OGH vom 27.06.2023, 4Ob96/23f
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Schwarzenbacher und MMag. Matzka sowie die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. J* und 2. B*, beide vertreten durch die Rechtsanwälte Zauner Schachermayr Koller & Partner in Linz, gegen die beklagte Partei P* Partnerschaftsgesellschaft mbB, *, Deutschland, vertreten durch die Haas Anwaltsgesellschaft mbH in Leonding, wegen 5.914,91 EUR sA, über den ordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Parteien gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom , GZ 14 R 128/22z-20, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Rohrbach vom , GZ 1 C 282/22b-15, abgeändert und dessen damit verbundenes Urteil sowie das diesem vorangegangene Verfahren als nichtig aufgehoben wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Die klagenden Parteien sind schuldig, der beklagten Partei die mit 819,91 EUR (darin 130,91 EUR 19%-ige USt) bestimmten Kosten ihrer Revisionsrekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
[1] Das Erstgericht verwarf die von der beklagten deutschen Anwaltsgesellschaft erhobene Einrede der internationalen Unzuständigkeit (Beschluss zu I.) und gab der auf Auszahlung von überhöhtem, durch die Beklagte zu Unrecht aus einer Insolvenzquote einbehaltenem Honorar gerichteten Klage inhaltlich statt (Urteil zu II.).
[2] Das von der Beklagten mit Rekurs und Berufung angerufene Rechtsmittelgericht verneinte das Vorliegen der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Verbrauchergerichtsstandes nach Art 17 Abs 1 lit c EuGVVO 2012 und änderte den Beschluss dahin ab, dass es das Erstgericht als international unzuständig erkannte und die Klage zurückwies; gleichzeitig hob es aus Anlass der Berufung das Ersturteil samt vorangegangenem Verfahren als nichtig auf.
[3] Den Revisionsrekurs gegen seine Entscheidung ließ das Rechtsmittelgericht mit der Begründung zu, dass die Auslegung des von der Beklagten betriebenen „doing business“ im Sinne der Rechtsprechung zu Art 17 EuGVVO 2012 erhebliche Rechtsfragen aufwerfe.
[4] Die Kläger erheben dagegen ein im Rubrum als „Revisionsrekurs“ überschriebenes Rechtsmittel, wenden sich aber eingangs im Text gegen das „Urteil“ des Rechtsmittelgerichts und stellen letztlich den Sachantrag, der Oberste Gerichtshof „als Revisionsgericht“ möge die „Revision“ als zulässig erachten und „das angefochtene Urteil“ abändern, hilfsweise aufheben. Im Rechtsmittelschriftsatz nehmen die Kläger aber ausschließlich zugunsten der Zulässigkeit des „ordentlichen Revisionsrekurses“ und gegen die Rechtsansicht des „Rekursgerichtes“ zur Auslegung des Art 17 EuGVVO 2012 Stellung.
[5] Für die Prüfung des Umfangs der Anfechtung kommt dem Rechtsmittelantrag und den Rechtsmittelgründen auch dann Bedeutung zu, wenn im Rechtsmittel zwar eine Anfechtungserklärung enthalten ist, diese aber mit dem Rechtsmittelantrag und den Rechtsmittelgründen nicht im Einklang steht. Bei Divergenzen zwischen Anfechtungserklärung und Anfechtungsantrag ist zwar grundsätzlich der Rechtsmittelantrag maßgeblich (vgl RS0043624 [insb T1]); im Zweifel gilt aber eine Entscheidung als zur Gänze angefochten (vgl 10 Ob 30/18m mwN).
[6] Im Zweifel und zu Gunsten der Kläger ist davon auszugehen, dass sie sich gegen die Entscheidung des Rekursgerichts wenden, dessen Anfechtung mit ordentlichem Revisionsrekurs auch zugelassen wurde, zumal dieser Beschluss die Voraussetzung für den seine zwingende Folge bildenden Beschluss über die Aufhebung des Ersturteils und des diesem vorangegangenen Verfahrens als nichtig bildet: Beide Beschlüsse teilen in Bezug auf ihre Anfechtung das rechtliche Schicksal (vgl Musger in Fasching/Konecny3 [2019] § 519 ZPO Rz 16, 75); zudem ist eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in der Hauptsache schon deshalb ausgeschlossen, weil das Berufungsgericht über die Berufung gegen das Ersturteil nicht abgesprochen und kein Urteil gefällt hat, das einer Revision zugänglich wäre.
