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Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 25.01.2021, RV/5100886/2020

Unzulässige Wiederaufnahme mangels Begründung

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch die Richterin Mag. Susanne Haim in der Beschwerdesache ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, vertreten durch BKS Steuerberatung GmbH & Co KG, Untere Hauptstr 10, 3150 Wilhelmsburg an der Traisen, über die Beschwerde vom gegen die Bescheide des Finanzamtes Österreich vom und vom betreffend 1) Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich Einkommensteuer (Arbeitnehmerveranlagung) 2014, 2015 und 2013 und 2) Einkommensteuer 2013 bis 2015 zu Steuernummer ***BF1StNr1***

1) zu Recht erkannt:

Der Beschwerde gegen die Bescheide betreffend Wiederaufnahme wird gemäß § 279 BAO Folge gegeben.

Die angefochtenen Bescheide werden aufgehoben.

2) beschlossen:

Die Beschwerde gegen die Einkommensteuerbescheide 2013 bis 2015 werden gegenstandslos erklärt.

3) Gegen dieses Erkenntnis bzw. diesen Beschluss ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

Verfahrensgang

Das Finanzamt nahm mit Wiederaufnahmebescheiden vom (2013) bzw. vom (2014 und 2015) die Einkommensteuerverfahren des Bf. wieder auf. Begründend wurde hinsichtlich 2013 ausgeführt: "Das Verfahren war gemäß § 303 (1) BAO BAO wiederaufzunehmen, weil dem Finanzamt auf Grund eines berichtigten oder neuen Lohnzettels oder einer (geänderten) Mitteilung über progressionswirksame Transferleistungen (Arbeitslosengeld, Notstandshilfe etc.) erst nachträglich Umstände bekannt wurden, die im betreffenden Veranlagungszeitraum bereits existent waren und aus denen sich eine geänderte Einkommensteuerfestsetzung ergibt. Zur näheren Begründung wird auf die Begründung des im wiederaufgenommenen Verfahren neu erlassenen Einkommensteuerbescheides verwiesen."

Hinsichtlich Wiederaufnahme 2014 und 2015 wurde ausgeführt: "Wir haben das Verfahren nach § 303 (1) Bundesabgabenordnung wiederaufgenommen, da es nachträglich eine oder mehrere der folgenden Änderungen gegeben hat:

• Ein Lohnzettel wurde berichtigt oder neu übermittelt

• Eine Mitteilung über progressionswirksame Transferleistungen wie Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe wurde berichtigt oder neu übermittelt. Die nähere Begründung finden Sie im neu erlassenen Einkommensteuerbescheid."

In den nach der Wiederaufnahme ergangenen Einkommensteuerbescheiden finden sich folgende Ausführungen:

2013: "Die Aufwendungen für außergewöhnliche Belastungen, von denen ein Selbstbehalt abzuziehen ist, konnte nicht berücksichtigt werden, da sie den Selbstbehalt in Höhe von 3.221,37 € nicht übersteigen. Wir haben nachträglich Informationen zu Lohnzettelangaben oder Transferleistungen wie Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe oder Krankengeld erhalten. Die Beträge finden Sie in der Aufstellung."

2014: "Die Aufwendungen für außergewöhnliche Belastungen haben wir nicht berücksichtigt. Der Grund: Die Aufwendungen sind niedriger als der für Sie gültige Selbstbehalt in Höhe von 3.266,71 Euro."

2015: "Die Aufwendungen für außergewöhnliche Belastungen haben wir nicht berücksichtigt. Der Grund: Die Aufwendungen sind niedriger als der für Sie gültige Selbstbehalt in Höhe von 3.291,80 Euro."

