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Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 10.05.2019, RV/7101632/2017

Auch bei mitgliedstaatsübergreifendem Sachverhalt vorrangiger Familienbeihilfenanspruch der haushaltsführenden Mutter

Rechtssätze


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Folgerechtssätze
RV/7101632/2017-RS1
wie RV/7101889/2016-RS14
Ist die VO 883/2004 anzuwenden, ist nach Art. 67 VO 883/2004 i. V. m. Art. 60 Abs. 1 VO 987/2009 zu fingieren, dass sowohl die Voraussetzung des inländischen Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts (§ 2 Abs. 1 FLAG 1967) als auch die Voraussetzung des Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet (§ 2 Abs. 8 FLAG 1967) hinsichtlich aller Mitglieder der jeweiligen Familie ("beteiligten Personen") vorliegt, auch wenn einzelne oder alle Mitglieder dieser Familie tatsächlich in einem anderen Mitgliedstaat der Union (des EWR oder in der Schweiz) wohnen.

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter R. in der Beschwerdesache Bf. über die Beschwerde vom gegen den Bescheid der belangten Behörde Finanzamt Neunkirchen Wr. Neustadt vom , betreffend Rückforderung von Familienbeihilfe, soweit dieser über die Zeiträume 4-6/14, 8-12/14, 2-3/15, 6/15, 8-10/15 und 12/15 abspricht,  zu Recht erkannt: 

Die Beschwerde wird gemäß § 279 BAO als unbegründet abgewiesen.

Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) zulässig.

Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

Aus dem Familienbeihilfenakt sind folgende entscheidungsrelevante Umstände zu entnehmen:

Der Beschwerdeführer (Bf.) ist rumänischer Staatsbürger und seit dem Jahre 2011 in Österreich beschäftigt. Er hat zwei Kinder, für die er unter anderem im Zeitraum 05/2014 - 12/2015 Familienbeihilfe bezogen hat. Er ist von der Kindesmutter geschieden; seine Kinder leben seit April 2014 nicht mehr im gemeinsamen Haushalt, sondern bei der Kindesmutter in Rumänien. Diese ist nicht berufstätig.

Nach Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen forderte das Finanzamt vom Bf. Familienbeihilfe und Kinderabsetzbeträge für den obigen Zeitraum mit der Begründung zurück, die Unterhaltszahlungen an die Kinder seien zu gering gewesen und seien zu unregelmäßig erfolgt.

In der dagegen gerichteten Beschwerde brachte der Bf. vor, er habe seiner geschiedenen Gattin ab 2014 verschiedene Unterhaltsleistungen in bar erbracht. Dies wurde von der Gattin bestätigt.

Das Finanzamt gab der Beschwerde für die Monate Juli 2014 sowie Jänner, April, Juli und November 2015 statt. 

Im dagegen gerichteten Vorlageantrag führte der Bf. aus, die benötigten Unterlagen seien bei einem Brand seines Hauses vernichtet worden. Er lege die noch vorhandenen Unterlagen vor.

Im Vorlagebericht beantragte das Finanzamt, der Beschwerde nur für den Monat November 2015 stattzugeben, im Übrigen aber - also auch für die Monate, für die der Beschwerde mittels Beschwerdevorentscheidung bereits stattgegeben wurde - abzuweisen. Die durchschnittlichen Unterhaltsleistungen hätten in sämtlichen Monaten ausgenommen November 2015 die Hälfte des Regelbedarfssatzes für 2015 nicht erreicht.



II. Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

1. Sachverhaltsfeststellungen

Der oben dargestellte Sachverhalt ist unstrittig und wird der Entscheidung zugrundegelegt. Insbesondere ist es als erwiesen anzunehmen, dass die Kinder des Bf. in Rumänien im Haushalt der Kindesmutter, von der der Bf. geschieden ist, leben.

2. Rechtliche Würdigung

2.1 Streitzeitraum

Aus § 10 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG 1967) ergibt sich, dass Bezugszeitraum für die Familienbeihilfe der Kalendermonat ist.

Das Finanzamt hat der Beschwerde des Bf. für einzelne Monate des Streitzeitraumes bereits mit Beschwerdevorentscheidung stattgegeben. Da nicht unterstellt werden kann, dass sich der Vorlageantrag auch auf diejenigen Monate bezieht, für die der Beschwerde Folge gegeben wurde, kann im Rahmen dieses Erkenntnisses nur über die Monate abgesprochen werden, hinsichtlich derer der angefochtene Bescheid bestätigt wurde. Diese Monate sind im Spruch dieses Erkenntnisses angeführt.

