OGH vom 23.09.2022, 4Ob90/22x

OGH vom 23.09.2022, 4Ob90/22x

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Schwarzenbacher, MMag. Matzka, Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Fitz als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen 1. M*, geboren * 2016, 2. T*, geboren * 2018 und 3. J*, geboren * 2020, alle wohnhaft bei der Mutter S*, BSc, *, diese vertreten durch Dr. Gudrun Truschner, Rechtsanwältin in Wels, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters Dr. S*, vertreten durch Ing. Mag. Peter Huber, Rechtsanwalt in Hallein, gegen den Beschluss des Landesgerichts Wels als Rekursgericht vom , GZ 21 R 284/21w-104, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1.1. Gemäß § 181 Abs 1 ABGB hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls nötigen Verfügungen zu treffen, sofern die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl eines minderjährigen Kindes gefährden. Das Gericht darf die Obsorge für das Kind ganz oder auch nur teilweise entziehen. Bei der Anordnung von Maßnahmen iSd § 181 Abs 1 ABGB ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Familienautonomie zu berücksichtigen (4 Ob 83/18m mwN; RS0048736 [T3]). Durch eine solche Verfügung darf das Gericht die Obsorge nur insoweit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohls des Kindes erforderlich ist (§ 182 ABGB).

1.2. Es ist auch zulässig, im Rahmen von vorläufigen Maßnahmen die Obsorge der Eltern ganz oder teilweise zu entziehen oder das Recht auf persönliche Kontakte nach Maßgabe des Kindeswohls auch vorläufig einzuräumen oder zu entziehen. Nach dem Willen des Gesetzgebers hat das Gericht eine solche vorläufige Entscheidung nach § 107 Abs 2 AußStrG schon dann zu treffen, wenn zwar für die endgültige Regelung noch weitergehende Erhebungen (etwa die Einholung oder Ergänzung eines Sachverständigengutachtens) notwendig sind, aber eine rasche Regelung der Obsorge oder der persönlichen Kontakte für die Dauer des Verfahrens Klarheit schafft und dadurch das Kindeswohl fördert. Die Voraussetzungen für die Erlassung vorläufiger Maßnahmen sind in dem Sinne reduziert, dass diese – anders als nach der (vom Revisionsrekurs vereinzelt ins Treffen geführten) Rechtslage vor dem KindNamRÄG 2013 (vgl RS0007035) –nicht mehr erst bei akuter Gefährdung des Kindeswohls, sondern bereits zu dessen Förderung erfolgen dürfen. Auch eine solche Entscheidung ist nur auf ausreichender Tatsachengrundlage und nach einer Verhältnismäßigkeits-
prüfung mit Zurückhaltung zu treffen, zumal auch eine vorläufige Entziehung der Obsorge einen Grundrechtseingriff bedeutet (vgl 4 Ob 110/20k mwN; RS0129538).

1.3. Die nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffende Entscheidung, ob die Voraussetzungen für eine Obsorgeübertragung erfüllt sind, ist grundsätzlich eine solche des Einzelfalls, der keine Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG zukommt, wenn dabei auf das Kindeswohl ausreichend Bedacht genommen wird und leitende Grundsätze der Rechtsprechung nicht verletzt werden (RS0115719). Auch die Entscheidung, ob und inwieweit einem Elternteil ein Kontaktrecht eingeräumt wird, ist stets von den besonderen Umständen des Einzelfalls abhängig, sodass mit ihr regelmäßig keine erheblichen Rechtsfragen verbunden sind (RS0087024 [T6, T9]; RS0097114 [T1, T8, T10, T18]). Dasselbe gilt für die Frage, ob und welche vorläufige Maßnahme der Förderung des Kindeswohls dient und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht (RS0130780 [T3]; RS0115719 [T5]; RS0007101 [T12, T13, T17, T18]; vgl RS0007009 [T3, T4]).

2.1. Die Vorinstanzen haben einerseits dem Vater die ihm bis dahin mit der Mutter gemeinsam zugekommene Obsorge vorläufig entzogen und andererseits sein Kontaktrecht zu seinen Kindern vorerst ausgesetzt, bis eine adäquate Vorbereitung des Vaters und der beiden älteren (nunmehr sechs und vier Jahre alten) Töchter auf die Kontaktrechtsanbahnung im Ausmaß von zumindest fünf Terminen sowie eine therapeutische Behandlung der Anpassungsstörung der ältesten Tochter erfolgt ist; in diesem Zusammenhang wurde beiden Eltern aufgetragen, nach diesen fünf Terminen dem Gericht unverzüglich über das Ergebnis zu berichten, und der Mutter über die stattfindenden Therapietermine der älteren Tochter zu berichten.