In der rechtzeitig erhobenen Beschwerde vom wird ausgeführt: "Auf Grund einer GPLA-Prüfung beim ehemaligen Dienstgeber bzw. bei der pensionsauszahlenden Stelle wurden das Verfahren betreffend der Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2013, 2014 und 2015 gemäß § 303 Abs 1 BAO wieder aufgenommen. Dagegen richtet sich unsere Beschwerde. Wir begründen unsere Beschwerde wie folgt: Verfahrensrecht: Die Wiederaufnahme der Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2013, 2014 und 2015 erfolgte standardisiert und entspricht nicht der ständigen Rechtsprechung des BFG und des VwGH. Es liegen auch keine Gründe für eine Wiederaufnahme des Verfahrens vor, weil hier eindeutig und klar für eine Abgabennachforderung auf Grund einer GPLA-Prüfung der Dienstgeber oder die pensionsauszahlende Stelle zur Haftung heran zu ziehen ist.

Die Ermessensübung wurde nicht entsprechend der Vorgaben des BFG und des VwGH begründet.

Bei der Ermessensübung wurde nicht die persönliche Unbilligkeit berücksichtigt. Die Nachforderung umfasst mehrere Jahre, wobei davon ausgegangen wird, dass noch Bescheide für Folgejahre ergehen werden und daher die Nachforderung überproportional hoch gegenüber dem Pensionsbezug ist. Aus diesem Grund liegt eine persönliche Unbilligkeit vor.

Zusätzlich wird auf Treu und Glauben verwiesen, welcher auch im Verwaltungsverfahren anzuwenden ist. In Angelegenheiten des Dienstrechts besteht auf Grund der besonderen Treuepflicht eine materiellrechtliche Manduktionspflicht der Verwaltung, insbesondere die Pflicht der Aufklärung. Es hätte die Behörde (Dienstgeber) den Dienstnehmer (Beschwerdeführer) aufklären müssen, dass zusätzlich zur Vergütung der Naturalwohnungen auch ein Sachbezug gemäß Einkommensteuergesetz (EStG) anfällt oder anfallen kann. Es erfolgte auch bis einschließlich Dezember 2018 keine Verrechnung eines Sachbezuges für die zur Verfügung gestellte Naturalwohnung. Durch das Verhalten der Behörde/des Bundes ist eindeutig und klar zum Ausdruck gekommen, dass kein Sachbezug gemäß EStG vorliegt. Unser Klient hat darauf vertraut und seine Dispositionen danach eingerichtet. Wäre unser Klient in Kenntnis gesetzt worden, dass ein Sachbezug zusätzlich anfällt, hatte dieser die Naturalwohnung nicht angenommen und um eine Wohnung des sozialen Wohnbaus bzw. um eine Gemeindewohnung angesucht. Es erfolgten im Zeitraum 1988 bis 2018 unzählige Prüfungen des zuständigen Finanzamtes und der Gebietskrankenkasse des Arbeitgebers bzw. der pensionsauszahlenden Stelle und es wurde KEIN Sachbezug festgestellt. Durch das Verhalten des Bundes (***1***, ***2*** und ***3***) ist eindeutig und unzweifelhaft zum Ausdruck gekommen, dass KEIN Sachbezug anfällt. Gemäß der geltenden Rechtsprechung lösen Erklärungen von Verwaltungsstellen eine materiellrechtliche Beachtlichkeit und eine damit einhergehende verfahrensrechtliche Auseinandersetzungspflicht aus. Gemäß der Rechtsprechung des VwGH hat der Grundsatz des Vertrauensschutzes des Einzelnen Vorrang vor der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit des Verwaltungshandelns (siehe auch Ra 2017/16/0001). Gemäß der Rechtsprechung des EuGH haben Behörden von einer Nacherhebung von Abgaben abzusehen, wenn deren Nichterhebung auf einem Irrtum der zuständigen Behörden zurückzuführen ist. Dies ist im ggstdl. Fall gegeben, da

• das ***1*** auf Grund des Erlasses des ***3*** im Einvernehmen mit dem ***2*** davon ausgegangen ist, dass Naturalwohnungen nicht der Sachbezugsregelung unterliegen,

• seit Beginn der Nutzung der Naturalwohnung bis 2018 kein Sachbezug zur Anwendung kam und

• in diesem Zeitraum Prüfungen der Abgabenbehörden stattgefunden haben und KEIN Sachbezug festgestellt wurde.

