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Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 28.04.2021, RV/1100390/2020

Rückwirkende Berücksichtigung von behinderungsbedingten außergewöhnlichen Belastungen (Freibetrag gemäß § 35 EStG 1988 sowie Verpflegungsmehraufwand nach § 2 Abs. 1 der Verordnung über außergewöhnliche Belastungen)

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter Dr. Peter Steurer in der Beschwerdesache ***Bf***, ***Bf-Adr***, vertreten durch Dr. ***G***, gegen den Bescheid des Finanzamtes Bregenz (nunmehr: Finanzamt Österreich) vom betreffend Einkommensteuer (Arbeitnehmerveranlagung) 2018 zu Recht erkannt:

Der Beschwerde wird gemäß § 279 BAO teilweise Folge gegeben.

Die Bemessungsgrundlage und die Höhe der festgesetzten Abgabe sind dem als Beilage angeschlossenen Berechnungsblatt zu entnehmen und bilden einen Bestandteil des Spruches dieses Erkenntnisses.

Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1. Die Beschwerdeführerin bezieht eine Rente von der Deutschen Rentenversicherung Bund und eine Invalidenrente aus der Schweiz. In der Erklärung zur Arbeitnehmerveranlagung 2018 machte sie Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von 6.514,82 € als Werbungskosten geltend. Weiters gab sie einen Grad der Behinderung von 78% an.

2. Im Einkommensteuerbescheid 2018 vom wurden die ausländischen Renten erklärungsgemäß in Ansatz gebracht und die Krankenversicherungsbeiträge antragsgemäß als Werbungskosten berücksichtigt. Weiters wurde ein Freibetrag wegen eigener Behinderung gemäß § 35 Abs. 3 EStG 1988 in Höhe von 435,00 € in Abzug gebracht.

3. Mit Bescheid vom hob das Finanzamt den Einkommensteuerbescheid 2018 gemäß § 299 BAO auf. Im gleichzeitig erlassenen neuen Einkommensteuerbescheid 2018 behandelte das Finanzamt die Schweizer Invalidenrente in Höhe von 14.090,36 € als in Österreich steuerpflichtig und berücksichtigte die deutsche Rente im Wege des Progressionsvorbehaltes. Die Krankenversicherungsbeiträge wurden unter Verweis auf die gebotene Gleichbehandlung mit inländischen Rentenbeziehern nur mehr im Ausmaß von 5,1% der Bemessungsgrundlage als Werbungskosten berücksichtigt. Der Freibetrag wegen eigener Behinderung gemäß § 35 Abs. 3 EStG 1988 fand mit der Begründung, es liege kein Nachweis über eine Behinderung vor, keine Berücksichtigung mehr.

4. Gegen den geänderten Einkommensteuerbescheid 2018 erhob der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde. Tatsächlich sei dem Finanzamt aufgrund des Rentenbescheides der Deutschen Rentenversicherung Bund vom und der Verfügung der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen vom bereits seit langem bekannt, dass die Beschwerdeführerin einen Invaliditätsgrad von 78% aufweise und hätte daher der entsprechende Behindertenfreibetrag gemäß § 35 Abs. 3 EStG 1988 berücksichtigt werden müssen. Soweit der Standpunk vertreten werden sollte, dass eine inländische Stelle den Grad der Behinderung zu bescheinigen hätte, wäre eine solche Auslegung gemeinschaftsrechtswidrig. Zudem wäre die belangte Behörde verpflichtet gewesen, die Beschwerdeführerin aufzufordern, die durch die ausländischen Behörden festgestellten Invaliditätsgrade von der nach § 35 Abs. 2 EStG 1988 zuständigen Stelle bestätigen zu lassen. Es werde daher beantragt, einen Invaliditätsgrad von 78% anzuerkennen und die Einkommensteuer auf 0,00 € herabzusetzen.

5. Mit Beschwerdevorentscheidung wies das Finanzamt die Beschwerde als unbegründet ab, da keine der in § 35 Abs. 2 EStG 1988 angeführten Stellen eine Behinderung bescheinigt habe.

6. Mit Vorlageantrag vom beantragte der Rechtsvertreter die Entscheidung über die Beschwerde durch das Bundesfinanzgericht.

7. Am übermittelte das Finanzamt ein vom Rechtsvertreter mit Schreiben vom vorgelegtes Sachverständigengutachten des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumservice) samt Begleitschreiben und wies darauf hin, dass die entsprechenden Behindertenfreibeträge somit zustünden.

8. Auf Vorhalt des Bundesfinanzgerichtes teilte der Rechtsvertreter unter Anschluss entsprechender Beilagen ua. mit, dass bereits im Jahr 2015 eine gültige Versicherung nach dem Krankenversicherungsgesetz (KVG) bei der X AG bestanden habe und im Jahr 2016 ein Krankenversicherungsvertrag bei der Y Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung AG abgeschlossen worden sei. Weiters wurde eine Ablichtung des im Februar 2019 ausgestellten Behindertenpasses vorgelegt.

