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Bescheidbeschwerde – Einzel – Beschluss, BFG vom 29.07.2020, RV/7103706/2020

Ist das BFG berechtigt, mit Beschluss die Einleitung eines Dialogverfahrens zwischen den Trägern der beteiligten Mitgliedstaaten aufzutragen? (Beschluss über eine Anordnung zu einem Dialogverfahren zwischen den Trägern der beteiligten Mitgliedstaaten als vorläufige Maßnahme zum Vorabentscheidungsverfahren RE/7100002/2020)

Beachte

Revision beim VwGH anhängig zur Zahl Ro 2020/16/0035. Einstellung des Verfahrens mit Beschluss vom .


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Rechtssätze
Stammrechtssätze
RV/7103706/2020-RS1
Frage 4 des Vorabentscheidungsersuchens RE/7100002/2020 : Sind die Art 68 Abs 3 VO 883/2004 und Art 60 Abs 2 und 3 Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 284 vom , (im Folgenden: VO 987/2009 oder Durchführungsverordnung) dahingehend auszulegen, dass der Träger des Mitgliedstaates, der von der Antragstellerin als vorrangig zuständiger Beschäftigungsstaat vermutet wurde und bei dem der Antrag auf Familienleistungen eingebracht wurde, dessen Rechtsvorschriften aber weder vorrangig noch nachrangig anwendbar sind, jedoch ein Anspruch auf Familienleistungen nach einer alternativen Norm des mitgliedstaatlichen Rechts besteht, die Bestimmungen über die Verpflichtung zur Weiterleitung des Antrags, zur Information, zur Erlassung einer vorläufigen Entscheidung über die anzuwenden Prioritätsregeln und zur vorläufigen Geldleistung analog anzuwenden hat?
RV/7103706/2020-RS2
Frage 5 des Vorentscheidungsersuchens RE/7100002/2020: Trifft die Verpflichtung zur Erlassung einer vorläufigen Entscheidung über die anzuwenden Prioritätsregeln ausschließlich die belangte Behörde als Träger oder auch das im Rechtsmittelweg angerufene Verwaltungsgericht?
RV/7103706/2020-RS3
Frage 6 des Vorentscheidungsersuchens RE/7100002/2020: In welchem Zeitpunkt ist das Verwaltungsgericht zur Erlassung einer vorläufigen Entscheidung über die anzuwendenden Prioritätsregeln verpflichtet?

Entscheidungstext

BESCHLUSS

Das Bundesfinanzgericht hat durch die Richterin Silvia Gebhart iZm dem in der Beschwerdesache der Bf, AdresseBf, vertreten durch Dr Vana Dr Kolbitsch Mag Breitenecker, Taborstraße 10 Tür Stg 2, 1020 Wien, in Österreich erfasst beim Finanzamt 8/16/17 als belangte Behörde unter der Sozialversicherungsnummer 1234 und in Deutschland erfasst bei der Familienkasse Bayern Süd, Bundesagentur für Arbeit, unter der Kindergeldnummer 2345, in einer Familienbeihilfenangelegenheit gestellten Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof beschlossen:

I. Gestützt auf Art 67, Art 68 Abs 3 Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABlEU L 166 vom , (in der Folge: VO 883/2004, neue Koordinierung oder Grundverordnung) iVm Art 60 Abs 3 Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl L 284 vom , (im Folgenden: VO 987/2009 oder Durchführungsverordnung) wird der belangten Behörde aufgetragen, die nach Unionsrecht gestellten Beihilfenanträge gemeinsam mit einer Ablichtung dieses Beschlusses und des Vorabentscheidungsersuchens an den zuständigen deutschen Träger weiterzuleiten und mit dem deutschen Träger das unionsrechtlich eingerichtete Dialogverfahren zu führen.

II. Gestützt auf Art 60 Abs 2 VO 987/2009 wird für den Streitzeitraum Oktober 2016 bis September 2019 folgende vorläufige Entscheidung über die anzuwendenden Prioritätsregeln getroffen:

a) Die belangte Behörde ist für den Zeitraum Oktober 2016 bis Oktober 2017 und für den Zeitraum März 2018 bis Dezember 2018 gemäß §§ 8 Abs 1 bis 3 FLAG 1967, 33 Abs 3 Einkommensteuergesetz iVm § 13 Abs 1 Entwicklungshelfergesetz idF BGBl I 87/2013 (in der Folge: EHG aF) als Träger des Beschäftigungsstaates vorrangig zur Leistung der Familienleistungen zuständig.