Die gesetzliche Ordnung hat im gesamten Zeitraum keine Änderung erfahren. Durch die Vorschreibung des Sachbezuges und der sich daraus resultierenden o.a. Bescheide wurde unser Klient mit einer nicht vorhersehbaren finanziellen Belastung konfrontiert, der entgegen seines berechtigten Vertrauens auf die Zusagen und des Verhaltens der Behörden (***1*** und ***2***) entstanden ist."

Materielles Steuerrecht - Einkommensteuer

Unter der Überschrift "Materielles Steuerrecht - Einkommensteuer" führt die steuerliche Vertretung aus, dass nach Aufhebung der Wiederaufnahmebescheide auch die Einkommensteuerbescheide aufzuheben seien, weil dann die Einkommensteuerbescheide 2013 bis 2015 gegenstandsloswerden. Im Übrigen wird detailliert ausgeführt, dass auch die Berechnungsgrundlagen lt. Lohnzettel unrichtig festgestellt worden seien.

Mit Beschwerdevorentscheidungen betreffend Wiederaufnahme vom wurde ausgeführt: "Gemäß § 303 Abs. 1 lit. b BAO ist die Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig, wenn Tatsachen oder Beweismittel im abgeschlossenen Verfahren neu hervorkommen sind und die Kenntnis dieser Umstände allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens einen im Spruch anderslautenden Bescheid herbeigeführt hätte. Bei der amtswegigen Wiederaufnahme des Verfahrens ist daher zuerst die Rechtsfrage zu beantworten, ob der Tatbestand der Wiederaufnahme des Abgabenverfahrens gegeben ist. Ist dies zu bejahen, so ist in Ausübung des Ermessens zu entscheiden, ob die Wiederaufnahme verfügt wird. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist das Neuhervorkommen von Tatsachen und Beweismitteln nur aus der Sicht des jeweiligen Verfahrens derart zu beurteilen, dass es darauf ankommt, ob der Abgabenbehörde im wiederaufzunehmenden Verfahren der Sachverhalt so vollständig bekannt gewesen ist, dass sie schon in diesem Verfahren bei richtiger rechtlicher Subsumtion zu der nunmehr im wiederaufgenommenen Verfahren erlassenen Entscheidung hätte gelangen können. Das "Neuhervorkommen von Tatsachen und Beweismitteln" im Sinne des § 303 Abs. 1 lit. b BAO bezieht sich damit auf den Wissensstand (auf Grund der Abgabenerklärungen und ihrer Beilagen) im jeweiligen Veranlagungsjahr (vgl. z.B. ). Von der Kenntnis einer Tatsache kann erst dann gesprochen werden, wenn der Abgabenbehörde die Tatsache in ihrem für die abgabenrechtliche Beurteilung wesentlichen Umfang bekannt ist(vgl. Ellinger-Iro-Kramer-Sutter-Urtz, a.a.O, E177). Für die amtswegige Wiederaufnahme ist es bedeutungslos, aus welchen Gründen der Abgabenbehörde die Tatsachen oder Beweismittel bisher unbekannt geblieben sind; insbesondere ist es unerheblich, dass die Abgabenbehörde an der Nichtfeststellung der maßgeblichen Tatsachen durch das Unterlassen entsprechender Ermittlungen ein Verschulden trifft (vgl. Ellinger-Iro-Kramer-Sutter-Urtz, a.a.O, E177a).

