Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 02.03.2021, RV/7100302/2021

Geltendmachung von Familienbeihilfe für vergangene Zeiträume durch den Kinder- und Jugendhilfeträger Wien

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch die Richterin***Ri*** in der Beschwerdesache ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, vertreten durch Magistrat der Stadt Wien Wiener Kinder- und Jugendhilfe, Karl-Borromäus-Platz 3, 1030 Wien, über die Beschwerde vom gegen den Bescheid des Finanzamtes Wien 2/20/21/22 (nunmehr Finanzamtes Österreich ) vom betreffend Abweisung des Antrages auf Familienbeihilfe für 01/2016 bis 06/2020 zu Recht erkannt:

Der Beschwerde wird gemäß § 279 BAO Folge gegeben.
Der angefochtene Bescheid wird - ersatzlos - aufgehoben.

Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig

Entscheidungsgründe

Mit Schriftsatz vom , beim Finanzamt eingelangt am , beantragte die minderjährige Beschwerdeführerin (kurz: Bf), vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien Kinder- und Jugendhilfe, Rechtsvertretung Bezirke 3, 11, die Zuerkennung der Familienbeihilfe gemäß § 6 Abs. 5 FLAG 1967 ab Jänner 2016; für den Fall, dass einem Elternteil bislang die Familienbeihilfe ausbezahlt wurde und diesem Elternteil die Familienbeihilfe auch nicht rückwirkend aberkannt wird, gilt der vorliegende Antrag für künftige Zeiträume ab Antragstellung. Begründet wurde dieser Antrag wie folgt:
Nach der Entscheidung des , falle die - auch rückwirkende - Antragstellung auf Zuerkennung der Familienbeihilfe nach § 6 Abs. 5 FLAG 1967 in den Obsorgebereich der Pflege und Erziehung. Das antragstellende Kind befinde sich seit in einer sozialpädagogischen Einrichtung im Rahmen der vollen Erziehung. Der Stadt Wien entstünden dadurch Kosten von mindestens 80,00 Euro täglich. Das antragstellende Kind habe folgendes Einkommen: Unterhalt werde zum Kostenersatz herangezogen. Von den Eltern des Kindes würden seit Antragsbegehren übergegangene Unterhalts- bzw Kostenersatzbeträge einlangen.
Dem Antrag wurde beigelegt: Unterhalts- bzw Kostenersatztitel, Übergangsanzeigen, Auflistung der eingelangten Unterhalts- bzw Kostenersatzbeträge.

Am langte eine Kopie des Obsorgebeschlusses beim Finanzamt ein.

Mit Bescheid vom wurde dieser Antrag für die Monate Jänner 2016 bis abgewiesen, da kein Nachweis über die Übertragung der Obsorge im Bereich der Vermögensverwaltung vorgelegt worden sei.

Die Bf brachte daraufhin durch den Magistrat der Stadt Wien Kinder- und Jugendhilfe Rechtsvertretung Bezirke 3, 11, fristgerecht Beschwerde ein und wies nochmals auf das Erkenntnis des , hin.

Mit Beschwerdevorentscheidung vom erfolgte die Abweisung der Beschwerde und eine gleichzeitige Abänderung des Spruches dahingehend, dass der Antrag auf Familienbeihilfe vom für den Zeitraum Jänner 2016 bis Juni 2020 zurückgewiesen wird. Begründend wurde Folgendes ausgeführt:

Gemäß der Entscheidung des , sei die Geltendmachung eines Familienbeihilfenanspruches dem Bereich der Geltendmachung von unterhaltsrechtlichen Ansprüchen zuzuordnen. Dies ergebe sich (nach Rechtsansicht der Fachabteilung für Familienbeihilfe) auch aus den primären Zielsetzungen des FLAG 1967 gemäß welcher Unterhaltskosten, die durch die Betreuung und Versorgung von Kindern entstünden, ausgeglichen und der Mindestunterhalt des Kindes sichergestellt werden sollte.
In Fällen einer Fremdunterbringung im Rahmen der vollen Erziehung (Kinderschutzmaßnahme) verfüge der Kinder- und Jugendhilfeträger über die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung.
Entsprechend der vorliegenden Entscheidung des OGH und nach Rechtsansicht des Justizressorts sowie des BKA falle die Geltendmachung von Familienbeihilfenbeträgen für vergangene Zeiträume nicht in den Bereich der Pflege und Erziehung, da sich diese nicht auf aktuelle Lebensbedürfnisse beziehe. Vielmehr würde dies die Geltendmachung von Vermögensbestandteilen bedeuten, die durch die einmalige rückwirkende Auszahlung zu einem Ertrag und Bildung von Stammvermögen des Kindes führen würden.
Nach Rechtsansicht des Justizressorts seien Kinder- und Jugendhilfeträger, welche nur über eine Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung verfügen würden, nicht legitimiert, einen rückwirkenden Antrag auf Familienbeihilfe für vergangene Zeiträume zu stellen. Für die Antragstellung und Geltendmachung der Familienbeihilfe durch den Kinder- und Jugendhilfeträger für vergangene Zeiträume müsste somit auch eine Obsorgeübertragung auf den Kinder- und Jugendhilfeträger im Bereich der Vermögensverwaltung vorhanden sein.