Als zuständiger Träger des Beschäftigungsstaates gemäß § 13 Abs 1 EHG aF hat die belangte Behörde für den erstgenannten Zeitraum für die Kinder K1 (geb TT.MM.2011) und K2 (geb TT.MM.2015) und für den zweitgenannten Zeitraum für die Kinder K1, K2 und K3 (geb TT.MM.2017) ungekürzt die Familienbeihilfe und den Kinderabsetzbetrag gemäß den zuvor genannten Rechtsgrundlagen zu leisten.

b) Die Familienkasse Bayern Süd ist für die unter Punkt II.a angeführten Zeiträume als gemäß Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 zuständiger Träger in Deutschland für die Kinder K1, K2 und K3 zur Leistung des Unterschiedsbetrages des Kindergeldes in sinngemäßer Anwendung der Antikumulierungsvorschrift des Art 68 Abs 2 VO 883/2004, alternativ unter Beachtung der dortigen nationalen Antikumulierungsvorschrift nachrangig zuständig.

c) Die Familienkasse Bayern Süd als gemäß Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 allein zuständiger Träger in Deutschland leistet für die übrigen Zeiträume November 2017 bis Februar 2018 und Januar 2019 bis September 2019 für die Kinder das Kindergeld, wie es sich aus den deutschen Rechtsvorschriften ergibt.

Begründung

Zur Vermeidung von Wiederholungen wird bezüglich Sachverhalt, Darstellung der Rechtsgrundlagen und den Gründen auf das beiliegende Vorabentscheidungsersuchen RE/7100002/2020 verwiesen.

Die vorläufige Entscheidung über die Prioritätsregeln in der Zeit zwischen der Antragstellung auf Gewährung der strittigen Familienbeihilfen und der endgültigen Entscheidung für Rechtsschutz dient dem vorläufigen Rechtsschutz. Art 68 Abs 3 VO 883/2004 iVm Art 60 VO 987/2009 verfolgen auf Sekundärrechtsebene das Ziel, den vorläufigen Rechtsschutz effizient zu gestalten. Zur Wahrung vorläufigen Rechtsschutzes durch Information des deutschen Trägers, Weiterleitung des Antrages und Erlassen einer vorläufigen Entscheidung wäre schon die belangte Behörde verpflichtet gewesen. Sie ist in Verkennung der Rechtslage davon ausgegangen, dass die Situation der Beschwerdeführerin (Bf) nicht unter die VO 883/2004 falle. Nach Ansicht des BFG ist im Rechtsmittelverfahren das angerufene Gericht auch verpflichtet, dieses Versäumnis der ersten Instanz zu heilen. Die Eigenschaft der belangten Behörde als Träger iSd Art 1 Buchstabe p VO 883/2004 sowie das Art 60 Abs 4 und 5 iVm Art 6 Abs 2 bis 5 und Art 73 VO 987/2009 geregelte Verfahren bleiben durch diesen Beschluss unberührt. Auf die diesbezüglichen Vorlagefragen 4 bis 6 und Ausführungen in Rn 23ff des Vorabentscheidungsersuchens wird hingewiesen.

Spruchpunkt II.a:

Die betroffenen Mitgliedstaaten Österreich und Deutschland sind kraft originären Rechts Wohnortmitgliedstaaten iSd in Art 68 VO 883/2004 getroffenen Typisierung und Hierarchisierung. Beschäftigungsstaaten werden diese Staaten erst iVm der VO 883/2004, also kraft Unionsrecht (Gebhart in Lenneis/Wanke (Hrsg), FLAG2, § 53 Rz 311f). Gleichzeitig kennen die Rechtsvorschriften beider Mitgliedstaaten für die Entwicklungshilfe besondere Regelungen, die den betroffenen Personen die Gewährung der jeweiligen Familienleistungen für ihre Familienangehörigen auch dann garantieren, wenn die Personen sich nicht im Hoheitsgebiet aufhalten oder dort wohnen. Bei diesen Begriffen des "Aufenthalts" oder "Wohnens" handelt es sich um nationale Begriffe, die von ähnlichen Begriffen der VO 883/2004 differieren. Für Österreich ist § 26 BAO einschlägig.

Diese rechtlich vergleichbare Ausgestaltung der nationalen Rechtsvorschriften der beteiligten Staaten würde zu einer Verpflichtung Österreichs als Beschäftigungsstaat und Deutschlands als Wohnortstaat geradezu einladen, doch ist fraglich, inwieweit der mit der neuen Koordinierung geschaffene Auffangtatbestand des Art 11 Abs 3 Buchstabe e) VO 883/2004 dem entgegensteht. Der Auffangtatbestand wurde gerade für Drittlandsbezug wie im Fall eines Entwicklungshelfers geschaffen. Jedoch ist bei einem Entwicklungshelfer naturgemäß auch das Wohnortkriterium nur sehr schwach ausgeprägt, wodurch sich der Ausgangsfall auf Tatsachenebene deutlich von den Urteilen , Rs SF gegen Inspecteur van de Belastingdienst, und , Rs R.L. Aldewereld, unterscheidet.

