASO-Lehrplanes in Mathematik für ***K*** seit 02/2018 die schulische Situation etwas gebessert; es bestünde bei ***K*** weiters eine Enuresis nocturna - die Mutter erkennt dafür keinen Behandlungsbedarf und sieht dies als familiäres Problem, da sie selbst bis zum späten Schulalter an Enuresis gelitten habe und diese auch durch Medikamente u Therapien nicht behandelbar gewesen wäre;

Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
ASO-Lehrplan in Mathematik, Nachhhilfe, Lerntraining in der Schule;

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
2013-03-23 Ambulatorium
***A***: Ärztl. Erstuntersuchung: Diagnose: Sprachentwicklungsstörung, milde Verhaltensauffälligkeiten, Verdacht auf Wahrnehmungsproblematik - logopädische Begutachtung, psychologische Diagnostik

2013-07-18 w.o. Klinisch-psychologischer Befund: etwas unsicher wirkendes Mädchen mit noch durchschnittlicher intellektueller Leistungsfähigkeit, dysgrammatische Sätze - Elternberatung, Warteliste f. logopädische Diagnostik

2015-06-15 Fr. Mag. ***P***, Klinische Psychologin, St.Pölten: Psychologischer Befund: siehe Anamnese

2018-01-31 Fr. Mag. ***S***, Klinische Psychologin, Lilienfeld: Psychologischer Befund: siehe Anamnese

Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:


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Lfd. Nr.
Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden: Begründung der Rahmensätze:
Pos.Nr.
GdB %
1
Lernbehinderung, Stimmungsschwankungen, Enuresis nocturna; Wahl dieser Position bei Erfordernis von Fördermaßnahmen bei kognitiven Defiziten, weiters Probleme der sozialen Integration, unterer Rahmensatz, da keine schwerwiegende motorische Beeinträchtigung;
50

Der festgestellte Grad der Behinderung wird voraussichtlich mehr als 3 Jahre andauern.

GdB liegt vor seit: 01/2018

Nachuntersuchung in 3 Jahren

Im zweiten ärztlichen Sachverständigengutachten des Sozialministeriumservice vom , welches von Dr. ***E***, Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde erstellt worden ist, wurde neuerlich auf das Gutachten der Mag. ***P*** vom Bezug genommen, in dem festgestellt worden war, dass die kognitive Leistungsfähigkeit der Tochter der Beschwerdeführerin damals unter dem Normbereich angesiedelt gewesen sei. Das Arbeitstempo und die Konzentrationsleistung seien reduziert gewesen. Neben Förderdefiziten seien Mängel im räumlichen Gedächtnis zu vermerken gewesen. Der untersuchende Arzt gelangte zu folgendem Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:


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Lfd. Nr.
Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden: Begründung der Rahmensätze:
Pos.Nr.
GdB %
1
Lernbehinderung mit Sprachentwicklungsstörung bei generalisierter kognitiver Schwäche und Dyskalkulie.
Unterer Rahmensatz, da Schulbesuch mit ASO-Lehrplan möglich, ohne motorische Defizite
50

Der Grad der Behinderung wurde wie im Vorgutachten mit 50 % ab 01/2018 festgestellt.

In der aufgrund dieses Sachverständigengutachtens erstellten Bescheinigung wurde zur Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung ergänzend ausgeführt:

Erstdiagnose der Lernbehinderung im Jänner 2018. In den Jahren davor wie z.B. im Jahr 2013 konnte keine erhöhte Familienbeihilfe gewährt werden, da sich anamnestisch anhand der vorgelegten Befunde und Arztbriefe keine Lernbehinderung bei generalisierter kognitiver Schwäche oder eine umschriebene kombinierte Entwicklungsverzögerung gezeigt hat.

Im dritten ärztlichen Sachverständigengutachten des Sozialministeriumservice vom (Aktengutachten durch Dr. ***Z***, Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde) wurde auszugsweise festgestellt:

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
Neuerliches aktenmäßiges Gutachten wegen Beschwerde gegen das Vorgutachten von , Dg: Lernbehinderung mit Sprachentwicklungsstörung bei generalisierter kognitiver Schwäche und Dyskalkulie, GdB 50 %, rückwirkend ab 1/2018 (Zeitpunkt einer neuerlichen psychologischen Diagnostik mit dem Ergebnis eines deutlich unter dem Normbereich liegenden kognitiven Potentials und einer Lernbehinderung). Lt. Vorgutachten besucht
***K***, derzeit 10 1/2 Jahre alt, die Volksschule als Integrationsschülerin mit ALSO-Lehrplan in allen Unterrichtsgegenständen. Lt. Unterlagen bestand im Kindergartenalter eine Sprachentwicklungsstörung (lt. Befund von 3/2013 weiters milde Verhaltensauffälligkeiten und Verd. auf Wahrnehmungsproblematik), weshalb sie im Amb. ***A*** logopädisch behandelt wurde.
Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Niederösterreich Ärztliches Sachverständigengutachten, Dg: Lernbehinderung, Stimmungsschwankungen, Enuresis nocturna, GdB 50 %, rückwirkend ab 1/2018
Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Niederösterreich Ärztliches Sachverständigengutachten, Dg: Lernbehinderung mit Sprachentwicklungsstörung bei generalisierter kognitiver Schwäche und Dyskalkulie, GdB 50 %, rückwirkend ab 1/2018 analog zum Vorgutachten.
NB: zusätzliche relevante Befunde wurden nicht vorgelegt