Daher ist durch das Gegenüberstellen des Wissensstandes der Behörde zum Zeitpunkt der Erlassung des Erstbescheides und jenes Wissenstandes anlässlich der Verfügung der Wiederaufnahme des Verfahrens zu beurteilen, ob Tatsachen neu hervorgekommen sind. Wurden der Abgabenbehörde zum Zeitpunkt der Erlassung des Erstbescheides noch nicht sämtliche Lohnzettel des Abgabepflichtigen für das betreffende Kalenderjahr übermittelt, so stellt die spätere erstmalige Übermittlung eines weiteren Lohnzettels einen tauglichen Wiederaufnahmsgrund dar, weil die Behörde nun erst Kenntnis von den darin angeführten für die Abgabenerhebung maßgeblichen Angaben erlangt. Erst durch die Übermittlung der zusätzlichen Lohnzettel für 2013, 2014 und 2015 am bzw. verfügte das Finanzamt über jenen Wissensstand, der die Erlassung der neuen Sachbescheide ermöglichte. Mit der Übermittlung der für die Besteuerung des Abgabepflichtigen maßgeblichen Angaben hinsichtlich Sachbezug für die Nutzung einer Naturalwohnung (in Höhe von 1.188,65 Euro 2013, 1.341,29 Euro 2014 und 1.279,02 Euro 2015) in den o.a. Lohnzettel sind damit für das Finanzamt Tatsachen neu hervorgekommen, die zuvor in den Verfahren nicht berücksichtigt werden konnten, und deren Kenntnis und Berücksichtigung im Spruch anderslautende Bescheide (nämlich die in den wiederaufgenommenen Verfahren erlassenen Sachbescheide) herbeigeführt haben. Damit stellt die erstmalige Übermittlung der gegenständlichen Lohnzettel des ***4*** taugliche Wiederaufnahmsgründe im Sinne des § 303 Abs. 1 lit. b BAO dar. Die Verfügung der Wiederaufnahmen stand damit im Ermessen der Behörde. Unter Bedachtnahme auf die Bestimmung des § 20 BAO waren im Verfahren Ermessensentscheidungen innerhalb der vom Gesetz gezogenen Grenzen des Ermessens nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände zu. "

Zur Einkommensteuer 2013 bis 2015 ergingen die Beschwerdevorentscheidungen am bzw. am .

Gegen die genannten Beschwerdevorentscheidungen wurde fristgerecht am ein Antrag auf Vorlage der Beschwerden an das Bundesfinanzgericht gestellt.

Die Beschwerden wurden dem Bundesfinanzgericht mit Vorlagebericht vom vorgelegt.

Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

Sachverhalt und Beweiswürdigung

Als Sachverhalt wird diesem Erkenntnis der oben dargestellte Verfahrensablauf zugrunde gelegt. Dieser ist unstrittig und ergibt sich aus den vorgelegten Akten.

Dem Bundesfinanzgericht wurden zahlreiche Fälle mit derselben Thematik vorgelegt. Mindestens zwei dieser Fälle wurden bereits vom Bundesfinanzgericht entschieden ( und Bundesfinanzgericht vom , RV/5100888/2020) entschieden. Die Richterin in diesem Beschwerdeverfahren teilt die dort geäußerten Rechtsansicht zur Wiederaufnahme, sodass die rechtlichen Ausführungen weitgehend übernommen werden.

Rechtliche Beurteilung

Zu Spruchpunkt I. (Stattgabe und Aufhebung)

Gemäß § 303 Abs. 1 lit. b BAO kann ein durch Bescheid abgeschlossenes Verfahren auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen wiederaufgenommen werden, wenn Tatsachen oder Beweismittel im abgeschlossenen Verfahren neu hervorgekommen sind und die Kenntnis dieser Umstände allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens einen im Spruch anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätte.

Gemäß § 93 Abs. 3 lit. a BAO hat jeder Bescheid unter anderem eine Begründung zu enthalten, wenn er von Amts wegen erlassen wird. Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH hat die Begründung des Wiederaufnahmebescheides das Vorliegen der Voraussetzungen des § 303 BAO darzulegen. Es ist zulässig, wenn die Begründung eines Bescheides auf die Begründung eines anderen, der Partei bekannten Bescheides verweist (Ritz, BAO, 4. Auflage, § 93 Tz 15 unter Anführung der VwGH-Judikatur).