Wie dem Vorabentscheidungsersuchen zu entnehmen ist, hält das BFG die Auslegung des § 13 Abs 1 Entwicklungshelfergesetz (EHG), idF vor seiner Abschaffung per , durch die belangte Behörde und andere Institutionen Österreichs für mittelbar diskriminierend. In Anlehnung an das Hudzinski und Wawrzyniak, Rs C-611/10, Rn 68, ist zu sagen, dass "die VO 883/2004 es einem Mitgliedstaat, der nach diesen Vorschriften nicht als zuständiger Staat bestimmt ist, nicht verwehren, nach seinem nationalen Recht einem Wanderarbeitnehmer […] auch dann Leistungen für Kinder zu gewähren." Unter der Annahme, dass für den Ausgangsfall Art 11 Abs 3 Buchstabe e VO 883/2004 greift, ist Österreich der nach der VO 883/2004 nicht zuständige Mitgliedstaat, der aber aufgrund innerstaatlichen Rechts (§ 13 EHG) für die Dauer der tatsächlichen Ausübung der Beschäftigung als Entwicklungshelfer für eine österreichische Entwicklungshilfeorganisation zur Leistung der Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrages (KAB) verpflichtet ist. § 13 Abs 1 EHG aF macht Österreich daher - abweichend vom eingangs erwähnten Grundsatz als Wohnortstaat - zeitlich beschränkt für die Dauer der tatsächlichen Ausübung der Tätigkeit und sachlich beschränkt auf die in § 13 Abs 1 aF angesprochenen Familienleistungen, also auch dem Kinderbetreuungsgeld, zu einem Beschäftigungsstaat kraft originären Rechts.

Spruchpunkt II.b:

Auch wenn Österreich nur nach nationalem Recht verpflichtet sein sollte und das Unionsrecht nur Deutschland nach Art 11 Abs 3 Buchstabe e VO 883/2004 verpflichten sollte, ist der Grundsatz der Antikumulierung zu beachten. Die Koordinierung eines unionsrechtlich zuständigen Mitgliedstaates mit einem unionsrechtlich nicht zuständigen Mitgliedstaat ist in der Wanderarbeitnehmerverordnung naturgemäß nicht geregelt. Diesfalls wird die unrechtmäßige Kumulierung durch die in den deutschen Rechtsvorschriften enthaltene Antikumulierungsregelung vermieden.

Das BFG ist von der mittelbar diskriminierenden Auslegung des § 13 Abs 1 EHG aF durch die belangte Behörde überzeugt, sodass für den Zeitraum der tatsächlichen Berufsausübung die Leistungspflicht Österreich mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist.

Spruchpunkt II.c:

Dieser Spruchpunkt betrifft die Zeit der Babypause, während der sich die Bf in Deutschland aufgehalten hat, und den Zeitraum ab , mit dem Österreich die Familienbeihilfenverpflichtung nach § 13 Abs 1 EHG aF abgeschafft hat. § 13 Abs 1 EHG aF verpflichtet Österreich nach Rechtsansicht des BFG nur für die Dauer der Ausübung der Beschäftigung als Entwicklungshelfer zur Leistung der Familienbeihilfe. Da Österreich nicht Beschäftigungsstaat kraft Unionsrechts ist, werden Rechtsfolgen wie gleichgestellte Situation (Babypause, Mutterschutz, Karenz) nach Ansicht des BFG durch § 13 Abs 1 EHG aF nicht ausgelöst. Zur gleichzeitig mit Einführung der Indexierung erfolgten Aufhebung des § 13 Abs 1 EHG aF wird auf die Fragen 8 und 9 des Vorabentscheidungsersuchens hingewiesen.

Belehrung und Hinweise

Das Unionsrecht sieht für vorläufige Entscheidungen über die Prioriätsregeln gemäß Art 60 Abs 3 VO 987/2009 mit Art 60 Abs 4 und 5 iVm Art 6 Abs 2 bis 5 und Art 73 VO 987/2009 ein eigenständiges Verfahren vor, das durch diesen Beschluss unberührt bleibt. Der folgende Behördendialog findet zwischen den Trägern direkt statt. Dabei hat die belangte Behörde die mit diesem Beschluss getroffene Anordnung zu verteidigen. Die zuvor genannten sekundärrechtlichen Bestimmungen haben Vorrang vor dem nationalen Recht. Bereits aus diesem Grund ist gegen den verfahrensleitenden Beschluss eine abgesonderte Revision an den Verwaltungsgerichtshof oder Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof nicht zulässig. Im Übrigen wird auf Spruchpunkt II des Vorabentscheidungsersuchens verwiesen. Mit dem Urteil des Gerichtshofs wird die vorläufige Entscheidung obsolet.

Wien, am

Zusatzinformationen


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Materie
Steuer
betroffene Normen
§ 13 Abs. 1 Entwicklungshelfergesetz, BGBl. Nr. 574/1983
Art. 6 Abs. 2 bis 5 und Art. 73 VO 987/2009, ABl. Nr. L 284 vom S. 1
Art. 68 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 68 Abs. 2 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 68 Abs. 3 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 1 Buchstabe p VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
§ 26 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961
Art. 60 VO 987/2009, ABl. Nr. L 284 vom S. 1
Art. 11 Abs. 3 lit. e VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 60 Abs. 2 VO 987/2009, ABl. Nr. L 284 vom S. 1
ECLI
ECLI:AT:BFG:2020:RV.7103706.2020

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at