2.2 Primärer Anspruch auf Familienbeihilfe aufgrund der Haushaltszugehörigkeit

2.2.1 Innerstaatliches Recht

Nach § 2 Abs. 1 lit. a FLAG 1967 haben Personen, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, für minderjährige Kinder Anspruch auf Familienbeihilfe. Nach Abs. 2 leg. cit. hat jene Person Anspruch auf Familienbeihilfe für ein im Abs. 1 genanntes Kind, zu deren Haushalt das Kind gehört. Eine Person, zu deren Haushalt das Kind nicht gehört, die jedoch die Unterhaltskosten überwiegend für das Kind trägt, hat dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn keine andere Person nach dem ersten Satz anspruchsberechtigt ist. 

Zum Haushalt einer Person gehört ein Kind gemäß § 2 Abs. 5 FLAG 1967 dann, wenn es bei einheitlicher Wirtschaftsführung eine Wohnung mit dieser Person teilt.

Gemäß § 5 Abs. 3 FLAG 1967 besteht kein Anspruch auf Familienbeihilfe für Kinder, die sich ständig im Ausland aufhalten.

In diesem Zusammenhang bestimmt jedoch § 53 Abs. 1 FLAG 1967, dass Staatsbürger von Vertragsparteien des Übereinkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), soweit es sich aus dem genannten Übereinkommen ergibt, in diesem Bundesgesetz österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt sind. Hierbei ist der ständige Aufenthalt eines Kindes in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraumes nach Maßgabe der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen dem ständigen Aufenthalt eines Kindes in Österreich gleichzuhalten.

Im Sinne des ersten Abschnittes des FLAG 1967 sind gemäß § 2 Abs. 3 FLAG 1967 Kinder einer Person deren Nachkommen (lit. a), deren Wahlkinder und deren Nachkommen (lit b), deren Stiefkinder (lit c) sowie deren Pflegekinder im Sinne der §§ 186, 186a ABGB.

2.2.2 Gemeinschaftsrecht

Artikel 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 lautet:

"Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen

Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Ein Rentner hat jedoch Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des für die Rentengewährung zuständigen Mitgliedstaats."

Gemäß Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 iVm § 2 Abs. 3 FLAG 1967 gilt diese Verordnung für den Bf., die Kindesmutter und deren gemeinsame Kinder, da diese rumänische Staatsbürger und damit Staatsangehörige eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union sind.

Der Kindesvater unterliegt aufgrund seiner nichtselbständigen Erwerbstätigkeit in Österreich gemäß Art. 11 Abs. 3 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 den österreichischen Rechtsvorschriften, die Kindesmutter unterliegt den rumänischen Rechtsvorschriften.

Da allerdings die Kindesmutter in Rumänien nicht berufstätig ist, sind die  Familienleistungen ausschließlich nach den österreichischen Bestimmungen zu gewähren. Zu klären ist allerdings die Frage, ob die Erwerbstätigkeit des Kindesvaters einen abgeleiteten Anspruch der Kindesmutter auslöst.

Dazu bestimmt Art. 60 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009:

"Die Familienleistungen werden bei dem zuständigen Träger beantragt. Bei der Anwendung von Artikel 67 und 68 der Grundverordnung ist, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf die Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr, berücksichtigt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind, einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem anderen Elternteil, einer als Elternteil behandelten Person oder von der Person oder Institution, die als Vormund des Kindes oder der Kinder handelt, gestellt wird."

Im , Tomislaw Trapkowski, hat der EuGH unter Hinweis auf die Familienbetrachtungsweise (Rn 36) mehrfach betont, dass die Frage, wem der Anspruch auf Familienleistungen (Differenzzahlungen) zusteht, ausschließlich nach den innerstaatlichen (hier also österreichischen) Rechtsvorschriften zu prüfen ist (siehe insbesondere die Rn 38 ff dieser Entscheidung), was sich im Übrigen schon unmissverständlich aus dem klaren und unzweideutigen Wortlaut des Art. 60 Abs. 1 zweiter Satz der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009 ergibt. Der EuGH stellte daher fest, dass der Anspruch auf Familienleistung auch einer Person zustehen kann, die nicht in dem Mitgliedsstaat wohnt, der für die Gewährung der Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind (Rn 41).

Das Unionsrecht selbst vermittelt somit keinen originären Anspruch auf nationale Familienleistungen. Es ist nach wie vor Sache der Mitgliedstaaten, wem sie unter welchen Voraussetzungen wie lange Familienleistungen zuerkennen. Das Unionsrecht verlangt allerdings im Allgemeinen, dass diese Zuerkennung diskriminierungsfrei erfolgen muss, und im Besonderen, dass die Familienangehörigen einer Person, die in den Anwendungsbereich der VO 883/2004 fällt, so zu behandeln sind, als hätten alle Familienangehörigen ihren Lebensmittelpunkt in dem Mitgliedstaat, der Familienleistungen gewähren soll (zB ; ; ; ; ; ; ; ).

