Bescheidbeschwerde – Einzel – Erkenntnis, BFG vom 18.07.2017, RV/7104674/2016

Zeitpunkt des Eintritts eines 50%igen Behinderungsgrades

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter R. in der Beschwerdesache Bf. über die Beschwerde vom gegen den Bescheid der belangten Behörde Finanzamt Wien 2/20/21/22 vom , betreffend Abweisung eines Antrags auf Gewährung von erhöhter Familienbeihilfe für den Zeitraum August 2009 bis November 2013 zu Recht erkannt: 

Die Beschwerde wird gemäß § 279 BAO als unbegründet abgewiesen.

Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nichtzulässig.

Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

Aufgrund eines Antrags der Beschwerdeführerin (Bf.) auf Gewährung des Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe für ihren 2003 geborenen Sohn zunächst "ab dem Zeitpunkt des Eintrittes der erheblichen Behinderung, den die/der medizinische Sachverständige feststellt, im Höchstausmaß von rückwirkend fünf Jahren ab Antragstellung", sodann ergänzt ab Juli 2009, veranlasste das Finanzamt im Wege des Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumservice - SMS) die Erstellung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, das wie folgt lautete:

"Fach/Ärztliches Sachverständigengutachten

Betr.: L. H.

Vers.Nr.: 1234

Untersuchung am: 2014-06-13 12:20 im Bundessozialamt Wien

Identität nachgewiesen durch: RP

Anamnese:

Betreuung Prof. O. bei ADHS, Teilleistungsstörung. Medikation Strattera seit 2013, die notwendige Ergotherapie ist bislang nicht zustandegekommen. Verhaltensprobleme bestehen seit einigen Jahren, nachgereicht wird die Betreuungsbestätigung seit 12/2013

Behandlung/Therapie (Medikamente, Therapien - Frequenz):

20 Einheiten Ergotherapie geplant (refundiert). Strattera 60 mg.

Untersuchungsbefund:

interner Status unauffällig, guter AZ und EZ. Feinmotorik ungeschickt. Gang, Neurologie oB. Grobmotorik unauffällig

Status psychicus / Entwicklungsstand:

besucht Volksschule, ASO Lehrplan in Deutsch und Rechnen. KMS geplant. In Untersuchungssituation mit gameboy beschäftigt ruhig. In Schule wenig konzentriert, Medikamente haben etwas geholfen. Schlechte Sozialisierung, da eigensinnig. Oft später Schulbesuch, da Verweigerung.

Relevante vorgelegte Befunde:

2014-06-12 KJP

Diagnose ADHS, sensorische Integrationsstörung, Teilleistungsstörung. Medikation laufend. Nun Ergotherapie möglich, da Refundierung über Kinderhilfsfond

2014-06-16 PROF O.

Betreuung seit 12/2013

Diagnose(n):

ADHS, Teilleistungsprobleme

Richtsatzposition: 030402 Gdb: 050% ICD: F90.0

Rahmensatzbegründung: URS, da unter Medikation Stabilisierung

Gesamtgrad der Behinderung: 50 vH voraussichtlich mehr als 3 Jahre anhaltend. Eine Nachuntersuchung in 3 Jahren ist erforderlich.

Die rückwirkende Anerkennung der Einschätzung des Grades d. Behinderung ist ab 2013-12-01 aufgrund der vorgelegten relevanten Befunde möglich.

Der(Die) Untersuchte ist voraussichtlich n i c h t dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

ab Beginn der Betreuung KJP

erstellt am 2014-06-27 von FAKuJ

Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde

zugestimmt am 2014-06-30

Leitender Arzt: LA"

Aufgrund dieses Gutachtens erließ das Finanzamt einen Bescheid, mit dem der Antrag für den Zeitraum August 2009 bis November 2011 abgewiesen wurde.

In der dagegen gerichteten Beschwerde brachte die Bf. vor, ihr Kind hätte die Krankheit ab der Geburt, ein Kind bekomme das nicht von heute auf morgen, bei ihren Kindern sei das erblich. Ferner verwies sie auf die Kosten der Therapie.