Mit Schriftsatz vom wurde ein Vorlageantrag gestellt und ergänzend Folgendes ausgeführt:

Mit Mitteilung vom sei neben dem Abweisungsbescheid die Bekanntgabe erfolgt, dass die Familienbeihilfe ab Juli 2020 gewährt werde. Es liege daher offenbar kein materieller Grund für den Abweisungsbescheid vor, sondern gehe davon aus, dass der Kinder- und Jugendhilfeträger nicht befugt sei, die Bf zu vertreten. Dazu werde auf die Entscheidungen des , und 6 Ob 50/20a, und auf die Entscheidung des , verwiesen. Im Zusammenwirken dieser drei Erkenntnisse ergebe sich eindeutig, dass die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung ausreiche, um das Kind im Verfahren auf Zuerkennung der Familienbeihilfe zu vertreten, unabhängig davon, ob der Antrag nur die Zuerkennung der Familienbeihilfe ab Antragstellung oder auch für rückwirkende Zeiträume anstrebe. Der Kinder- und Jugendhilfeträger Wien sei im vorliegenden Fall mit der Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung betreffend die Bf betraut, was auch vom Finanzamt nicht bezweifelt werde. Dies legitimiere den Kinder - und Jugendhilfeträger entsprechend der genannten Rechtsprechung des OGH zur Antragstellung auf Familienbeihilfe sowohl für laufende als auch für rückwirkende Zeiträume.
Gerade bei der Antragstellung auf Familienbeihilfe nach § 6 Abs. 5 FLAG 1967 sei es geradezu typisch, dass nicht nur die Familienbeihilfe ab Antragstellung begehrt werde, sondern auch für einen gewissen rückwirkenden Zeitraum. Bei Übernahme des Kindes in volle Erziehung müssten nämlich die anspruchsbegründenden Umstände vor einer Antragstellung auf Gewährung der Familienbeihilfe erst abgeklärt werden. Dafür müssten etwa Nachweise über allfälliges Eigeneinkommen des Kindes beschafft werden oder es müsse erst abgewartet werden, ob die Eltern ihre Unterhaltsverpflichtungen halbwegs regelmäßig erfüllen würden, damit der anspruchsbegründende Tatbestand erfüllt sei, dass sich das Kind nicht zur Gänze auf Kosten des Kinder- und Jugendhilfeträgers in voller Erziehung befinde. In einer solchen Situation hinsichtlich der Vertretungsbefugnis danach zu differenzieren, ob der Antrag nur laufende Perioden ab Antragstellung oder in gewissem Umfang auch rückwirkende Perioden betreffe, stehe einerseits nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des OGH und stehe andererseits damit einer raschen Abwicklung ohne zwingenden Grund entgegen.

Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

Außer in den Fällen des § 278 hat das Verwaltungsgericht gemäß § 279 BAO immer in der Sache selbst mit Erkenntnis zu entscheiden. Es ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung seine Anschauung an die Stelle jener der Abgabenbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern, aufzuheben oder die Bescheidbeschwerde als unbegründet abzuweisen.

Eine Aufhebung hat beispielsweise zu erfolgen, wenn ein verfahrensrechtlicher Bescheid (zB Zurückweisung eines Antrages, Zurücknahmebescheid gemäß § 85 Abs. 2 BAO) zu Unrecht erlassen wurde. (Vgl. Ritz, BAO6, § 279 Rz 6, ).