[7] Gegenstand des Verfahrens ist somit der ordentliche Revisionsrekurs gegen die Rekursentscheidung, mit welcher das Erstgericht als international unzuständig erkannt und die Klage zurückgewiesen wurde.
Rechtliche Beurteilung
[8] Dieser Revisionsrekurs ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof zufolge § 526 Abs 2 letzter Satz ZPO nicht bindenden – Ausspruch des Rekursgerichts nicht zulässig. Eine erhebliche Rechtsfrage wird weder mit der zweitinstanzlichen Zulassungsbegründung noch im Revisionsrekurs der Kläger aufgezeigt. Der vorliegende Beschluss kann sich auf die Darlegung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 528a in Verbindung mit § 510 Abs 3 ZPO).
1.1. Maßgeblich für die Beurteilung der internationalen Zuständigkeit sind die Klagsangaben (RS0115860; RS0050455). Wenn die schlüssigen (RS0116404), die Zuständigkeit begründenden, Tatsachenbehauptungen zugleich Anspruchsvoraussetzungen („doppelrelevante Tatsachen“) sind, so ist ihre Richtigkeit zu unterstellen (RS0115860 [T4]). Sie sind auch dann der Zuständigkeitsentscheidung zugrundezulegen, wenn sie vom Beklagten bestritten wurden (vgl RS0050455 [T1]), soweit sie nicht durch das bereits durchgeführte Beweisverfahren und die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen eine Änderung erfahren haben (vgl 8 Ob 23/19v; 8 Ob 45/19d). Dies steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach das angerufene nationale Gericht im Fall des Bestreitens der Behauptungen des Klägers durch den Beklagten zwar nicht verpflichtet ist, im Stadium der Ermittlung der Zuständigkeit ein Beweisverfahren durchzuführen, aber alle vorliegenden Informationen zu würdigen hat, wozu gegebenenfalls auch die Einwände des Beklagten gehören (vgl C-12/15, Universal Music, Rn 44 f; RS0050455 [T9]).
[10] 1.2. Gemäß Art 17 Abs 1 EuGVVO 2012 bestimmt sich die Zuständigkeit nach ihrem 4. Abschnitt (Zuständigkeit bei Verbrauchersachen), wenn den Gegenstand des Verfahrens ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag bilden, den eine Person, der Verbraucher, zu einem Zweck geschlossen hat, der nicht der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit dieser Person zugerechnet werden kann, wenn (lit c) der andere Vertragspartner in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, eine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit ausübt (1. Alternative) oder eine solche auf irgendeinem Wege auf diesen Mitgliedstaat oder auf mehrere Staaten, einschließlich dieses Mitgliedstaates, ausrichtet und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt (2. Alternative).
