VfGH vom 28.06.2023, E659/2023
Leitsatz
Auswertung in Arbeit
Spruch
I.Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Ausreisefreiheit (Art2 4. ZPEMRK) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II.Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, ihm wurde am der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Im Jahr 2021 wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten rechtskräftig aberkannt. Er verfügt über den Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt – EU", wobei sein diesem Aufenthaltstitel entsprechendes Dokument iSd §20 Abs3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) bis gültig ist.
2. Am stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Ausstellung eines Fremdenpasses gemäß §88 Abs1 Z2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom abgewiesen wurde.
3. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom als unbegründet ab. Begründend führte es im Wesentlichen aus, die zentrale Voraussetzung des §88 Abs1 FPG sei, dass die Ausstellung eines Fremdenpasses im Hinblick auf die Person des Betroffenen im Interesse der Republik Österreich gelegen sei. Der Beschwerdeführer führe an, dass er seine kranke Mutter im Iran besuchen wolle, ihm aber kein Pass durch die afghanische Botschaft ausgestellt werden könne. Damit habe er ein Interesse der Republik Österreich an der Ausstellung eines Fremdenpasses nicht dargelegt. Zwar könne ein öffentliches Interesse auch vorliegen, wenn die Republik Österreich zur Ausstellung eines Reisedokumentes gemeinschaftsrechtlich verpflichtet sei oder wenn Geschäfts- und Dienstreisen unternommen werden müssten. Die Erkrankung der Mutter des Beschwerdeführers erfülle diese Anforderungen allerdings nicht. Die Verweigerung der Ausstellung des Fremdenpasses verletze auch Art11 Richtlinie 2003/109/EG betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen nicht, weil der Zugang zum gesamten Hoheitsgebiet lediglich innerhalb der in den nationalen Rechtsvorschriften aus Gründen der Sicherheit vorgesehenen Grenzen zu gewähren sei (Abs1 lith leg cit) und auch die vom Beschwerdeführer ins Treffen geführte Gleichbehandlung hinsichtlich des Zuganges zu einer unselbständigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit (Abs1 lita leg cit) nur innerhalb dieser Grenzen zustehe. Entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers bestünden auch keine Zweifel an der Vereinbarkeit des §88 FPG mit dem durch Art2 4. ZPEMRK gewährleisteten Recht auf Ausreisefreiheit, weil die Bestimmung die Verantwortungsübernahme Österreichs gegenüber Gastländern beschränke und den Eingriff in die Souveränität anderer Staaten durch die Bindung an die Einhaltung bestimmter formeller Kriterien möglichst gering halten wolle. §88 FPG sei daher nicht nur hinreichend bestimmt, sondern auch notwendig und verhältnismäßig.
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes und in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet sowie die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
Darin wird im Wesentlichen ausgeführt:
4.1. §88 Abs1 FPG stelle einen Eingriff in das Recht auf Ausreisefreiheit nach Art2 4. ZPEMRK dar. Allerdings sei die Norm schon deshalb verfassungswidrig, weil sie den Determinierungsanforderungen des Art18 B-VG nicht entspreche und somit den Grundrechtseingriff nicht ausreichend vorausbestimme. Gleichzeitig verunmögliche §88 FPG dadurch, dass die Ausstellung des Fremdenpasses im Interesse der Republik Österreich gelegen sein müsse, die Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. Folglich könne im Einzelfall nicht geprüft werden, ob der Eingriff in das Recht auf Ausreisefreiheit mit den Anforderungen des Art2 Abs3 4. ZPEMRK vereinbar sei.
4.2. Ferner verletze die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes auch das Recht auf ein faires Verfahren nach Art6 EMRK. Das Bundesverwaltungsgericht habe es nämlich unterlassen, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, weshalb der Beschwerdeführer keine Möglichkeit gehabt habe, zu schildern, warum der Besuch bei seiner kranken Mutter für ihn von besonderer Wichtigkeit sei. Daraus resultierend sei auch die Auseinandersetzung damit, ob der Eingriff in die Rechte des Beschwerdeführers verhältnismäßig sei, unterblieben.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.
II. Rechtslage
§88 Bundesgesetz über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel (Fremdenpolizeigesetz 2005 – FPG), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 68/2013 lautet:
"Ausstellung von Fremdenpässen
§88. (1) Fremdenpässe können, sofern dies im Hinblick auf die Person des Betroffenen im Interesse der Republik gelegen ist, auf Antrag ausgestellt werden für
1. Staatenlose oder Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit, die kein gültiges Reisedokument besitzen;
2. ausländische Staatsangehörige, die über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verfügen und nicht in der Lage sind, sich ein gültiges Reisedokument ihres Heimatstaates zu beschaffen;
3. ausländische Staatsangehörige, die nicht in der Lage sind, sich ein gültiges Reisedokument ihres Heimatstaates zu beschaffen und bei denen im Übrigen die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels 'Daueraufenthalt – EU' (§45 NAG) gegeben sind;
4. ausländische Staatsangehörige, die nicht in der Lage sind, sich das für die Auswanderung aus dem Bundesgebiet erforderliche Reisedokument ihres Heimatstaates zu beschaffen oder
5. ausländische Staatsangehörige, die seit mindestens vier Jahren ununterbrochen ihren Hauptwohnsitz im Bundesgebiet haben, sofern der zuständige Bundesminister oder die Landesregierung bestätigt, dass die Ausstellung des Fremdenpasses wegen der vom Fremden erbrachten oder zu erwartenden Leistungen im Interesse des Bundes oder des Landes liegt.
(2) Fremdenpässe können auf Antrag weiters ausgestellt werden für Staatenlose, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, oder Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit, die kein gültiges Reisedokument besitzen und sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten.