Die Wiederaufnahme iSd § 303 BAO liegt im Ermessen der Abgabenbehörde. Ermessensentscheidungen sind nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände zu treffen und erfordern eine Abwägung der ermessensrelevanten Umstände (vgl.§20 BAO). Diese Abwägung ist ebenfalls in der Begründung des Aufhebungsbescheides anzuführen ().

Die Begründung der Aufhebung sowie des Ermessens ist deshalb so wichtig, weil erst sie den Bescheid für den Abgabepflichtigen nachvollziehbar und kontrollierbar macht. Der Abgabepflichtige soll nicht rätseln müssen, warum ihm eine Abgabe vorgeschrieben wurde (vgl. Ritz, BAO, 4. Auflage, § 93 Tz 10). Das Vorliegen einer Begründung ist aber auch für die Rechtsmittelinstanz wichtig, denn erst durch eine Begründung wird dem Bundesfinanzgericht eine Nachprüfbarkeit des Verwaltungsaktes im Hinblick auf seine Übereinstimmung mit dem Gesetz ermöglicht.

Die Anführung der Wiederaufnahmegründe in der Begründung des Wiederaufnahmebescheides ist zuletzt deshalb notwendig, weil nach der Judikatur des VwGH sich das Bundesfinanzgerichtbei der Erledigung der gegen die Verfügung der Wiederaufnahme gerichteten Beschwerde auf keine neuen Wiederaufnahmegründe stützen kann. Es hat lediglich zu beurteilen, ob die von der Abgabenbehörde erster Instanz angeführten Gründe eine Wiederaufnahmerechtfertigen (Ritz, BAO, 4. Auflage, § 307, Tz 3).

Die fehlende Angabe der Wiederaufnahmegründe in der Begründung des mit Beschwerde angefochtenen Bescheides ist auch in der Beschwerdevorentscheidung nicht "nachholbar". Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass die für Beschwerdevorentscheidungen bestehende Änderungsbefugnis (§ 263 Abs.1) ident ist mit jener für Erkenntnisse (§ 279 Abs. 3). Weiters ist im Beschwerdeverfahren über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides (und nicht über jene der Beschwerdevorentscheidung) zu entscheiden (vgl. Ritz, Bundesabgabenordnung, Wien 2017, § 307, Tz 3 und die dort zitierte Judikatur und Literatur).

Die die Wiederaufnahme rechtfertigenden neu hervorgekommenen Tatsachen oder Beweismittel müssen bereits im Zeitpunkt der ursprünglichen Bescheiderlassung existent gewesen, jedoch später hervorgekommen und so entscheidungswesentlich sein, dass sie, wären sie bereits im Zeitpunkt der Bescheiderlassung bekannt gewesen, einen im Spruch anderslautenden Bescheid herbeigeführt hätten. Später entstandene Umstände (nova producta) sind keine Wiederaufnahmegründe (Vgl. Ritz, BAO, 4. Auflage, § 303, Tz 13).

Unter Bedachtnahme auf die dargestellte Rechtslage war den Beschwerden gegen die Wiederaufnahmebescheide aus nachstehenden Erwägungen ein Erfolg beschieden:

Das Finanzamt ist mit den in den Wiederaufnahmebescheiden angeführten "Begründungen" nicht dem zwingenden Erfordernis der Angabe des konkreten Wiederaufnahmegrundes nachgekommen. Denn durch die Wortfolge "Ein Lohnzettel wurde berichtigt oder neu übermittelt" ist für den Beschwerdeführer als Bescheidadressaten nicht erkennbar, ob ein berichtigter oder ein neuer Lohnzettel Grund für die Wiederaufnahme war. Außerdem führt die Begründung als weitere Möglichkeit eines Wiederaufnahmegrundes eine berichtigte oder neu übermittelte Mitteilung über progressionswirksame Transferleistungen wie Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe an. Auch damit lässt die "Begründung" die für die Rechtmäßigkeit der Wiederaufnahme notwendige Bestimmtheit des Wiederaufnahmegrundes vermissen.