[11] 1.3.1. Spezialgerichtsstände wie dieser sind nach der Rechtsprechung des EuGH autonom unter Berücksichtigung der Systematik und Zielsetzung des Rechtsaktes (vgl C-96/00, Rudolf Gabriel, Rn 37 mwN) und – wie der EuGH bereits mehrfach betont hat (etwa C-464/01, Gruber – Bay Wa AG, Rn 32 f mwN) – als Ausnahme zur grundsätzlichen Allzuständigkeit des (Wohn-)Sitzstaats des Beklagten eng auszulegen (vgl RS0128703; RS0112833; vgl 5 Ob 18/15f, 6 Ob 119/21z uva). Nach der Rechtsprechung des EuGH bilden bei Beurteilung des Internetauftritts eines Gewerbetreibenden beispielsweise der internationale Charakter der Tätigkeit, die Angabe von Anfahrtsbeschreibungen von anderen Mitgliedstaaten aus, die Verwendung einer anderen Sprache oder Währung als der im Mitgliedstaat der Niederlassung des Gewerbetreibenden üblicherweise verwendeten Sprache oder Währung mit der Möglichkeit der Buchung und Buchungsbestätigung in dieser anderen Sprache, die Angabe von Telefonnummern mit internationaler Vorwahl, die Verwendung einer anderen Top-Level-Domain als derjenigen des Mitgliedstaates der Niederlassung des Gewerbetreibenden oder die Erwähnung einer internationalen Kundschaft Anhaltspunkte für ein „Ausrichten“ der Tätigkeit auf den Wohnsitzstaat des Verbrauchers. Hingegen ist die bloße Zugänglichkeit der Website des Gewerbetreibenden oder seines Vermittlers im Wohnsitzmitgliedsstaat des Verbrauchers nicht ausreichend (C-585/08 und C-144/09, Pammer/Schlüterua, Rn 80 ff; RS0125001 [T2]). Die Aufnahme von Fernkontakt und der Abschluss eines Verbrauchervertrags im Fernabsatz (EuGH C-190/11, Mühlleitner/Yusufi, Rn 44) können ebenso Anhaltspunkte für ein Ausrichten auf den Wohnsitzmitgliedsstaat des Verbrauchers sein wie der Sitz des Gewerbetreibenden in einem grenznahen Ballungsraum oder die Verwendung einer vom Mitgliedstaat des Verbrauchers zugeteilten Telefonnummer durch den Gewerbetreibenden (vgl EuGH C-218/12, Emrek/Sabranovic, Rn 30).
[12] Die Prüfung von Anhaltspunkten, die die Beurteilung erlauben, ob die Tätigkeit des Gewerbetreibenden auf den Wohnsitzmitgliedstaat des Verbrauchers ausgerichtet ist, ist im Einzelfall Sache des nationalen Richters (vgl etwa EuGH C-585/08 und C-144/09, Pammer/Schlüter und Alpenhof/Heller).
[13] 1.3.2. Auch nach der dieser Rechtsprechung des EuGH folgenden Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs erfasst der Begriff des „Ausrichtens“ alle auf den Wohnsitzstaat des Verbrauchers ausgerichteten absatzfördernden Handlungen; für die zu fordernde Zielgerichtetheit der Tätigkeit des Unternehmens reicht ein bloßes „doing business“ aber nicht aus (vgl RS0125252). Der Gewerbetreibende muss vor dem möglichen Vertragsschluss seinen Willen zum Ausdruck gebracht haben, Geschäftsbeziehungen zu Verbrauchern eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten, darunter des Wohnsitzmitgliedstaates des Verbrauchers, herzustellen (vgl RS0128704), wozu alle offenkundigen Ausdrucksformen des Willens gehören, Verbraucher in diesem Mitgliedstaat als Kunden zu gewinnen, etwa das Anbieten von Dienstleistungen oder Produkten (5 Ob 18/15f mwN).
1.3.3. Hängt die Entscheidung von der Lösung einer Frage des Unionsrechts ab, so ist die Anrufung des Obersten Gerichtshofs zur Nachprüfung dessen Anwendung auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH nur zulässig, wenn der zweiten Instanz bei Lösung dieser Frage eine gravierende Fehlbeurteilung unterlaufen ist (RS0117100 [insb T1]). Eine solche liegt hier nicht vor:
[15] 2.1. Dass die Kläger Verbraucher im Sinne des Art 17 EuGVVO 2012 sind, ist unstrittig. Sie hatten in eine in Gold veranlagende, später in Insolvenz verfallene deutsche Gesellschaft investiert und dadurch Schäden erlitten. Die beklagte Rechtsanwaltsgesellschaft vertritt rechtlich einen die Interessen geschädigter Investoren verfolgenden deutschen Verein.
