Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 30.04.2020, RV/5200022/2017

Erstattung nach Art. 239 ZK iVm Art. 899 Abs. 2 ZK-DVO und § 83 ZollR-DG.

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter R. in der Beschwerdesache Bf., über die Beschwerde vom gegen den Bescheid der belangten Behörde Zollamt ZA vom , Zahl: 000, über die Abweisung eines Antrages auf Erstattung von Eingangsabgaben und Abgabenerhöhung zu Recht erkannt: 

Der Beschwerde wird Folge gegeben.
Der angefochtene Bescheid wird gemäß § 279 Bundesabgabenordnung (BAO) wie folgt abgeändert:
Dem Antrag vom wird stattgegeben und die mit Bescheid des Zollamtes ZA vom , Zl. 001, vorgeschriebenen Abgaben (91,86 Euro an Zoll, 2.676,80 Euro an Einfuhrumsatzsteuer und 41,55 Euro an Abgabenerhöhung) werden gemäß Art. 239 Zollkodex (ZK) in Verbindung mit Art. 899 Abs. 2 Zollkodex-Durchführungsverordnung (ZK-DVO) und §§ 2 Abs. 1, 83 Zollrechts-Durchführungsgesetz (ZollR-DG) erstattet.

Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nichtzulässig.

Entscheidungsgründe

Das Zollamt teilte der Beschwerdeführerin (BF.) mit Bescheid vom , Zahl: 001, eine für sie gemäß Art. 203 ZK in Verbindung mit Art. 865 ZK-DVO und § 2 Abs. 1 ZollR-DG entstandene und zuvor buchmäßig erfasste Eingangsabgabenschuld (91,86 Euro an Zoll - A00, 2.676,80 Euro an Einfuhrumsatzsteuer) mit und schrieb ihr gemäß § 108 Abs. 1 ZollR-DG ein Abgabenerhöhung im Ausmaß von 41,55 Euro zur Entrichtung vor.
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass durch die Erstellung des Versandscheines T2 der
zollrechtlichen Status der Ware von eine Nichtunionsware auf eine Unionsware geändert und somit die Nichtunionsware der zollamtlichen Überwachung entzogen worden sei.

Gleichzeitig mit einer dagegen erhobenen Beschwerde brachte die Bf. einen Antrag auf Erstattung der vorgeschriebenen Abgaben nach Art. 239 ZK ein.

Das Zollamt wies diesen Antrag mit dem hier angefochtenen Bescheid vom , Zahl: 000, ab.
Gemäß Art. 899 ZK-DVO sei eine Voraussetzung für den Erlass oder die Erstattung der Einfuhrabgaben gemäß Art. 239 ZK, dass keine offensichtliche Fahrlässigkeit vorliege. Es gebe Gründe, welche einen Erlass oder eine Erstattung ausschließen würden, obwohl alle anderen Voraussetzungen vorliegen würden.
Ein Erlass oder eine Erstattung sei somit ausgeschlossen, wenn der Irrtum des Beteiligten, der zum Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung geführt habe, auf eine offensichtliche Fahrlässigkeit beruhe.
Offensichtliche Fahrlässigkeit liege vor, wenn der Beteiligte hätte wissen müssen, dass er gegen Zollvorschriften verstoße. Beteiligter sei nicht nur der Antragsteller, sondern jede mit der Erfüllung der Zollvorschriften befasste Person, also auch der Spediteur. Bei einem Beteiligten, der wegen seines Berufes regelmäßig mit Zollabfertigungen befasst sei (Spediteur), sei immer offensichtliche Fahrlässigkeit gegeben.

