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VfGH 19.09.2023, E3316/2022

VfGH 19.09.2023, E3316/2022

Leitsatz

Auswertung in Arbeit

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung und gegen die Zulässigkeit der Abschiebung in die Mongolei abgewiesen und eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise festgesetzt wird, in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Die Beschwerde wird insoweit dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Mongolei. Er stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz, nachdem er sich zuvor von 2016 bis 2018 auf Grund einer Aufenthaltsbewilligung zum Zweck "Student" in Österreich aufgehalten hatte.

2. Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag hinsichtlich der Zuerkennung von Asyl sowie der Zuerkennung von subsidiärem Schutz in Bezug auf den Herkunftsstaat Mongolei ab. Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung in die Mongolei zulässig sei. Gleichzeitig wurde keine Frist für die freiwillige Ausreise festgesetzt und einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt.

3. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde, in der er unter anderem vorbringt, er führe in Österreich "ein enges Familienleben" und sei "ein fürsorglicher Lebenspartner und Familienvater". Seine Lebensgefährtin und das gemeinsame Kind verfügten in Österreich über Aufenthaltstitel und bedeute die gegen ihn erlassene Rückkehrentscheidung eine gewaltsame Trennung der Familie.

4. Mit Erkenntnis vom wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde – der es zuvor mit Beschluss vom die aufschiebende Wirkung zuerkannt hatte – als unbegründet ab und setzte gleichzeitig eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

4.1. Zur Frage der Rechtmäßigkeit der Rückkehrentscheidung traf das Bundesverwaltungsgericht ua folgende Feststellungen:

"In Österreich führt der Beschwerdeführer ein Familienleben mit seiner Lebensgefährtin und dem im März 2020 im Bundesgebiet geborenen Sohn, den er im Februar 2021 anerkannte. Seit ist der Beschwerdeführer in der Wohnung seiner Partnerin gemeldet. Die Lebensgefährtin lernte er laut eigenen Angaben 2018 im Bundesgebiet kennen, ein Paar sind sie seit einem Aufenthalt der Freundin 2019 in der Mongolei.

Die Lebensgefährtin und das Kind sind mongolische Staatsangehörige. Der Sohn wurde im März 2020 im Bundesgebiet geboren, der Beschwerdeführer erkannte die Vaterschaft im Februar 2021 an.

Die Lebensgefährtin ist seit September 2014 im Bundesgebiet gemeldet, konnte einen bis gültigen Aufenthaltstitel als Studierende und für das Kind eine bis gültige Aufenthaltsbewilligung als Familienangehöriger vorlegen. Sie bestand im Bundesgebiet die Diplomprüfung im International Business College und die Personalverrechner-Prüfung des WIFI. Zudem hat sie eine Arbeitgebererklärung eines Steuerberaters vom und die Einreichbestätigung des Amtes der Wiener Landesregierung bezüglich des Antrags auf Erteilung der Rot-Weiß-Rot-Karte Fachkraft Mangelberuf vom . Derzeit ist sie jedoch im Bundesgebiet mangels Aufenthaltstitels nicht selbsterhaltungsfähig und bezieht Arbeitslosengeld.

Festgestellt wird, dass in einer Gesamtschau die Fortsetzung des Familienlebens in der Mongolei zumutbar ist."

5. In seiner rechtlichen Beurteilung wiederholt das Bundesverwaltungsgericht die zuvor getroffenen Feststellungen wörtlich und führt ergänzend Folgendes aus:

"Festgestellt wird, dass in einer Gesamtschau und unter Berücksichtigung der Länderberichte die Fortsetzung des Familienlebens in der Mongolei – auch der Partnerin und dem Kind, welches schon altersbedingt keine Integrationsschritte setzen konnte, sich in einem anpassungsfähigen Alter befindet, das bei mongolischen Eltern sozialisiert wurde und dessen Großeltern in der Mongolei leben - zumutbar ist."

6. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

7. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und – wie auch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II. Erwägungen

Die Beschwerde ist zulässig.

A. Soweit sie sich gegen die Rückkehrentscheidung und die Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Mongolei unter Festsetzung einer vierzehntägigen Frist zur freiwilligen Ausreise richtet, ist sie auch begründet:

1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 11.638/1988, 19.692/2012, 20.063/2016, 20.100/2016, 20.227/2016; ua).

Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine Aufenthaltsbeendigung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).

Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind die konkreten Auswirkungen der Entscheidung und die Konsequenzen einer Aufenthaltsbeendigung für einen Elternteil auf das Familienleben und das Kindeswohl etwaiger Kinder des Betroffenen zu erörtern (vgl hiezu mwN; zur Bedeutung der mit einer Trennung der Betroffenen von ihrem Kind verbundenen Auswirkungen vgl VfSlg 19.362/2011; ). Einer mit der Ausweisung verbundenen Trennung von Familienmitgliedern kommt eine entscheidungswesentliche Bedeutung zu (vgl VfSlg 18.388/2008, 18.389/2008, 18.392/2008). Die Intensität der privaten und familiären Bindungen im Inland ist dabei zu berücksichtigen (VfSlg 18.748/2009). Davon ausgehend kann eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung in Art8 EMRK führen (vgl ; , E2261/2022; vgl auch Lais/Schön, Das Kindeswohl in der Rechtsprechung von VfGH und VwGH, RZ2021, 211 [216]).

2. Vor diesem Hintergrund ist die Interessenabwägung des Bundesverwaltungsgerichtes nach Art8 Abs2 EMRK mit einem in die Verfassungssphäre reichenden Fehler behaftet:

2.1. Das Bundesverwaltungsgericht führt in seinen Feststellungen aus, der Beschwerdeführer habe ein im März 2020 geborenes Kind mit einer in Österreich lebenden Staatsangehörigen der Mongolei, die in Österreich über einen Aufenthaltstitel zum Zweck "Student" verfüge. Der Beschwerdeführer sei seit in der Wohnung seiner Lebensgefährtin gemeldet. Darüber hinausgehende Feststellungen zur Intensität und konkreten Ausgestaltung des Familienlebens – insbesondere zwischen dem Beschwerdeführer und seinem minderjährigen Sohn im Kleinkindalter – trifft das Bundesverwaltungsgericht nicht. Es befragte den Beschwerdeführer hiezu auch nicht in der mündlichen Verhandlung am .

2.2. In der rechtlichen Beurteilung hält das Bundesverwaltungsgericht fest, dass die Fortsetzung des Familienlebens in der Mongolei – auch der Partnerin und dem Kind, welches schon altersbedingt keine Integrationsschritte setzen habe können und sich in einem anpassungsfähigen Alter befinde – zumutbar sei. Dabei lässt das Bundesverwaltungsgericht unberücksichtigt, dass sowohl die Lebensgefährtin des Beschwerdeführers als auch der gemeinsame minderjährige Sohn zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses auf Grund von Aufenthaltsbewilligungen zum Aufenthalt in Österreich berechtigt waren und gegen sie keine Rückkehrentscheidungen erlassen wurden.

2.3. Vor dem Hintergrund seiner Feststellungen hätte das Bundesverwaltungsgericht daher – für den Fall eines Verbleibs der Lebensgefährtin und des gemeinsamen Kindes in Österreich – prüfen müssen, ob die aufenthaltsbeendende Maßnahme und die damit verbundene Trennung von seinem Kind den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art8 EMRK verletzt. Daher hat das Bundesverwaltungsgericht einen wesentlichen Gesichtspunkt des konkreten Sachverhaltes, nämlich die Auswirkungen der Aufenthaltsbeendigung auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers – insbesondere die Beziehung zu seinem Kind – sowie das Kindeswohl dieses Kindes für den Fall, dass die Lebensgefährtin und das gemeinsame Kind nicht mit dem Beschwerdeführer in die Mongolei zurückkehren, vollständig außer Acht gelassen (vgl VfSlg 19.776/2013; ; , E3806/2019).

2.4. Indem das Bundesverwaltungsgericht bei Erlassung der Rückkehrentscheidung diese Umstände bei seiner Interessenabwägung nicht berücksichtigt hat, hat es – ungeachtet des Umstandes, dass das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich der Beschwerdeführer seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war (vgl zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach dieser Umstand zwar zu berücksichtigen ist, einen Eingriff in das Recht aus Art8 EMRK aber nicht ausschließt, etwa ; , U2241/12; VfSlg 18.223/2007) – den Beschwerdeführer durch die Rückkehrentscheidung – und die daran anknüpfenden Aussprüche – im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art8 EMRK verletzt.

B. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten und gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Mongolei richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung und gegen die Zulässigkeit der Abschiebung in die Mongolei abgewiesen und eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise festgesetzt wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird gemäß Art144 Abs2 B-VG von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese insoweit dem Verwaltungsgerichtshof gemäß Art144 Abs3 B-VG zur Entscheidung abgetreten (zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

Zusatzinformationen


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Norm:
B-VG
ECLI:
ECLI:AT:VFGH:2023:E3316.2022

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