9. Das Finanzamt teilte dazu am mit, dass im Hinblick auf die vorgelegten Unterlagen keine Bedenken gegen eine Berücksichtigung der an die X AG geleisteten Krankenversicherungsbeiträge als Sonderausgaben bestünden.

II. Sachverhalt

Der Beschwerdeführerin wurde im Februar 2019 ein unbefristeter, ab gültiger Behindertenpass ausgestellt, in welchem der Grad der Behinderung mit 50% angegeben ist. Der Feststellung des Grades der Behinderung liegt ein medizinisches Sachverständigengutachten des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumservice) vom zugrunde. In diesem wurde aufgrund der unter der führenden Positionsnummer () bezeichneten Funktionseinschränkungen ["Zustand nach Subarachnoidalblutung bei Aneurysma der A. cerebri media rechts 2012, Zustand nach vasospastischem Media- und Anterior-Infarkt rechts 2012 nach Clipping, Zustand nach Hemicraniektomie und Shuntanlage bei Hydrozephalus (diskretes persistierendes motorisches Hemisyndrom links, Defizite in Konzentration, Merkfähigkeit und Aufmerksamkeit, sicheres und hilfsmittelfreies Gangbild)"] ein Grad der Behinderung von 40% festgestellt. Weiters wurde wegen einer chronischen Niereninsuffizienz (Pos.-Nr. ) ein Grad der Behinderung von 30% und aufgrund des Zustandes nach einem Grand-Mal-Anfall 2016 (Pos.-Nr. ) sowie einer arteriellen Hypertonie (Pos.-Nr. ) jeweils ein Grad der Behinderung von 20% attestiert. Die Einstufung mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 50% erfolgte aufgrund der festgestellten ungünstigen wechselseitigen Beeinflussung der angeführten Leiden. Hinsichtlich der Nierenkrankheit wurde das Vorliegen einer Gesundheitsschädigung mit dem Erfordernis einer Krankendiätverpflegung bestätigt.

III. Rechtliche Beurteilung

Wie in dem über die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen den Einkommensteuerbescheid 2019 absprechenden Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes vom , RV/1100251/2020, näher dargelegt, ist nach § 35 EStG 1988 im Falle einer Behinderung, sofern nicht die tatsächlichen Kosten geltend gemacht werden, ein vom Grad der Behinderung abhängiger Freibetrag als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen. Gemäß § 35 Abs. 3 EStG 1988 in der im Streitjahr geltenden Fassung beträgt dieser Freibetrag bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 45% bis 54% jährlich 243,00 €. Weiters können neben dem Freibetrag nach § 35 Abs. 3 EStG 1988 und ohne Anrechnung auf pflegebedingte Geldleistungen ua. die in § 2 der Verordnung des Bundesministers für Finanzen über außergewöhnliche Belastungen, BGBl. Nr. 303/1996 idF BGBl. II Nr. 430/2010, angeführten pauschalen Mehraufwendungen wegen einer Krankendiätverpflegung bei einer der dort genannten Krankheiten (im Falle einer Gallen-, Leber- oder Nierenkrankheit 51,00 € pro Kalendermonat) berücksichtigt werden.

Gemäß § 35 Abs. 2 erster Satz EStG 1988 bestimmt sich die Höhe des Freibetrages nach dem Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung). Nach § 35 Abs. 2 dritter Satz EStG 1988 sind die Tatsache der Behinderung und das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung) durch eine amtliche Bescheinigung der für diese Feststellung zuständigen Stelle nachzuweisen. Zuständige Stelle ist - abgesehen von im Beschwerdefall nicht relevanten Fällen - das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen. Dieses hat den Grad der Behinderung durch Ausstellung eines Behindertenpasses nach §§ 40 ff des Bundesbehindertengesetzes bzw. im negativen Fall durch einen in Vollziehung dieser Bestimmungen ergehenden Bescheid zu bescheinigen.

Nach § 1 der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung, BGBl. II Nr. 261/2010 idF BGBl. II Nr. 251/2012 (Einschätzungsverordnung), ist unter Behinderung im Sinne dieser Verordnung die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, insbesondere am allgemeinen Erwerbsleben, zu erschweren.

Der Grad der Behinderung wird gemäß § 2 Abs. 1 zweiter Satz der Einschätzungsverordnung nach Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigung in festen Sätzen oder Rahmensätzen in der Anlage der Verordnung festgelegt. Die Grundlage für die Einschätzung des Grades der Behinderung bildet gemäß § 4 Abs. 1 der Einschätzungsverordnung die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen im körperlichen, geistigen, psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung in Form eines ärztlichen Sachverständigengutachtens.