Dagegen brachte die Bf. mit folgender Begründung eine Bescheidbeschwerde ein:
Das Zollamt begründe die Ablehnung damit, dass offensichtliche Fahrlässigkeit gegeben sei. Dies bestreite die Bf., da der niederländische Versandschein **** mit der dafür im gVV vorgesehenen Kennung „ 821" eingetragen worden sei und das Fehlen des T1-Eintrages lediglich einen Arbeitsfehler darstelle. Zudem habe die Bf. den Fehler selbst bemerkt und daraufhin die niederländischen Zollbehörden informiert.
Bei der Anwendung des Art. 239 ZK habe die Zollbehörde das Interesse der Gemeinschaft an der Beachtung der Zollbestimmungen und das Interesse des Beteiligten daran, keine Nachteile zu erleiden, die über das normale Geschäftsrisiko hinausgehen würden, gegeneinander abzuwiegen.
Es würden somit besondere Umstände im Sinne des Art. 239 ZK vorliegen, da das Entziehen der Waren aus der zollamtlichen Überwachung die vorschriftsmäßige Abwicklung des Versandverfahrens im Endeffekt nicht beeinträchtigt habe. Außerdem sei die Wiedergestellung der Versandwaren trotz dieses Fehlers ordnungsgemäß erfolgt, wodurch sich im gegenständlichen Fall kein Unterschied zum Versand mit einem T1 ergebe.
Die Bf. verweise in diesem Zusammenhang auch auf die Entscheidung des unabhängigen Finanzsenates vom , ZRV/0009-Z2L/06.
Im Übrigen sei auch beim (bereits in Kraft befindlichen) neuen UZK unstrittig das Bemühen des Gesetzgebers gegeben, das Zollschuldrecht von seinem Sanktionscharakter zu befreien (siehe dazu auch Art. 124 Buchstabe h UZK).

Mit Beschwerdevorentscheidung vom , Zahl: 002, wies das Zollamt die Beschwerde als unbegründet ab.

Mit Eingabe vom stellte die Bf. fristgerecht einen Antrag auf Entscheidung über die Beschwerde durch das Bundesfinanzgericht (Vorlageantrag).
Darin brachte die Bf. vor, dass keine offensichtliche Fahrlässigkeit vorliege, da es sich hier um einen Arbeitsfehler handle. Das Zollamt habe das Vorbringen zu Art. 239 ZK, den Verweis auf die Entscheidung des unabhängigen Finanzsenates vom , ZRV/0009-Z2L/06, sowie auf Art. 124 Buchstabe h UZK wiederum gänzlich ignoriert.
Der Versandschein ****** sei vom türkischen Zoll ordnungsgemäß erledigt worden. Die Sendung sei unter ******* verzollt worden. Das Entziehen der Ware aus der zollamtlichen Überwachung habe die vorschriftsmäßige Abwicklung des Zollverfahrens nicht beeinträchtigt.

Das Zollamt legte in der Folge die Beschwerde mit Vorlagebericht vom dem Bundesfinanzgericht zur Entscheidung vor.

Über die Beschwerde wurde erwogen:

Die Beschwerdeführerin (Bf.), eine Spedition, übernahm die im Beschwerdefall in Rede stehenden im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren beförderten Nicht-Unionswaren am  als zugelassene Empfängerin nach Art. 406 ZK-DVO. Noch am selben Tag meldete die Bf. als zugelassene Versenderin nach Art. 398 ZK-DVO diese für einen türkischen Empfänger bestimmten Waren zu einem internen gemeinschaftlichen Versandverfahren an. Nach Annahme der Versandanmeldung T2 und Überlassung der Waren zum Versandverfahren wurden die Waren in der Folge aus dem Zollgebiet der Union verbracht und zur Bestimmungsstelle in die Türkei befördert, wo das Versandverfahren erledigt wurde und die Waren verzollt wurden.

Der angeführte Sachverhalt ergibt sich aus den vom Zollamt vorgelegten Verwaltungsakten sowie aus den Angaben und Vorbringen der Bf.

Ihren Erstattungsantrag gründete die Bf. auf Art. 239  der im Beschwerdefall noch anzuwendenden Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, ABL L 302 vom , (Zollkodex - ZK).
Diese Bestimmung lautete (auszugsweise):
„Artikel 239
(1) Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben können in anderen als den in den Artikeln 236, 237 und 238 genannten Fällen erstattet oder erlassen werden; diese Fälle
- werden nach dem Ausschussverfahren festgelegt;
- ergeben sich aus Umständen, die nicht auf betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten zurückzuführen sind. Nach dem Ausschussverfahren wird festgelegt, in welchen Fällen diese Bestimmung angewandt werden kann und welche Verfahrensvorschriften dabei zu beachten sind. Die Erstattung oder der Erlass kann von besonderen Voraussetzungen abhängig gemacht werden.

(2) Die Erstattung oder der Erlass der Abgaben aus den in Absatz 1 genannten Gründen erfolgt auf Antrag; ...."