[16] 2.2. Die Vorinstanzen stellten fest, dass die Kläger über die Berater, die ihnen zum Goldkauf geraten hatten, vom Verein erfuhren, sich darüber mit Verwandten berieten, von diesen von einem „Infoschreiben - Aktueller Sachstand“ der Beklagten erfuhren, eine Vollmacht zugunsten der Beklagten und eine Beitrittserklärung zum Verein unterfertigten und beides an den Verein übermittelten. Mit der „Vollmacht“ wurde der Beklagten ausdrücklich „eine Vollmacht zur Vertretung erteilt“, welche Inkassovollmacht, Postulationsvollmacht, Vollmacht zum Abschluss von vergleichsweisen Regelungen, Untervollmacht, Vollmacht zur Abgabe und Entgegennahme von Willenserklärungen und Vornahme einseitiger Rechtsgeschäfte, sowie Vollmacht zur Forderungsanmeldung umfasste. Diese Schreiben waren den Klägern nicht von der Beklagten oder vom Verein übermittelt worden. Auf die Homepage der Beklagten schauten die Kläger nicht. Dieschreiben – Aktueller Sachstand“ der Beklagten macht diese
[17] 2.3. Das Rekursgericht beurteilte dies zusammengefasst dahin, dass die Beklagte ihre Tätigkeit nicht auf Österreich ausgerichtet hatte, verneinte dementsprechend das Vorliegen eines Verbrauchergerichtsstands in Österreich und die internationale Zuständigkeit des angerufenen österreichischen Gerichts.
2.4. Diese Beurteilung hält sich im Rahmen der dargelegten unions- und innerstaatlichen Rechtslage sowie des den Gerichten in diesem Zusammenhang im Einzelfall zukommenden Beurteilungsspielraums.
[19] 2.5. Dem setzt der Revisionsrekurs keine zwingenden Argumente entgegen. Den darin zitierten Entscheidungen ist ebenso wie der oben dargelegten Rechtsprechung sehr wohl eine Umschreibung von „doing business“ dahin zu entnehmen, dass dieses in einer Geschäftstätigkeit besteht, die ohne die oben umschriebenen Merkmale des Ausrichtens ausgeübt wird. Dies kann naturgemäß nur im Einzelfall beurteilt werden, wobei sich das Rekursgericht hier vertretbar auf das Fehlen konkreter und nach der Rechtsprechung signifikanter Aspekte gestützt hat.
[20] Soweit die Kläger dem entgegenhalten wollen, erst mit der Unterfertigung einer späteren Urkunde sei ein Vollmachtsverhältnis zur Beklagten begründet worden, sodass mit früherer Korrespondenz zwischen den Parteien ein Ausrichten vor Vertragsabschluss gezeigt worden sei, wird keine erhebliche Rechtsfrage geltend gemacht, weil die Frage des Zustandekommens eines Vertrags und seines Zeitpunkts im Einzelfall die Anrufung des Obersten Gerichtshofs regelmäßig nicht rechtfertigt (vgl RS0042936; RS0044358 uva). Die rechtliche Einordnung der Erteilung der „Vollmacht“ als Beginn der Vertragsbeziehung ist zumindest vertretbar, zumal es sich bei den im Revisionsrekurs zitierten Inhalten in Wahrheit um Beweisergebnisse handelt. Auch insofern wird keine erhebliche Rechtsfrage aufgezeigt.
3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §§ 41, 50 ZPO. Die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels der Beklagten hingewiesen.
[22] Leistungen eines österreichischen Rechtsanwalts für einen ausländischen Unternehmer unterliegen allerdings nicht der österreichischen Umsatzsteuer. Verzeichnet der österreichische Anwalt – kommentarlos – 20 % Umsatzsteuer, wird im Zweifel nur die österreichische Umsatzsteuer angesprochen. Die zu entrichtende ausländische Umsatzsteuer kann nur zugesprochen werden, wenn Entsprechendes behauptet und bescheinigt wird (§ 54 Abs 1 ZPO) oder die Höhe des ausländischen Umsatzsteuersatzes allgemein bekannt ist (RS0114955). Da im Falle der Bundesrepublik Deutschland Letzteres der Fall ist, war der dort ansässigen Beklagten (nur) die in Deutschland zu entrichtende Umsatzsteuer von bekanntermaßen 19 % zuzusprechen (RS0114955 [T10, T12]).
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2023:0040OB00096.23F.0627.000 |
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