Das Finanzamt veranlasste im Wege des SMS die Erstellung eines weiteren Gutachtens:

"Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen,
BASB Landesstelle Wien

Sachverständigengutachten
(mit Untersuchung)
nach der Einschätzungsverordnung (BGBI. II Nr. 261/2010)

Name der/des Untersuchten: H. G. L.
Geschlecht: Männlich
Geburtsdatum: 2003
...
Rechtsgebiet: FLAG
...
Begutachtung durchgeführt am in der Zeit von 10:00 bis 10:30 Uhr
Untersuchung: In der Landesstelle des Sozialministeriumservice
Dolmetsch anwesend: NEIN Name:
Begleitperson anwesend: JA Name: KM
...
Name der / des Sachverständigen Dr. FAKM
Fachgebiet der / des Sachverständigen: Kindermedizin

Anamnese:
Überprüf. d. lf. Bezugs bei ASO Beschulung in den Hauptgegenständen wie Mathem.,
Deutsch, Englisch und ADHD Problematik. Die deutliche kognitive Einschränkung ist rezent vom AKH, Kinderpsych.‚ Prof. O. wiederbestätigt worden.
Derzeitige Beschwerden:
Leichte soziale Beeinträchtigung
Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
Derzeit keine Therapien, Ergotherapie beendet.
Medikation mit Strattera 60mg 1/die.
Sozialanamnese:
Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
Prof. O. Kinderpsych. Univ. Klinik: ADHD und eingeschränkte kognitive
Leistungsfähigkeit, komorbide Teilleistungsproblematik und Störung der sensorischen
Integration. Braucht ET, Familienbetreuung, Medikation.
Untersuchungsbefund:
Allgemeinzustand: o.B.
Ernährungszustand: o.B.
...
Status (Kopf/Fußschema) — Fachstatus:
Intern pädiatr. o.B.
Gesamtmobilität — Gangbild:
Neurostatus o.B.
Psycho(patho)logischer Status:
Wenig kooperativ, spielt mit Game Boy, keine emotional-affektive Korrespondenz,
unstimmige Interaktion mit dem kleinen Bruder. Durchschlafstörung berichtet, redet im
Schlaf.

Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:


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Lfd. Nr.
Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:
Begründung der Rahmensätze:
Pos.Nr.
Gdb %
1
Kognitive Leistungseinschränkung, Intelligenzminderung mit sozialer Anpassungsstörung, ADHD.
URS, da gute Alltagsbewältigung bei sozialen Problemen.
50

Gesamtgrad der Behinderung 50 v. H.
...
Der festgestellte Grad der Behinderung wird voraussichtlich mehr als 3 Jahre andauern:
ja

GdB liegt vor seit: 12/2013
Herr H. G. L. ist voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen: NEIN

Anmerkung bzw. Begründung betreffend die Fähigkeit bzw. voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen:
xxx

Nachuntersuchung: in 3 Jahren
Anmerkung hins. Nachuntersuchung:

Gutachten erstellt am von Dr. FAKM
Gutachten vidiert am von Dr. LA"

Das Finanzamt wies die Beschwerde mit Beschwerdevorentscheidung mit der Begründung ab, dass auch das neuerliche Gutachten einen Behinderungsgrad von 50% erst ab Dezember 2013 bestätigt habe, weshalb für den Streitzeitraum August 2009 bis November 2013 kein Anspruch auf erhöhte Familienbeihilfe bestehe.

Im Vorlageantrag brachte die Bf. vor, der untersuchende Arzt habe das Gutachten nicht in Hinblick auf die Rückwirkung erstellt.

II. Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

1. Sachverhaltsfeststellungen

Das Bundesfinanzgericht nimmt es als erwiesen an, dass beim Sohn der Bf. ein Behinderungsgrad von 50% erst ab Dezember 2013 besteht.

2. Beweiswürdigung

Der Verfassungsgerichtshof hat im Erkenntnis , ausgeführt, dass der Gesetzgeber die Frage des Grades der Behinderung, und die (damit ja in der Regel unmittelbar zusammenhängende) Frage der voraussichtlich dauernden Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, der eigenständigen Beurteilung der Familienbeihilfenbehörden entzogen und dafür ein qualifiziertes Nachweisverfahren eingeführt habe, bei dem eine für diese Aufgabenstellung besonders geeignete Institution eingeschaltet werde und der ärztliche Sachverstand die ausschlaggebende Rolle spiele. Der Gesetzgeber habe daher mit gutem Grund die Beurteilung der Selbsterhaltungsfähigkeit jener Institution übertragen, die auch zur Beurteilung des Behinderungsgrades berufen sei. Die Beihilfenbehörden hätten bei ihrer Entscheidung jedenfalls von dieser durch ärztliche Gutachten untermauerten Bescheinigung auszugehen und könnten von ihr nur nach entsprechend qualifizierter Auseinandersetzung abgehen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich seitdem in mehreren Erkenntnissen (vgl ; ) der Rechtsansicht des Verfassungsgerichtshofes angeschlossen; daraus folgt, dass auch das Bundesfinanzgericht für seine Entscheidungsfindung die ärztlichen Sachverständigengutachten heranzuziehen hat, sofern diese als schlüssig anzusehen sind. Es ist also im Rahmen dieses Beschwerdeverfahrens zu überprüfen, ob die erstellten Sachverständigengutachten diesem Kriterium entsprechen.