Art. 899  der im Beschwerdefall noch anzuwendenden Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, ABlEG Nr. L 253 vom (Zollkodex-Durchführungsverordnung - ZK-DVO) bestimmt hierzu:
„(1) Stellt die Entscheidungsbehörde, bei der eine Erstattung oder ein Erlass nach Artikel 239 Absatz 2 ZK beantragt worden ist, fest
- dass die für diesen Antrag vorgebrachten Gründe einen der in den 900 bis 903 beschriebenen Tatbestände erfüllen und keine betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten vorliegt, so erstattet oder erlässt sie die betreffenden Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben;
- dass, die für diesen Antrag vorgebrachten Gründe einen der in Artikel 904 beschriebenen Tatbestände erfüllen, so lehnt sie die Erstattung oder den Erlass der Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben ab.

(2) In allen anderen Fällen, ausgenommen bei einer Befassung der Kommission gemäß Artikel 905, entscheidet die Entscheidungsbehörde von sich aus, die Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben zu erstatten oder zu erlassen, wenn es sich um besondere Fälle handelt, die sich aus Umständen ergeben, die nicht auf betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten zurückzuführen sind.

(3) Als „Beteiligte(r)" im Sinn des Artikels 239 Absatz 1 Zollkodex und im Sinn dieses Artikels gelten die Person oder die Personen nach Artikel 878 Absatz 1 oder ihr Vertreter sowie gegebenenfalls jede andere Person, die zur Erfüllung der Zollförmlichkeiten für die in Frage stehenden Waren tätig geworden ist oder die Anweisungen gegeben hat, die zur Erfüllung dieser Förmlichkeiten notwendig waren.
..."

Art. 905 ZK-DVO lautete (auszugsweise):
„Artikel 905

(1) Lässt die Begründung des Antrags auf Erstattung oder Erlass gemäß Artikel 239 Absatz 2 Zollkodex auf einen besonderen Fall schließen, der sich aus Umständen ergibt, bei denen weder eine betrügerische Absicht noch eine offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten vorliegt, so übermittelt der entscheidungsbefugte Mitgliedstaat den Fall der Kommission zur Entscheidung im Verfahren gemäß den Artikeln 906 bis 909,

  • wenn diese Behörde der Auffassung ist, dass sich der besondere Fall aus Pflichtverletzungen der Kommission ergibt oder

  • wenn der betreffende Fall im Zusammenhang steht mit Ergebnissen gemeinschaftlicher Ermittlungen im Rahmen der Verordnung (EG) Nr. 515/97 oder anderer gemeinschaftlicher Rechtsakte oder Abkommen, die die Gemeinschaft mit anderen Ländern oder Ländergruppen geschlossen hat und in denen die Möglichkeit der Durchführung derartiger gemeinschaftlicher Ermittlungen vorgesehen ist, oder

  • wenn die Abgaben, die bei einem Beteiligten infolge desselben besonderen Umstandes, gegebenenfalls auch für mehrere Einfuhr- oder Ausfuhrvorgänge, nicht erhoben wurden, 500.000 EUR oder mehr betragen.

Der Begriff „ Beteiligter" ist in gleicher Weise wie in Artikel 899 auszulegen.

...“

Nach Art. 899 ZK-DVO hat die Zollbehörde einen Antrag nach Art. 239 Abs. 2 ZK in folgender Reihenfolge zu prüfen (Witte, Zollkodex6, Art. 239 Rz 5):
„- Erfüllt der vorgetragene Sachverhalt einen der in Art. 900 bis 903 ZK-DVO beschriebenen Tatbestände und liegt keine betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit vor, ist zu erstatten oder zu erlassen (Art. 899 erster Anstrich ZK-DVO). Liegt dagegen betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit vor, ist der Antrag abzulehnen.
- Erfüllt der vorgetragene Sachverhalt einen der Tatbestände des Art. 904 ZK-DVO, ist der Antrag ebenfalls abzulehnen (Art. 899 zweiter Anstrich ZK-DVO).
- Erfüllt der im Antrag vorgetragene Sachverhalt die Billigkeitsgeneralklausel des Art. 905 Abs. 1 ZK-DVO, ohne dass betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit vorliegen und liegt der betreffende Abgabenbetrag unter 500.000,00 Euro, erstattet oder erlässt die Zollbehörde die Abgaben. Liegt betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit vor, lehnt die Zollbehörde den Antrag ab.
…"

§ 83 Zollrechts-Durchführungsgesetz (ZollR-DG) idF des Abgabenänderungsgesetzes 2010, BGBl. I Nr. 34/2010, lautete:

„ Im Falle einer Erstattung oder eines Erlasses der sonstigen Eingangs- und Ausgangsabgaben nach den Bestimmungen des Artikels 239 ZK in Verbindung mit Artikel 899 Abs. 2 ZK-DVO liegt ein besonderer Fall dann vor, wenn sich die Abgabenbelastung als unbillig nach Lage der Sache erweist oder wenn die Existenz des Abgabenschuldners durch die Abgabenbelastung ernsthaft gefährdet ist. Letzterenfalls stellt die betrügerische Absicht oder grobe Fahrlässigkeit des Beteiligten keinen Ausschließungsgrund für die Gewährung einer Erstattung oder eines Erlasses dar, sofern alle sonstigen Voraussetzungen vorliegen und eine Gesamtbetrachtung für eine Entscheidung zugunsten des Antragstellers spricht. Eine Vorlage an die Europäische Kommission hat zu unterbleiben."

Zwischen den Verfahrensparteien ist strittig, ob der dem Beschwerdeverfahren zugrundeliegende Sachverhalt den Tatbestand des Art. 239 ZK in Verbindung mit Art. 905 ZK-DVO erfüllt, indem er „auf einen besonderen Fall schließen lässt, der sich aus Umständen ergibt, bei denen weder eine betrügerische Absicht noch eine offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten vorliegt".

Beim Terminus „ besondere Fälle" in Art. 899 Abs. 2 erster Satz ZK-DVO handelt es sich um einen unbestimmten Gesetzesbegriff. Für gemeinschaftsrechtlich geschuldete Abgabenbeträge ergibt sich dessen Auslegung aus der Rechtsprechung des EuGH sowie aus der Entscheidungspraxis der Kommission zu Art. 239 ZK (vgl. Witte, Zollkodex6, Art. 239 Rz 53).

Besondere Umstände im Sinne des Art. 239 Abs. 1 zweiter Anstrich ZK in Verbindung mit Art. 905 Abs. 1 Unterabs. 1 ZK-DVO liegen vor, wenn sich der Wirtschaftsteilnehmer in einer Lage befindet, die gegenüber derjenigen anderer Wirtschaftsteilnehmer, die die gleiche Tätigkeit ausüben, außergewöhnlich ist oder wenn es angesichts des Verhältnisses zwischen dem Wirtschaftsteilnehmer und der Verwaltung unbillig wäre, den Wirtschaftsteilnehmer einen Schaden tragen zu lassen, den er bei rechtem Gang der Dinge nicht erlitten hätte. Dementsprechend können gewöhnliche Vorkommnisse, die auch andere, vergleichbare Wirtschaftsteilnehmer treffen können, keine besonderen Umstände darstellen (Witte, Zollkodex6, Art. 239 Rz 55 mit Verweis auf die Rspr.).

Im Fall eines Versands von Nichtgemeinschaftswaren mit einer Versandanmeldung T2 ging die Kommission in ihren Entscheidungen REM 9/98 vom , REM 43/97 vom , REM 11/97 vom oder etwa REM 16/97 vom vom Vorliegen besonderer Umstände im Sinne des Art. 239 ZK aus, da das Entziehen der Waren aus der zollamtlichen Überwachung in diesen Fällen den ordnungsgemäßen Ablauf der Verfahren im Endeffekt nicht beeinträchtigt hat, weil die Waren das Zollgebiet der Gemeinschaft verlassen haben und folglich nicht in den Wirtschaftskreislauf der Gemeinschaft eingegangen sind, was durch Verzollungsnachweise bestätigt worden ist, oder weil die Versandverfahren in Drittländern ordnungsgemäß abgeschlossen worden sind und die betreffenden Waren ihrem tatsächlichen Status entsprechend behandelt worden sind.

Diese Anforderungen treffen auch im hier gegenständlichen Beschwerdefall zu, da die Bf. mit der Vorlage der türkischen Zollpapiere beweiskräftige Unterlagen über das tatsächliche Verbringen der Waren aus dem Zollgebiet der Gemeinschaft vorgelegt hat und dadurch nachgewiesen hat, dass die Waren nicht in den Wirtschaftskreislauf der Union eingegangen sind.

Somit ist vom Vorliegen besonderer Umstände im Sinne des Art. 239 Abs. 1 zweiter Anstrich ZK in Verbindung mit Art. 905 Abs. 1 Unterabs. 1 ZK-DVO auszugehen. 