Die nach Art. 67 VO 883/2004 iVm Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO 987/2009 vorzunehmende Fiktion bewirkt, dass die Wohnsituation auf Grundlage der im Streitzeitraum im anderen EU-Mitgliedstaat gegebenen Verhältnisse (fiktiv) ins Inland übertragen wird. Diese Fiktion besagt aber nur, dass zu unterstellen ist, dass alle Familienangehörigen im zuständigen Mitgliedstaat wohnen. Ob etwa ein gemeinsamer Haushalt besteht, ist dagegen sachverhaltsbezogen festzustellen (zB ; ; ; ; ;  ; ).

Wer von den unionsrechtlich grundsätzlich als anspruchsberechtigte Personen anzusehenden Familienangehörigen tatsächlich primär oder sekundär oder gar keinen Anspruch auf österreichische Familienleistungen hat, ist daher nach nationalem Recht zu beurteilen (zB ; ; ; ; ).

Wie oben ausgeführt, hat gemäß § 2 Abs. 2 FLAG 1967 Anspruch auf Familienbeihilfe für ein (im Abs. 1 genanntes) Kind die Person, zu deren Haushalt das Kind gehört. Eine Person, zu deren Haushalt das Kind nicht gehört, die jedoch die Unterhaltskosten für das Kind überwiegend trägt, hat dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn keine andere Person nach dem ersten Satz anspruchsberechtigt ist.

Da der Bf. im Streitzeitraum keinen gemeinsamen Haushalt mit seiner geschiedenen Ehegattin geführt hat, steht seinem Anspruch auf Familienbeihilfe der Umstand entgegen, dass primären Anspruch auf Familienbeihilfe die Person hat, zu deren Haushalt das Kind gehört, hier also die Kindesmutter.

Der vorrangige Anspruch auf Familienleistungen steht somit bei dem gegebenen Sachverhalt der Kindesmutter zu, solange die Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde nach in der Person des Bf. erfüllt sind. Der im Verwaltungsverfahren erörterten Frage der überwiegenden Kostentragung durch den Bf. kommt keine Entscheidungsrelevanz zu.

Die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (zuletzt ) ist durch die dargestellte Rechtsprechung des EuGH überholt. Die Ansicht des VwGH, dass eine überwiegende Kostentragung eines in Österreich erwerbstätigen Unionsbürgers, die bei bestehender Haushaltszugehörigkeit der Kinder zum anderen Elternteil nach dem anzuwendenden innerstaatlichem Recht keine Entscheidungsrelevanz hat, hier doch Voraussetzung für einen Differenzzahlungsanspruch sein soll, findet weder im Unionsrecht noch im innerstaatlichen Recht Deckung. Diese Rechtsansicht führte im Ergebnis regelmäßig zu einer Diskriminierung von Unionsbürgern (der haushaltsführenden Kindesmutter) gegenüber inländischen Staatsbürgern.

Im gegenständlichen Fall ist dabei weiters zu beachten, dass gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 3 VO 987/2009 das österreichische Finanzamt den vom Vater gestellten Antrag auf Ausgleichszahlung/Differenzzahlung bzw. Familienbeihilfe (und Kinderabsetzbetrag), wenn und soweit diesem ein Anspruch der haushaltsführenden Mutter vorgeht, zugunsten des Anspruchs der Mutter auf österreichische Familienleistungen zu berücksichtigen hat (sh. BFH , III R 68/13 und ; ; ). Dies muss in gleicher Weise auch dann gelten, wenn ursprünglich dem Kindesvater Familienleistungen gewährt wurden, die aber in weiterer Folge wieder rückgefordert wurden.

Ungeachtet des Umstandes, dass der Antrag des Bf. im Beschwerdefall als Antrag der Kindesmutter gilt, konnte dennoch die Beschwerde als unbegründet abgewiesen werden, da Partei dieses Verfahrens iSd § 78 BAO nur der Bf. ist und sich daher die Wirkung dieses Erkenntnisses nur auf ihn erstreckt (aA ; ; , wo mit Feststellungsbescheid nach § 92 BAO vorgegangen wurde).

3. Zulässigkeit einer Revision

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts­hofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Da das Erkenntnis von der – wenn auch durch die zitierte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes überholten – Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof zulässig (vgl. ).

Wien, am

Zusatzinformationen


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Materie
Steuer
FLAG
betroffene Normen
§ 10 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
§ 2 Abs. 1 lit. a FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
§ 2 Abs. 5 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
§ 5 Abs. 3 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
§ 53 Abs. 1 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
§ 2 Abs. 3 FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967
Art. 67 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 11 VO 883/2004, ABl. Nr. L 166 vom S. 1
Art. 60 VO 987/2009, ABl. Nr. L 284 vom S. 1
Verweise
ECLI
ECLI:AT:BFG:2019:RV.7101632.2017

Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at