OGH vom 17.05.2023, 6Ob80/23t
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Nowotny, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer, Dr. Faber und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Außerstreitsache der Antragstellerin M* E*, Griechenland, vertreten durch Mag. Dr. Martin Deuretsbacher, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Antragsgegner P* E*, vertreten durch Dr. Gerald Albrecht, Rechtsanwalt in Wien, wegen Rückführung des minderjährigen N* E*, geboren am * 2008, nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Antragsgegners und des Minderjährigen, vertreten durch Dr. Gerald Albrecht, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Rekursgericht vom , GZ 16 R 82/23g-188, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
[1] 1.1. Das Rekursgericht hat sich mit den vom Rechtsmittel behaupteten Verfahrensmängeln erster Instanz auseinandergesetzt und diese verneint. Auch im Verfahren außer Streitsachen kann eine vom Rekursgericht verneinte Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs im Revisionsrekursverfahren nicht mehr geltend gemacht werden (RS0050037; RS0030748). Die Frage, ob im Einzelfall aus Gründen des Kindeswohls eine Durchbrechung des eingangs dargestellten Grundsatzes in Betracht kommt, lässt sich regelmäßig nur aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls beurteilen und bildet daher in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG (RS0050037 [T18]). Gründe dafür werden im Revisionsrekurs, der im Wesentlichen lediglich die schon im Rekurs vorgebrachten Argumente wiederholt, nicht konkret dargetan; sie sind auch nicht ersichtlich.
[2] 1.2. Die in § 66 Abs 1 Z 1 AußStrG genannten Mängel, zu denen die Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß § 58 Abs 1 Z 1 AußStrG zählt (vgl RS0121265 [T4]), können zwar auch dann in einem Revisionsrekurs geltend gemacht werden, wenn sie vom Rekursgericht verneint wurden (RS0121265). Dieser Anfechtungsgrund wirkt aber nicht absolut; er kann nur dann zur Aufhebung führen, wenn die Verletzung zum Nachteil des Rechtsmittelwerbers ausschlagen könnte (RS0120213). Nach ständiger Rechtsprechung wird der Mangel des rechtlichen Gehörs in erster Instanz behoben, wenn – wie im vorliegenden Fall – für die Parteien die Gelegenheit bestand, im Rekurs zu den maßgeblichen Beweisergebnissen (hier der erst mit dem erstinstanzlichen Beschluss zugestellten schriftlichen Gutachtensergänzung) – diesfalls ohne Beschränkung durch das Neuerungsverbot – Stellung zu nehmen. Durch die Neuerungserlaubnis kann der in erster Instanz nicht ausreichend Gehörte sein Vorbringen im Rekurs nachtragen (6 Ob 5/14z [ErwGr 3.2.]; vgl RS0006057). Das war hier der Fall, und wurde die diesbezügliche Stellungnahme der Rechtsmittelwerber vom Rekursgericht inhaltlich auch geprüft.
[3] 2.1. Nach Art 13 Abs 2 HKÜ kann die Rückgabe des Kindes vom angerufenen Gericht unter anderem dann abgelehnt werden, wenn sich das Kind der Rückgabe widersetzt und es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen. Das Gericht kann jedoch im Rahmen der ihm zukommenden Ermessensübung nach Art 13 Abs 2 HKÜ Authentizität und Ernsthaftigkeit des von den Kindern geäußerten Wunsches sowie das Gewicht der dafür ins Treffen geführten Gründe gegen die Gesamtzielsetzung des Übereinkommens abwägen (6 Ob 217/14a; vgl RS0074552).
[4] Nach den auf die Ergebnisse des vom Erstgericht eingeholten Sachverständigengutachtens gegründeten Feststellungen leidet das Kind an einer psychischen Krankheit (schwere depressive Episode). Der Reifegrad des Kindes ist trotz seines Alters nicht entsprechend ausgebildet, um die weitreichenden zukünftigen Konsequenzen seines gegenwärtigen Handelns und seiner gegenwärtigen Äußerungen erfassen oder ausreichend beurteilen zu können. Es ist nicht in der Lage, seinen (vom Antragsgegner unbeeinflussten) authentischen Willen zu äußern. Wenn die Vorinstanzen bei dieser Sachlage den geäußerten Wunsch des Kindes, nicht nach Griechenland zurück zu wollen, als nicht ausschlaggebend erachteten, ist darin keine vom Obersten Gerichtshof im Interesse der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung zu erblicken.