Aus dem eindeutigen Wortlaut des Art. 239 Abs. 1 zweiter Anstrich erster Satz ZK sowie des Art. 899 Abs. 2 ZK-DVO ergibt sich e contrario, dass Umstände, die auf betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten zurückzuführen sind, nicht „ besondere Fälle" im Sinn des Art. 899 Abs. 2 ZK-DVO sein können, in denen Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben erstattet werden können. Dieses Auslegungsergebnis steht im Einklang mit den Ausführungen des EuGH in seinem Urteil vom , C-48/98, Söhl & Söhlke, wonach das Fehlen einer „ offensichtlichen Fahrlässigkeit" unabdingbare Voraussetzung der Erstattung oder des Erlasses von Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben ist (RN 52; ).

Das Zollamt vertritt im angefochtenen Bescheid den Standpunkt, dass „ bei einem Beteiligten, der wegen seines Berufes regelmäßig mit Zollabfertigungen befasst sei (Spediteur), immer offensichtliche Fahrlässigkeit gegeben sei".

Im bereits genannten  hat der EuGH zur Frage, ob offensichtliche Fahrlässigkeit im Sinn des Art. 239 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Zollkodex vorliegt, ausgeführt, dass hiebei insbesondere die Komplexität der Vorschriften, deren Nichterfüllung die Zollschuld begründet, sowie die Erfahrung und die Sorgfalt des Wirtschaftsteilnehmers berücksichtigt werden müssen (RN 56). Hinsichtlich der Erfahrung des Wirtschaftsteilnehmers ist zu untersuchen, ob er im Wesentlichen im Einfuhr- und Ausfuhrgeschäft tätig ist und ob er bereits über eine gewisse Erfahrung mit der Durchführung dieser Geschäfte verfügt (RN 57). Was die Sorgfalt des Wirtschaftsteilnehmers betrifft, muss sich dieser, sobald er Zweifel an der richtigen Anwendung der Vorschriften hat, deren Nichterfüllung eine Abgabenschuld begründen kann, nach Kräften informieren, um die jeweiligen Vorschriften nicht zu verletzen (RN 58). Es ist Sache des nationalen Gerichts, auf der Grundlage dieser Beurteilungskriterien zu untersuchen, ob offensichtliche Fahrlässigkeit des Wirtschaftsteilnehmers vorliegt (RN 59).

Auf eine mangelnde Erfahrung im Bereich der Versandverfahren kann sich die Bf. als Spediteurin verschuldensmindernd nicht berufen.
Der Umfang der Beteiligung am Wirtschaftsleben ist jedoch nur eines jener Kriterien, das nach der Rechtsprechung des EuGH in die Bewertung einzubeziehen ist. Vor diesem Hintergrund erweist sich daher die Auffassung des Zollamtes, einem Spediteur könne immer offensichtliche Fahrlässigkeit unterstellt werden, als nicht berechtigt.

Der rechtliche Rahmen des hier in Rede stehenden Versandverfahrens ist im Hinblick auf die Vielzahl der zu beachtenden unionsrechtlichen Vorschriften in seiner Gesamtheit als komplex zu beurteilen. Andererseits ist die Regelung des Art. 91 Abs. 1 Buchstabe a ZK über das Erfordernis der Beförderung von Nichtgemeinschaftswaren bzw. Nichtunionswaren im externen Versandverfahren nicht als komplex anzusehen, sodass das Beurteilungskriterium der „ Komplexität der Vorschriften" im Beschwerdefall zu keinem eindeutigen Ergebnis führt.

Was die Prüfung der von der Bf. aufgewandten Sorgfalt betrifft, erfolgt die Abgrenzung der „offensichtlichen Fahrlässigkeit" im Sinn des Art. 239 Abs. 1 ZK von sonstiger Fahrlässigkeit danach, ob es sich um einen Fehler handelt, der „nicht hätte passieren dürfen", oder um einen Fehler, der „passieren kann" ( , mit Hinweis auf ; Alexander in Witte, Zollkodex6, RN 33 zu Art. 239).

In den vom Zollamt vorgelegten Verwaltungsakten finden sich keine Hinweise auf eine größere Anzahl von Verfehlungen oder auf Umstände, die auf eine insgesamt nicht ordnungsgemäße Abwicklung von Versandverfahren durch die Bf. hindeuten. Auch fehlen im Beschwerdefall Anhaltspunkte für die Annahme einer „ Fehlerkette", die nicht hätte passieren dürfen und die auch nach der Rechtsprechung zur Annahme einer offensichtliche Fährlässigkeit führt (vgl. ). Das Bundesfinanzgericht geht daher im Beschwerdefall von einem einmaligen Versehen der Bf. aus.