Im gegenständlichen Fall wurde über den Antrag vom , beim Finanzamt eingelangt am , auf Zuerkennung der Familienbeihilfe ab Jänner 2016 für den Zeitraum Jänner 2016 bis Juni 2020 ausschließlich deshalb abschlägig entschieden (laut Bescheid vom : Abweisung, laut Beschwerdevorentscheidung vom : abgeändert in zurückgewiesen), weil der Magistrat der Stadt Wien Kinder- und Jugendhilfe Rechtsvertretung Bezirke 3, 11 mangels Vorliegen einer Obsorgeübertragung im Bereich der Vermögensverwaltung als nicht vertretungsbefugt angesehen wurde. Die Begründung des angefochtenen Bescheides und die Beschwerdevorentscheidung lassen erkennen, dass das Wort "Abweisungsbescheid" und "abzuweisen" als ein Vergreifen im Ausdruck zu werten ist. Es handelt sich bei dem angefochtenen Bescheid um eine Zurückweisung eines Antrages wegen mangelnder Aktivlegitimation.

Tatsächlich wurde mit Beschluss des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung für die Bf von den Eltern an den Jugendwohlfahrtträger übertragen. Eine Obsorgeübertragung im Bereich der Vermögensverwaltung erfolgte nicht. Dieser Sachverhalt ist als unstrittig anzusehen.

Zu klären ist, ob dem Magistrat der Stadt Wien Kinder- und Jugendhilfe Rechtsvertretung Bezirke 3, 11 die Vertretungsbefugnis gegenüber der Bf bei Stellung des gegenständlichen Antrags auf Zuerkennung der Familienbeihilfe zukam oder nicht:

Laut , hat der OGH bereits klargestellt, dass die Unterhaltsleistungen der Eltern regelmäßig der Erbringung bzw Finanzierung jener Obsorgemaßnahmen dienen, die der Pflege und Erziehung zuzuordnen sind. Dementsprechend betrifft die Geltendmachung von Unterhalt den Bereich der Pflege und Erziehung und nicht jenen der Vermögensverwaltung. Die gesetzliche Vertretung in Unterhaltssachen steht damit grundsätzlich demjenigen zu, dem die Pflege und Erziehung zukommt bzw übertragen wurde. Zweck der Familienbeihilfe ist, die Pflege und Erziehung des Kindes (als Zuschuss) zu erleichtern und die mit dessen Betreuung verbundenen Mehrbelastungen - zumindest zum Teil - auszugleichen. Gerade diesem Zweck dient aber auch der Unterhaltsbeitrag, den der geldunterhaltspflichtige Elternteil gemäß § 231 ABGB zu leisten hat, womit nicht ersichtlich ist, weshalb zwar Geltendmachung und Empfangnahme von Kindesunterhalt zum Obsorgeteilbereich Pflege und Erziehung gehören sollen, nicht aber Geltendmachung und Empfangnahme von dem Kind zustehenden Familienbeihilfenleistungen.

In der Entscheidung des 6 Ob50/20a, ist der OGH der Rechtsauffassung des dortigen Revisionsrekurswerbers, für den rückwirkenden Teil des Unterhaltsbemessungsantrages sei die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung nicht ausreichend, sondern sei dafür die Obsorge im Bereich der Vermögensverwaltung erforderlich, entgegen getreten und hat ausdrücklich ausgesprochen, dass auch für den rückwirkenden Teil des Unterhaltsbegehrens die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung die entsprechende Grundlage bietet.

Das Bundesfinanzgericht kommt daher zu dem Ergebnis, dass die im gegenständlichen Fall dem Magistrat der Stadt Wien Kinder- und Jugendhilfe mit Beschluss des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom übertragene Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung für die Vertretung des Bf zur Beantragung der Familienbeihilfe ausreicht und zwar auch für den rückwirkend ab Jänner 2016 geltend gemachten Teil des Familienbeihilfeanspruchs. (Vgl. ).

Die Vertretungsbefugnis des Magistrates der Stadt Wien Kinder- und Jugendhilfe Rechtsvertretung 16, 17, 18, 19, ist damit zu bejahen. Die Aktivlegitimation des Einschreiters ist gegeben.

Es ist somit spruchgemäß zu entscheiden.

Revision:

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird. (Art 133 Abs 4 B-VG)

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden auf Grund der zitierten höchstgerichtlichen Entscheidungen zu beurteilenden Fall nicht gegeben. Eine Revision wird daher nicht zugelassen.

Salzburg, am

Zusatzinformationen


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Materie
Steuer
betroffene Normen
§ 279 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
ECLI
ECLI:AT:BFG:2021:RV.7100302.2021

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at