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Lfd. Nr.
Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden: Begründung der Rahmensätze:
Pos.Nr.
GdB %
1
Lernbehinderung mit Sprachentwicklungsstörurıg bei generalisierter kognitiver Schwäche und Dyskalkulie
Wahl dieser Position, da sonderpädagogischer Förderbedarf bestehend, unterer Rahmensatz, da keine zusätzlichen motorischen Defizite vorliegend
50

Stellungnahme zu Vorgutachten:
Keine Änderung zu den Vorgutachten von 4/2018 und 8/2018 bezüglich des Grades der Behinderung von 50%, rückwirkend ab 1/2018; ab 3/2013 (Befund Amb.
***A***) ist aufgrund der vorliegenden Befunde die Einschätzung eines Grades der Behinderung von 30% möglich.

Beweiswürdigung

Der unstrittige Sachverhalt ergibt sich aus den zitierten Aktenteilen, dem Vorbringen der Beschwerdeführerin und den Eintragungen in der Beihilfendatenbank.

Zu klären ist im vorliegenden Fall nach der unten dargestellten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Frage, ob die Gutachten des Sozialministeriumservice schlüssig sind.

Rechtliche Beurteilung

Zu Spruchpunkt I. (Abweisung)

Gemäß § 8 Abs. 1 FLAG 1967 bestimmt sich der einer Person zustehende Betrag an Familienbeihilfe nach der Anzahl und dem Alter der Kinder, für die ihr Familienbeihilfe gewährt wird.

Die Familienbeihilfe erhöht sich gemäß § 8 Abs. 4 FLAG 1967 monatlich für jedes Kind, das erheblich behindert ist, um den dort angeführten Betrag (Erhöhungsbetrag).

Als erheblich behindert gilt ein Kind, bei dem eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung besteht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von voraussichtlich mehr als drei Jahren. Der Grad der Behinderung muß mindestens 50 vH betragen, soweit es sich nicht um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Für die Einschätzung des Grades der Behinderung sind § 14 Abs. 3 des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, in der jeweils geltenden Fassung, und die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung) vom , BGBl. II Nr. 261/2010, in der jeweils geltenden Fassung anzuwenden. Die erhebliche Behinderung ist spätestens nach fünf Jahren neu festzustellen, soweit nicht Art und Umfang eine Änderung ausschließen (§ 8 Abs. 5 FLAG 1967).

Der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, ist durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen. Die diesbezüglichen Kosten sind aus Mitteln des Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen zu ersetzen (§ 8 Abs. 6 FLAG 1967).

Die Einschätzungsverordnung trifft in ihrer Anlage unter Punkt 03.02. folgende Regelungen betreffend Entwicklungseinschränkungen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr:

Erfasst werden umschriebene Entwicklungseinschränkungen des Sprechens und der Sprache, des Kommunikationsvermögens, schulische Fertigkeiten, motorische Funktionen sowie kombinierte umschriebene Entwicklungseinschränkungen und typische Begleiterscheinungen wie emotionale Störungen, Störungen des Sozialverhaltens, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätsstörung).

Entwicklungsstörungen leichten Grades; 10 - 40 %
10 - 20 %:
Ohne wesentliche soziale Beeinträchtigung, (Familie, Schule, Beziehung zu Gleichaltrigen und Erwachsenen außerhalb der Familie & Schule)
Kein zusätzlicher Unterstützungsbedarf beim Lernen

30 - 40 %:
Leichte bis mäßige soziale Beeinträchtigung in ein bis zwei Bereichen, beispielsweise Schulausbildung und alltägliche Tätigkeiten, Freizeitaktivitäten
in Teilbereichen Unterstützungsbedarf beim Lernen

Entwicklungsstörungen mittleren Grades; 50 - 80 %

Ernsthafte und durchgängige soziale Beeinträchtigung in 1 bis 2 Bereichen
Globaler Unterstützungsbedarf beim Lernen
Kombinierte umschriebene Entwicklungsstörung

50 -60%: alleinige kognitive Beeinträchtigung

70 -80%: Zusätzliche motorische Defizite

Entwicklungsstörungen schweren Grades; 90 - 100 %

Schwere und durchgängige soziale Beeinträchtigung, schwer eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit, Tiefgreifende Entwicklungsstörung, desintegrative Störung

Die Familienbeihilfe und die erhöhte Familienbeihilfe für ein erheblich behindertes Kind werden höchstens für fünf Jahre rückwirkend vom Beginn des Monats der Antragstellung gewährt (§ 10 Abs. 3 FLAG 1967).