Dies ist eindeutig zu bejahen; wenn sich die widerspruchsfreien Gutachten hinsichtlich des Zeitpunktes des Eintrittes eines 50%igen Behinderungsgrades auf den Beginn der Betreuung ab 12/2013 beziehen, ist ihnen eine schlüssige und nachvollziehbare Beurteilung keinesfalls abzusprechen (sh ).

Hinzuweisen ist darauf, dass der Behinderungsgrad bei gleichbleibendem Krankheitsbild auch vom Alter des Kindes abhängt. Das Ausmaß eines Entwicklungsrückstandes etwa stellt sich je nach Alter des Kindes unterschiedlich dar, da die Fertigkeiten, die ein Kind im Kinderg­artenalter beherrschen sollte, sich wesentlich von jenen, die von einem Schulkind erwartet werden, unterscheiden. Das Ausmaß eines Entwicklungsrückstandes ist daher immer im Vergleich zum Entwicklungsstand gleichaltriger gesunder Kinder zu sehen. So kann schon im Kindergartenalter ein gewisser Entwicklungsrückstand vorliegen, der sich aber bis zum Schulalter weiter vergrößern und einen höheren Behinderungsgrad herbeiführen kann (s Lenneis in Csaszar/Lenneis/Wanke, FLAG, § 8 Rz 11 mwN). Genau hierauf nehmen die Gutachten Rücksicht.

Die beiden im Juni 2014 und März 2015 erstellten Gutachten haben - da sie den Eintritt der erheblichen Behinderung bereits mit Dezember 2013 ausgesprochen haben - auch sehr wohl eine rückwirkende Anerkennung vorgenommen.

3. Rechtliche Beurteilung

§ 8 Abs. 5 und 6 FLAG 1967 lauten:

"(5) Als erheblich behindert gilt ein Kind, bei dem eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung besteht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von voraussichtlich mehr als drei Jahren. Der Grad der Behinderung muß mindestens 50 vH betragen, soweit es sich nicht um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Für die Einschätzung des Grades der Behinderung sind § 14 Abs. 3 des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, in der jeweils geltenden Fassung, und die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung) vom , BGBl. II Nr. 261/2010, in der jeweils geltenden Fassung anzuwenden. Die erhebliche Behinderung ist spätestens nach fünf Jahren neu festzustellen, soweit nicht Art und Umfang eine Änderung ausschließen.

(6) Der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, ist durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen. Die diesbezüglichen Kosten sind aus Mitteln des Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen zu ersetzen."

Was die Ausführungen der Bf. anlangt, die Behinderung habe bereits seit der Geburt bestanden, ist sie auf das Erkenntnis des zu verweisen, in dem der Gerichtshof (zum Vorliegen einer Erwerbsunfähigkeit) Folgendes ausführt:

"§ 6 Abs 2 lit d FLAG stellt darauf ab, dass der Vollwaise auf Grund einer zu einem bestimmten Zeitpunkt eingetretenen Behinderung außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Eine derartige geistige oder körperliche Behinderung kann durchaus die Folge einer Krankheit sein, die schon seit Längerem vorliegt (bei angeborenen Krankheiten oder genetischen Anomalien etwa seit Geburt), sich jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt manifestiert. Erst wenn diese Krankheit zu einer derart erheblichen Behinderung führt, welche die Erwerbsunfähigkeit bewirkt, ist der Tatbestand des § 6 Abs 2 lit d FLAG erfüllt. Mithin kommt es weder auf den Zeitpunkt an, zu dem sich eine Krankheit als solche äußert, noch auf den Zeitpunkt, zu welchem diese Krankheit zu (irgend) einer Behinderung führt. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, zu dem diejenige Behinderung (als Folge der allenfalls schon länger bestehenden Krankheit) eintritt, welche die Erwerbsunfähigkeit bewirkt."

Besteht - wie oben ausgeführt - eine Bindung an die im Wege des SMS erstellten und bescheinigten Gutachten, sofern diese als schlüssig und nachvollziehbar anzusehen sind, erfolgte die Abweisung des Antrags auf erhöhte Familienbeihilfe für den Streitzeitraum zu Recht.

Zulässigkeit einer Revision

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts­hofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Diese Voraussetzung liegt im Beschwerdefall nicht vor, da sich die Frage der Bindung an die im Wege des SMS erstellten Gutachten auf die ständige, oben wiedergegebene Judikatur des VwGH stützt.

Wien, am

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Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at