Auch wenn im letzten Satz der "Begründung" zur näheren Begründung zulässigerweise auf die Begründung der im wiederaufgenommenen Verfahren neu erlassenen Einkommensteuerbescheide verwiesen wird, kann dadurch die Mangelhaftigkeit der Begründung nicht beseitigt werden, weil auch in diesen der für die Wiederaufnahme entscheidungsrelevante Sachverhalt nicht festgestellt wurde. In den neuen Einkommensteuerbescheiden für die Jahre 2013 - 2015 finden sich in der Begründung diesbezüglich nur folgende Textierungen:

2013: "Die Aufwendungen für außergewöhnliche Belastungen, von denen ein Selbstbehalt abzuziehen ist, konnte nicht berücksichtigt werden, da sie den Selbstbehalt in Höhe von 3.221,37 € nicht übersteigen. Wir haben nachträglich Informationen zu Lohnzettelangaben oder Transferleistungen wie Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe oder Krankengeld erhalten. Die Beträge finden Sie in der Aufstellung."

2014: "Die Aufwendungen für außergewöhnliche Belastungen haben wir nicht berücksichtigt. Der Grund: Die Aufwendungen sind niedriger als der für Sie gültige Selbstbehalt in Höhe von 3.266,71 Euro."

2015: "Die Aufwendungen für außergewöhnliche Belastungen haben wir nicht berücksichtigt. Der Grund: Die Aufwendungen sind niedriger als der für Sie gültige Selbstbehalt in Höhe von 3.291,80 Euro."

In allen Einkommensteuerbescheiden findet sich lediglich unter der Überschrift Lohnzettel und Meldungen ein neuer Lohnzettel "***5***" für den Bezugszeitraum bis , bis und bis mit den Beträgen der entsprechenden Bruttobezüge (210) und steuerpflichtigen Bezüge (245) und mit dem Hinweis, dass diese gemäß § 84 bzw. § 3 Abs. 2 EStG 1988 von den bezugs-, pensionsauszahlenden Stellen dem Finanzamt zu melden waren. Dass auch mit diesen Ausführungen für den Bf. nicht erkennbar ist, welchen konkreten Wiederaufnahmegrund das Finanzamt den angefochtenen Bescheiden zugrunde gelegt hat, bedarf keiner weiteren Ausführungen.

Im Übrigen mangelt es auch an einer Begründung für die Änderung der Lohnzetteldaten.

In diesem Zusammenhang ist auch auf einen Aufsatz von Ritz, "Rechtsschutz bei Begründungsmängeln - Welche Mängel sind nicht sanierbar?" in SWK 12/2019, 602 zu verweisen. In diesem Aufsatz bringt der Autor als Beispielaus der Praxis der Finanzämter als "Begründung" einer Wiederaufnahme eines Einkommensteuerverfahrens von Amts wegen den im Wesentlichen gleichlautenden Text, wie er sich in den angefochtenen Bescheiden findet, und führt dazu aus:

"Wann welche Umstände im betreffenden Abgabenverfahren dem Finanzamt erst nachträglich bekannt wurden, verschweigt die Begründung. Sie ist überdies irreführend, wenn dort von "war […] wiederaufzunehmen" die Rede ist. Die Verfügung von Wiederaufnahmen liegt nämlich im Ermessen; die Ermessensübung ist zu begründen.

Der Bescheidadressat erfährt somit nicht,

•ob ein neuer oder ein berichtigter Lohnzettel Grund für die Wiederaufnahme ist,

•welcher Arbeitgeber gemeint ist,

•ob Transferleistungen (und wenn ja, welche) oder deren Änderung nachträglich bekanntwurden,

•wann die maßgebenden Umstände dem Finanzamt bekannt wurden, oder

•die für die Ermessensübung bedeutsamen Umstände und Überlegungen.

Rechtsschutz gegen solche "Begründungen"

Dass eine solche Standardbegründung (Multiple Choice) keine Begründung iSd. § 93 Abs.3lit. a BAO ist, steht außer Zweifel."