[5] 2.2. Das dem Erstgericht vorgelegte Schreiben, in dem das ohnehin unmittelbar angehörte Kind diesen Wunsch (neuerlich) äußerte, wurde zum Akt genommen, in einer mündlichen Verhandlung erörtert und in den Entscheidungen der Vorinstanzen berücksichtigt. Einer ausdrücklichen Feststellung seines Wortlauts, wie sie der Revisionsrekurs vermisst, bedurfte es nicht.
[6] 3.1. Der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist nach der Rechtsprechung eng auszulegen und deshalb auf wirklich schwere Gefahren zu beschränken (RS0074568 [T8]). Ob das Kindeswohl iSd Art 13 Abs 1 lit b HKÜ bei einer Rückgabe gefährdet ist, ist eine von den jeweiligen Umständen abhängige Frage, die im Einzelfall zu entscheiden ist und daher regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG darstellt (vgl RS0112662).
[7] 3.2. Das Kind war wegen seiner psychischen Erkrankung bereits während des erstinstanzlichen Verfahrens in Österreich stationär in einem Krankenhaus aufgenommen. Die Antragstellerin hat – wie vom Erstgericht iSd Art 27 Abs 3 Brüssel IIbVO gefordert – verbindlich zugesichert und urkundlich belegt, dass das Kind, entsprechend den Ergebnissen des eingeholten Sachverständigengutachtens, im Fall der Rückführung zunächst nicht bei ihr, sondern in einem Krankenhaus betreut wird, und damit die Vorinstanzen von getroffenen angemessenen Vorkehrungen zum Schutz des Kindes überzeugt. Das von der Antragstellerin kontaktierte (konkrete) Krankenhaus in Griechenland ist nach den Feststellungen in der Lage, eine geeignete psychiatrische Betreuung des Kindes sicherzustellen.
[8] Soweit der Revisionsrekurs im Falle der Rückführung das Kindeswohl dadurch gefährdet sieht, dass unklar sei, wo sich das Kind nach der Rückführung aufhalten werde, wenn das Krankenhaus keinen stationären Aufenthalt gewährleiste, entfernt er sich von den Feststellungen. Mit dem bloßen Hinweis, damit werde das Kind einer ungewissen Zukunft in Griechenland ausgesetzt, bringt der Revisionsrekurs keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG zur Darstellung.
[9] 3.3. Das Kind besucht in Österreich zwar eine Schule, kann sich aufgrund der Sprachprobleme im Alltag aber nur schwer verständigen und hat wenig Sozialkontakte. Auch die Behauptung des Revisionsrekurses, das Kind werde durch die Rückführung aus einer guten sozialen Integration in Österreich herausgerissen, geht somit nicht vom Sachverhalt aus.
[10] 3.4. Die Trennung von der Antragstellerin, bei der das fast 15jährige Kind bis zu seiner Entführung gelebt hat, ist noch nicht von langer Dauer. Das Kind wird nach der Rückführung nach Griechenland auch nicht sofort bei der Antragstellerin wohnen (siehe Punkt 3.2.). Vor diesem Hintergrund ist die Beurteilung des Rekursgerichts, aus dem Unterbleiben einer nun vom Rechtsmittelwerber geforderten Kontaktanbahnung iSd § 111c Abs 6 AußStrG mithilfe der Jugendwohlfahrtsträger in Österreich und auch in Griechenland ergebe sich keine schwere Gefährdung des Kindeswohls, nicht korrekturbedürftig.
[11] 3.5. Bereits das Rekursgericht hat darauf hingewiesen, es stehe nicht fest, dass das Kind „mittels Polizeigewalt“ rückgeführt werden müsste. Auf dessen Ausführungen, dass es auch am Antragsgegner liegen werde, auf eine reibungslose Rückführung hinzuwirken, geht der Revisionsrekurs gar nicht ein. Auch gegen die Beurteilung des Rekursgerichts, dass es dem Antragsgegner nach den Feststellungen zumutbar ist, ebenfalls nach Griechenland zu reisen, um dem Kind die Rückkehr zu erleichtern (vgl die zwischen den Parteien ergangene Entscheidung 6 Ob 150/12w), bringt der Revisionsrekurs keine zugkräftigen Argumente vor.
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2023:0060OB00080.23T.0517.000 |
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