Der Gesamtgrad der Behinderung der Beschwerdeführerin ist im Behindertenpass vom mit 50% ausgewiesen, der durch eine Nierenerkrankung bedingte Grad der Behinderung wurde im Gutachten des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen mit 30% festgestellt. Der Behindertenpass ist ab dem gültig und standen der Beschwerdeführerin, wie in dem über die Beschwerde gegen den Einkommensteuerbescheid 2019 absprechenden Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes vom , RV/1100251/2020, ausgeführt, daher der gemäß § 35 Abs. 3 EStG 1988 bei einem zwischen 45% und 54% liegenden Grad der Behinderung vorgesehene Freibetrag sowie die pauschalen Mehraufwendungen für eine Krankendiätverpflegung bei einer Nierenkrankheit gemäß § 2 Abs. 1 der Verordnung über außergewöhnliche Belastungen ab diesem Zeitpunkt zu. Für davorliegende Zeiträume kommt dem Behindertenpass grundsätzlich keine steuerlich beachtliche Beweiskraft zu. Nur wenn die Behinderung Folge eines Ereignisses (Unfall, Operation, Spitalsaufenthalt) ist, gilt der festgestellte Grad der Behinderung auch für steuerliche Zwecke rückwirkend bis zum Zeitpunkt des Ereignisses, wenn das Bundesamt die Behinderung rückwirkend festgestellt hat (Jakom/Payerl, EStG, 2020, § 35 Rz 11, mwN; ebenso , und , mwN).

Aus dem Sachverständigengutachten vom geht hervor, dass der unter der führenden Positionsnummer beschriebene Zustand durch eine am 5. bzw. eingetretene Subarachnoidalblutung und einen am erlittenen Hirninfarkt bedingt ist. Hinsichtlich der Niereninsuffizienz wird auf ein Schreiben des Landeskrankenhauses Hohenems vom Bezug genommen. Damit kann nach Überzeugung des Bundesfinanzgerichtes ohne Bedenken davon ausgegangen werden, dass die im Sachverständigengutachten angeführten und dem am ausgestellten Behindertenpass zugrunde gelegten Funktionsbeschränkungen auch im Jahr 2018 bereits bestanden.

Infolgedessen waren im Streitjahr, nachdem aus der Behinderung resultierende tatsächliche Kosten nicht geltend gemacht wurden, der gemäß § 35 Abs. 3 EStG 1988 bei einem zwischen 45% und 54% liegenden Grad der Behinderung zustehende Freibetrag von 243,00 € sowie der bei einer Nierenkrankheit nach § 2 Abs. 1 der Verordnung über außergewöhnliche Belastungen vorgesehene Pauschalsatz für eine Krankendiätverpflegung in Höhe von 51,00 € monatlich, ds. 612,00 € jährlich zu berücksichtigen.

Die beantragte Berücksichtigung des in der Verfügung der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen ausgewiesenen Invaliditätsgrades von 78% oder auch einer vollen Erwerbsminderung, wie sie aus dem deutschen Rentenbescheid hervorgeht, kommt nicht in Betracht, sieht das Gesetz hinsichtlich der zuständigen Stelle, von der das Ausmaß der Behinderung zu bescheinigen ist, doch eine bindende Regelung vor, wobei in der angeführten Verordnung im Einzelnen festgelegt ist, wie der Grad der Behinderung zu ermitteln ist.

Nach den schweizerischen Bestimmungen wird der Invaliditätsgrad demgegenüber wie auch in der vorgelegten Verfügung ersichtlich, durch einen Vergleich des aufgrund der Behinderung in einer zumutbaren Tätigkeit erzielbaren Erwerbseinkommens mit jenem Einkommen, das bei voller Gesundheit erzielt werden könnte, ermittelt. Der Invaliditätsgrad entspricht dabei der eingetretenen Erwerbseinbuße (Einkommensverlust). In Deutschland haben Versicherte nach § 43 Abs. 2 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze unter den dort angeführten Voraussetzungen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Eine Vergleichbarkeit mit dem nach den inländischen Bestimmungen festgestellten Grad der Behinderung ist damit nicht gegeben. Inwieweit diesbezüglich eine im Übrigen in keiner Weise konkretisierte Gemeinschaftsrechtswidrigkeit vorliegen sollte, ist daher nicht erkennbar.

Wie bereits im Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes vom , RV/1100251/2020, betreffend Einkommensteuer 2019 dem Grunde nach dargelegt, sind die im Streitjahr an die X AG geleisteten Krankenversicherungsbeiträge (1.927,02 €) mit einem Viertel (481,76 €) als Sonderausgaben zu berücksichtigen.

Gesamthaft gesehen war der Beschwerde somit teilweise Folge zu geben. Hinsichtlich der Krankenversicherungsbeiträge war der angefochtene Bescheid zugunsten der Beschwerdeführerin abzuändern.

IV. Revision

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die im Beschwerdefall strittige Berücksichtigung von außergewöhnlichen Belastungen im Zusammenhang mit einer bereits vor der Gültigkeit des ausgestellten Behindertenpasses bestandenen Behinderung gründet auf nicht über den Einzelfall hinaus bedeutsamen Sachverhaltsfeststellungen, wobei sich die Rechtsfolgen unmittelbar aus dem Gesetz bzw. der Verordnung über außergewöhnliche Belastungen ergeben. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Artikel 133 Abs. 4 B-VG wird durch das vorliegende Erkenntnis somit nicht berührt und ist eine (ordentliche) Revision daher nicht zulässig.

Feldkirch, am

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