Unter 4.1. Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 303 BAO) führt Ritz weiter aus:

"In der Begründung der Verfügung der Wiederaufnahme eines Verfahrens sind die Wiederaufnahmegründe anzuführen. Die fehlende Angabe der Wiederaufnahmegründe ist im Rechtsmittelverfahren nicht "nachholbar", dies auch nicht in einer Beschwerdevorentscheidung.

Bei einer amtswegigen Wiederaufnahme wird die Identität der "Sache" iSd. § 263 Abs.1und § 279 Abs. 1 BAO, über die im angefochtenen Bescheid abgesprochen wurde, durch den Tatsachenkomplex begrenzt, der als neu hervorgekommen von der für die Wiederaufnahmezuständigen Behörde zur Unterstellung unter den von ihr gebrauchten Wiederaufnahmetatbestandherangezogen wurde.

Die Rechtsmittelbehörde kann sich bei der Erledigung gegen die Wiederaufnahme gerichteter Rechtsmittel auf keine neuen Wiederaufnahmegründe stützen. Sie hat lediglich zu beurteilen, ob die von der Abgabenbehörde angeführten Wiederaufnahmegründe eine Wiederaufnahmerechtfertigen, nicht jedoch, ob die Wiederaufnahme aus anderen Gründen zulässig wäre.

Hat das Finanzamt die Wiederaufnahme auf Umstände gestützt, die keinen Wiederaufnahmegrunddarstellen, so ist der angefochtene Bescheid im Beschwerdeverfahren ersatzlos aufzuheben, was auch bereits durch Beschwerdevorentscheidung erfolgen kann.

Bei einer Beschwerde gegen eine Wiederaufnahme von Amts wegen ist die "Sache", über die das BFG gemäß § 279 Abs. 1 BAO zu entscheiden hat, nur die Wiederaufnahme aus den vom Finanzamt herangezogenen Gründen, also jene wesentlichen Sachverhaltselemente, die das Finanzamt als Wiederaufnahmegrund beurteilt hat. Liegt der vom Finanzamt angenommene Wiederaufnahmegrund nicht vor oder hat das Finanzamt die Wiederaufnahme auf keinen Wiederaufnahmegrund gestützt, so muss das BFG den angefochtenen Bescheid ersatzlosaufheben."

Nur im Zeitpunkt der Bescheiderlassung bereits existente Tatsachen oder Beweismittel können Wiederaufnahmegründe sein. Die neuen Lohnzettel wurden nach der Erlassung der ursprünglichen Einkommensteuerbescheide erstellt. Es handelt sich damit um nach (ursprünglicher) Bescheiderlassung zustande gekommene Beweismittel, die gerade mangels Existenz zum Zeitpunkt der Erlassung der ursprünglichen Bescheide keine neue Beweismittel iSd §303 Abs 1 lit b BAO darstellen und daher den Tatbestand der Wiederaufnahme wegen Hervorkommens neuer Beweismittel nicht erfüllen.

Liegt der vom Finanzamt angenommene Wiederaufnahmegrund nicht vor oder hat das Finanzamt die Wiederaufnahme tatsächlich auf keinen Wiederaufnahmegrund gestützt, muss das Bundesfinanzgericht den vor ihm bekämpften Wiederaufnahmebescheid des Finanzamtes ersatzlos beheben (vgl.zB oder ).

Im Beschwerdefall liegt weder ein neues Beweismittel noch die Namhaftmachung einer konkreten Tatsache vor, die eine Wiederaufnahme begründen könnte. Den Wiederaufnahmebescheiden haftet deshalb ein im Rechtsmittelverfahren nicht sanierbarer Mangel an. Die angefochtenen Wiederaufnahmebescheide sind daher ersatzlos aufzuheben.