Aus der ständigen Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (; z.B. ) folgt, dass die Abgabenbehörde und das Bundesfinanzgericht an die der Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen zugrundeliegenden Gutachten gebunden sind und diese nur insoweit prüfen dürfen, ob sie schlüssig und vollständig sind und im Falle mehrerer Gutachten nicht einander widersprechen (siehe auch ; und 2009/16/0310, mwN sowie Lenneis/Wanke, FLAG², § 8 Tz 29).

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Entwicklungsstörungen im Sinne des Punktes 03.02 der Anlage zur Einschätzungsverordnung unterschiedlich schwer ausgebildet sein können, je nach Ursache unterschiedlichste Defizite und Symptome zeigen und vor allem immer auch im Zusammenhang mit dem Alter des Kindes stehen. Das Ausmaß der Defizite (Symptome) hängt demzufolge nicht nur von der Ursache der Erkrankung ab, sondern auch von anderen Faktoren (therapeutische Interventionen, soziales Lebensumfeld, Fördermaßnahmen; vgl. dazu etwa ). Wird daher zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgrund der aktuell ermittelten Entwicklungsstörungen ein bestimmter Grad der Behinderung festgestellt, bedeutet dies nicht, dass allein deswegen, weil die Erkrankung bereits seit Jahren besteht, das selbe Ausmaß der Entwicklungsstörung und damit derselbe Grad der Behinderung ebenfalls bereits seit Jahren vorlägen.

Die Beschwerdeführerin bezieht sich dazu im Vorlageantrag auf den psychologischen Befund der Mag. ***P*** vom . Dieser Befund wurde bereits in den ärztlichen Gutachten des Sozialministeriumservice ausreichend berücksichtigt, sodass eine neuerliche Einholung eines solchen Gutachtens nicht geboten war (vgl. dazu Lenneis/Wanke, FLAG², § 8 Tz 29 mit Hinweis auf ).

Bei der rückwirkenden Einschätzung des Behinderungsgrades von 50 % ab Jänner 2018 stützte sich das Sozialministeriumservice auf den psychologischen Befund der Mag. ***S*** vom . Darin wurde bei der Feststellung der kognitiven Leistungsfähigkeit des Kindes erhoben, dass sein kognitives Potenzial insgesamt und auch das Schulleistungspotenzial nunmehr deutlich unter dem Normbereich gelegen wären. In früher erhobenen Entwicklungsstandabklärungen (Ambulatorium ***A*** 2013, Befund der Mag. ***P*** aus 2015) sei das Kind dagegen nur als leicht entwicklungsverzögert beschrieben worden. Diese Feststellung steht auch im Einklang mit den oben zitierten Untersuchungsergebnissen hinsichtlich der kognitiven Leistungsfähigkeit des Kindes im psychologischen Befund der Mag. ***P*** vom . Aus diesem Befund kann daher entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin gerade nicht abgeleitet werden, dass auch bereits zu diesem Zeitpunkt eine Entwicklungsverzögerung vorgelegen wäre, die unter Punkt der Anlage zur Einschätzungsverordnung einzureihen gewesen wäre und damit einen Grad der Behinderung von 50 % begründet hätte.

Insgesamt gesehen ist es daher nicht unschlüssig, wenn das Sozialministeriumservice einen Grad der Behinderung von 50 % erst ab Jänner 2018 festgestellt und für die Zeiträume davor einen solchen von nur 30 % angenommen hat. Auch die in der Bescheinigung vom dazu angeführte Begründung, dass sich für die Jahre vor 2018 "anamnestisch anhand der vorgelegten Befunde und Arztbriefe keine Lernbehinderung bei generalisierter kognitiver Schwäche oder eine umschriebene kombinierte Entwicklungsverzögerung gezeigt hat", ist schlüssig und steht im Einklang mit den zitierten Befunden.

Bei dieser Sachlage war das Finanzamt an die Bescheinigungen des Sozialministeriumservice gebunden und wurde daher der Erhöhungsbetrag zur Familienbeihilfe zu Recht erst ab Jänner 2018 gewährt. Für den verfahrensgegenständlichen Zeitraum von Mai 2013 bis Dezember 2017 wurde der Anspruch dagegen zutreffend verneint, weshalb spruchgemäß zu entscheiden war.

Zu Spruchpunkt II. (Revision)

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird. Eine solche Rechtsfrage war im gegenständlichen Fall nicht zu klären. Die Bindungswirkung schlüssiger Gutachten des Sozialministeriumservice entspricht der aufgezeigten ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes. Der Frage, ob in einem konkreten Einzelfall die vorliegenden Gutachten schlüssig sind, kommt keine über diesen Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu.

Linz, am

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Materie
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FLAG
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ECLI
ECLI:AT:BFG:2021:RV.5101241.2019

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