(2a) Fremdenpässe sind Fremden, denen in Österreich der Status des subsidiär Schutzberechtigten zukommt und die nicht in der Lage sind, sich ein gültiges Reisedokument ihres Heimatstaates zu beschaffen, auf Antrag auszustellen, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen.
(3) Die Gestaltung der Fremdenpässe wird entsprechend den für solche Reisedokumente international üblichen Anforderungen durch Verordnung des Bundesministers für Inneres bestimmt. Im Übrigen hat die Verordnung den für Reisepässe geltenden Regelungen des Paßgesetzes 1992, BGBl Nr 839, zu entsprechen.
(4) Hinsichtlich der weiteren Verfahrensbestimmungen über die Ausstellung eines Fremdenpasses, der Bestimmungen über die Verarbeitung und Löschung von personenbezogenen Daten und der weiteren Bestimmungen über den Dienstleister gelten die Bestimmungen des Paßgesetzes entsprechend."
III. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Ausreisefreiheit gemäß Art2 4. ZPEMRK liegt ua dann vor, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zur genannten Bestimmung stehend erscheinen ließe.
3. Nach Art2 Abs2 4. ZPEMRK steht es jedermann frei, jedes Land (einschließlich seines eigenen) zu verlassen. Die Ausübung dieses Rechtes darf gemäß Art2 Abs3 4. ZPEMRK keinen anderen Einschränkungen unterworfen werden als denen, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung des ordre public, der Verhütung von Straftaten, des Schutzes der Gesundheit oder der Moral oder des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind.
4. In seinem Urteil vom , 38.121/20, L.B., hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ua betont, dass das Recht, ein Land zu verlassen, ohne Ausstellung irgendeiner Art von Reisedokument nicht praktisch und effektiv gewährleistet wäre (Z60). Jede Maßnahme, durch die einer Person der Gebrauch eines Dokumentes versagt wird, das ihr – wenn sie es gewünscht hätte – das Verlassen eines Landes erlaubt hätte, stellt einen Eingriff in das durch Art2 4. ZPEMRK gewährleistete Recht dar (Z79 mwN). Schließlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im genannten Urteil eine Verletzung von Art2 4. ZPEMRK festgestellt, weil die nationalen Behörden die Ausstellung eines Fremdenpasses verweigert hatten, ohne eine Abwägung im Einzelfall vorgenommen zu haben und sichergestellt zu haben, dass eine solche Maßnahme im konkreten Einzelfall gerechtfertigt und verhältnismäßig war (Z96).
5. Wie der Verfassungsgerichthof bereits im Erkenntnis vom , E3489/2022 betont hat, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im zitierten Urteil zugleich festgehalten, dass Art2 Abs2 4. ZPEMRK den Vertragsstaaten keine allgemeine Verpflichtung auferlegt, Ausländern, die sich in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten, ein bestimmtes Dokument auszustellen, das ihnen Auslandsreisen ermöglicht (Z59). Gleichwohl findet Art2 Abs2 4. ZPEMRK nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte auf Sachverhalte Anwendung, in denen ein Vertragsstaat Personen, die sich rechtmäßig in seinem Hoheitsgebiet aufhalten, in seiner Rechtsordnung bei Erfüllung der notwendigen Voraussetzungen ein Recht auf Erlangung eines Fremdenpasses einräumt; der Schutzbereich von Art2 Abs2 4. ZPEMRK erstreckt sich also auf derartige Konstellationen (siehe Zlen 61 f.).
6. Vor diesem Hintergrund ist Folgendes festzuhalten:
7. Gemäß §88 Abs1 Z3 FPG können für ausländische Staatsangehörige, die nicht in der Lage sind, sich ein gültiges Reisedokument ihres Heimatstaates zu beschaffen und bei denen im Übrigen die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt – EU" (vgl §45 NAG) gegeben sind, auf Antrag Fremdenpässe ausgestellt werden, sofern dies im Hinblick auf die Person des Betroffenen im Interesse der Republik gelegen ist.
8. Dem Verfahren zur Ausstellung von Fremdenpässen gemäß §88 Abs1 FPG kommt nun insofern grundrechtliche Bedeutung zu, als die Behörde anlässlich eines solchen Antrages die Folgen einer Verweigerung auf ihre Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf Art2 4. ZPEMRK prüfen kann und muss (vgl EGMR, L.B., Z96 sowie ).
9. Angesichts dessen ist die – auch dem Bestimmtheitsgebot des Art18 B-VG entsprechende (vgl zur prinzipiellen Unbedenklichkeit der Verwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe etwa mwN) – Voraussetzung "sofern dies im Hinblick auf die Person des Betroffenen im Interesse der Republik" liegt in §88 Abs1 FPG auch dann erfüllt, wenn die Verweigerung der Ausstellung eines Fremdenpasses eine Verletzung des durch Art2 4. ZPEMRK gewährleisteten Rechtes auf Ausreisefreiheit und damit einen Verstoß gegen die Verpflichtung der Republik Österreich zur Gewährleistung dieses Konventionsrechtes bedeuten würde (vgl sowie VfSlg 20.330/2019 zu §28 Abs1 Z1 StbG).
10. Da das Bundesverwaltungsgericht die Ausstellung eines vom Beschwerdeführer (ua um seine kranke Mutter im Ausland besuchen zu können) beantragten Fremdenpasses verweigert hat, ohne eine Interessenabwägung und damit eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen, hat es §88 Abs1 FPG einen Art2 4. ZPEMRK widersprechenden Inhalt unterstellt.
IV. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Ausreisefreiheit (Art2 4. ZPEMRK) verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.
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ECLI: | ECLI:AT:VFGH:2023:E659.2023 |
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