Zu Spruchpunkt II (Beschluss Gegenstandsloserklärung)

Einkommensteuerbescheide 2013, 2014 und 2015

Durch die Aufhebung des die Wiederaufnahme des Verfahrens bewilligenden oder verfügenden Bescheides tritt gemäß § 307 Abs. 3 BAO das Verfahren in die Lage zurück, in der es sich vor seiner Wiederaufnahme befunden hat.

§ 261 Abs. 2 BAO lautet:

"Wird einer Bescheidbeschwerde gegen einen gemäß § 299 Abs. 1 oder § 300 Abs. 1 aufhebenden Bescheid oder gegen einen die Wiederaufnahme des Verfahrens bewilligenden oder verfügenden Bescheid (§ 307 Abs. 1) entsprochen, so ist eine gegen den den aufgehobenen Bescheid ersetzenden Bescheid (§ 299 Abs. 2 bzw. § 300 Abs. 3) oder eine gegen die Sachentscheidung(§ 307 Abs. 1) gerichtete Bescheidbeschwerde mit Beschwerdevorentscheidung (§ 262)oder mit Beschluss (§ 278) als gegenstandslos zu erklären."

Wird der Wiederaufnahmsbescheid aufgehoben (insbesondere im Bescheidbeschwerdeverfahren), so tritt nach § 307 Abs. 3 das Verfahren in die Lage zurück, in der es sich vor seiner Wiederaufnahme befunden hat. Durch die Aufhebung des Wiederaufnahmsbescheides scheidet somit ex lege der neue Sachbescheid aus dem Rechtsbestand aus, der alte Sachbescheid lebt wieder auf (vgl. Ritz, Bundesabgabenordnung, Kommentar, Wien 2017, § 307, Tz8und die dort zitierte Judikatur).

§ 261 Abs. 2 normiert die Gegenstandsloserklärung auch für Fälle, in denen nach bisheriger Rechtsauffassung Rechtsmittel als unzulässig geworden zurückzuweisen waren. Dies galt nach Ellinger/Iro/Kramer/Sutter/Urtz (BAO3, § 299 Anm 25 idF vor 15. Ergänzungslieferung) für Berufungen gegen neue Sachbescheide, wenn der Berufung gegen den Wiederaufnahmebescheid stattgegeben wird, wodurch der neue Sachbescheid als Folge des § 307 Abs. 3 BAO aufgehoben ist.

Die Gegenstandsloserklärung der Bescheidbeschwerde liegt nicht im Ermessen. Sie hat (durch die Abgabenbehörde) mit Beschwerdevorentscheidung bzw. (durch das Verwaltungsgericht) mit Beschluss zu erfolgen. Solche Gegenstandsloserklärungen sind mit Vorlageantrag (§ 264) bzw. mit Revision beim Verwaltungsgerichtshof oder mit Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof anfechtbar (vgl. Ritz, Bundesabgabenordnung, Kommentar, Wien 2017, § 261, Tz 4 und6 und die dort zitierte Literatur).

Somit war die gegen die Einkommensteuerbescheide 2013, 2014 und 2015 gerichteten Bescheidbeschwerde mit Beschluss als gegenstandslos zu erklären.

Zu Spruchpunkt III. (Revision)

Gegen ein Erkenntnis bzw. einen Beschluss des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird. Die Entscheidung betreffend die Unzulässigkeit der Wiederaufnahme der Verfahren mangels Vorliegen eines konkreten Wiederaufnahmegrundes entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. insbesondere ). Die Verpflichtung zur beschlussmäßigen Gegenstandsloserklärung der gegen die Sachbescheide gerichteten Beschwerden bei Aufhebung der Wiederaufnahmebescheide ergibt sich unmittelbar aus § 261 Abs. 2 BAO. Es wird im Beschwerdeverfahren keine Rechtsfragen aufgeworfen, der im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukommt. Die Revision ist daher nicht zulässig.

Linz, am

Zusatzinformationen


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Materie
Steuer
betroffene Normen
§ 303 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
ECLI
ECLI:AT:BFG:2021:RV.5100886.2020

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at