Nach Dafürhalten des Bundesfinanzgerichtes handelt es sich bei dieser einmaligen Verfehlung um einen Fehler, der „passieren kann" und nicht um einen über einen bloßen „ Arbeitsfehler" hinausgehenden Verstoß, weil dadurch die insgesamt ordnungsgemäße Abwicklung der Versandverfahren durch die Bf. nicht grundlegend beeinträchtigt wurde.

Aus den dargelegten Erwägungen lassen die Umstände des vorliegenden Falles in ihrer Gesamtheit und in Anwendung der von der EuGH-Rechtsprechung aufgestellten Beurteilungskriterien sowie in Anlehnung an die Entscheidungspraxis der Kommission keine offensichtliche Fahrlässigkeit der Bf. im Sinn der Art. 239 Abs. 1 ZK, Art. 899 Abs. 2 ZK-DVO erkennen.

Daher sieht es das Bundesfinanzgericht als gerechtfertigt an, dem Antrag auf Erstattung der Einfuhrabgaben stattzugeben.

Gleiches gilt im Hinblick auf § 2 Abs. 1 ZollR-DG, wonach die Bestimmungen des gemeinschaftlichen Zollrechts soweit nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist auch für die sonstigen Geldleistungen gelten, auch für die erhobene Abgabenerhöhung gemäß § 108 Abs. 1 ZollR-DG.

Für die Erstattung oder den Erlass von sonstigen Eingangs- und Ausgangsabgaben hat Österreich den Gesetzesbegriff des „ besonderen Falles" in § 83 ZollR-DG legal definiert (vgl. Erläuternde Bemerkungen zu Regierungsvorlage Nr. 916, XX. GP). Demnach liegt ein besonderer Fall dann vor, wenn sich die Abgabenbelastung als unbillig nach Lage der Sache erweist oder wenn die Existenz des Abgabenschuldners durch die Abgabenbelastung ernsthaft gefährdet ist (vgl. ).

Eine sachliche Unbilligkeit der Abgabenbelastung liegt dann vor, wenn im Einzelfall bei Anwendung des Gesetzes ein vom Gesetzgeber offenbar nicht beabsichtigtes Ergebnis eintritt (Ritz, BAO6, § 236 Tz 11).

Im gegenständlichen Fall ist unbestritten, dass die betreffenden Waren das Zollgebiet der Union verlassen haben und nicht in den Wirtschaftskreislauf der Union eingegangen sind, was durch Verzollungsnachweise aus dem Drittland bestätigt worden ist. Da durch die Ausstellung einer Versandanmeldung T2 der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens im Endeffekt nicht beeinträchtigt worden ist, liegt daher eine Unbilligkeit nach Lage der Sache vor.
Die Frage, ob bei dieser Sachlage vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des , Federal Express Corporation Deutsche Niederlassung, von einer „Einfuhr“ in Österreich im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie gesprochen werden kann, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens. 

Hinsichtlich der weiteren Voraussetzung des § 83 ZollR-DG, nämlich das Erfordernis des Nichtvorliegens einer offensichtlichen Fahrlässigkeit bei der Person des Beteiligten, gelten die diesbezüglichen Ausführungen hinsichtlich der Erstattung des Zolles.

Im Ergebnis ist somit auch die Erstattung der Einfuhrumsatzsteuer gerechtfertigt, zumal hierfür die Bf. nicht vorsteuerabzugsberechtigt ist.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Zulässigkeit einer Revision
Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts­hofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Da Fragen des Verschuldens grundsätzlich der einzelfallbezogenen Beurteilung des Verwaltungsgerichts zuzuordnen sind und nur dann eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung darstellen könnten, wenn die Beurteilung des Verwaltungsgerichtes in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise erfolgt wäre (vgl. etwa , und  ), ist e ine (ordentliche) Revision nicht zulässig. 

Linz, am

Zusatzinformationen


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Materie
Zoll
betroffene Normen
Art. 239 ZK, VO 2913/92, ABl. Nr. L 302 vom S. 1
Art. 899 Abs. 2 ZK-DVO, VO 2454/93, ABl. Nr. L 253 vom S. 1
Art. 905 ZK-DVO, VO 2454/93, ABl. Nr. L 253 vom S. 1
§ 83 ZollR-DG, Zollrechts-Durchführungsgesetz, BGBl. Nr. 659/1994
Verweise
ECLI
ECLI:AT:BFG:2020:RV.5200022.2017

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at