[5] Das Rekursgericht ging davon aus, dass über die von beiden Eltern beantragte alleinige Obsorge noch nicht endgültig abgesprochen werden könne, und trug dem Erstgericht diesbezüglich weitere Klärungen auf. Auch über sofortige begleitete Kontakte wie vom Vater beantragt sei noch nicht abgesprochen worden, vorerst seien die Ergebnisse der im Einzelnen beschlussmäßig festgelegten Vorbereitungsphase – nach Abschluss einer Therapie der Anpassungsstörung der älteren Tochter und deren ablehnender emotionaler Blockade dem Vater gegenüber sowie nach entsprechender Vorbereitung der Kinder – möglich. Erst danach könne von Experten beurteilt werden, ob diese Termine ausreichend wären und ein Kontakt zum Vater möglich sei. Sollten aus Sicht der Experten Kontakte zum Vater bereits möglich sein, so sei zu evaluieren, ob eine neuerliche Belastung der ältesten Tochter eintrete und wie lange allenfalls die Symptome anhalten würden, bevor ein möglicher weiterer Kontakt angedacht werden könne. Vor der Therapie der ältesten Tochter könne zu keinem der Kinder ein Kontakt zum Vater stattfinden.

2.2.1. Der Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens beschränkt sich damit einerseits auf die vorläufige Aussetzung der Kontakte des Vaters zu den Kindern sowie andererseits die vorläufig erfolgte Entziehung der Obsorge und deren Übertragung allein auf die Mutter; der Rechtsmittelantrag des Vaters zielt auch nur auf diese Aspekte ab, inhaltlich vermengt das Rechtsmittel jedoch Argumente zu Obsorge und Kontaktrecht ebenso wie solche zu endgültigen und vorläufigen Entscheidungen.

2.2.2. Soweit das Erstgericht auch über die endgültige Übertragung der Obsorge abgesprochen hatte und soweit dies vom Vater mit seinem Rekurs angefochten worden war, wurde diese Entscheidung aber vom Rekursgericht erkennbar aufgehoben und es wurden dem Erstgericht diesbezüglich Aufträge zur Verfahrensergänzung erteilt, was mangels Zulassungsausspruchs insoweit unanfechtbar (§ 64 Abs 1 AußStrG) und nicht vom drittinstanzlichen Verfahren umfasst ist. Soweit der Revisionsrekurs daher auf Umstände der Kindeswohlgefährdung abstellt und Fragen der endgültigen Obsorgegestaltung sowie weiters der abschließenden Gestaltung des Kontaktrechts anspricht, sind diese nicht Gegenstand dieser Entscheidung.

3. Der Revisionsrekurs zeigt in diesem Rahmen keine erheblichen Rechtsfragen auf, die die Zulässigkeit des Rechtsmittels im vorliegenden Einzelfall begründen könnten.

3.1. Zum Kontaktrecht geht der Revisionsrekurs nicht von den Feststellungen aus, dass ein solches erst dann möglich ist, wenn eine Therapie der in Bezug auf ihr Verhältnis zum Vater schwer belasteten ältesten Tochter so weit fortgeschritten wäre, dass Kontakte zu ihr und ihren Geschwistern nicht zu einer neuerlichen Belastung führen würden. Auch im unverschuldeten Konfliktfall hätte der Kontaktrechtsanspruch eines Elternteils gegenüber dem Kindeswohl zurückzutreten (RS0048068 [T5]; RS0047777 [T4] = RS0047955 [T6] = RS0047950 [T9]); auch in Bezug auf das Kontaktrecht bleibt die Bedachtnahme auf das Kindeswohl oberster Grundsatz (vgl RS0047958; RS0048056). Soweit der Revisionsrekurs allenfalls beim Vater mittlerweile verbesserte eigene Fähigkeiten ins Treffen führen will, kommt es darauf somit an sich nicht entscheidend an.

3.2.1. Vom Rekursgericht verneinte Mängel des außerstreitigen Verfahrens erster Instanz können grundsätzlich keinen Revisionsrekursgrund bilden (RS0050037). Dieser Grundsatz erfährt im Pflegschaftsverfahren nur dann eine Durchbrechung, wenn das die Interessen des Kindeswohls erfordern (RS0050037 [T1, T4]), was insbesondere im Obsorge und Kontaktrechtsverfahren Bedeutung hat (RS0050037 [T8]).

[11] Solche Gründe für eine Durchbrechung dieses Grundsatzes im konkreten Obsorgeverfahren zeigt der Revisionsrekurs nicht auf, zumal darin der Umstand, dass der Vater jedenfalls im vorliegenden Stadium an der gemeinsamen Erfüllung der mit der Obsorge verbundenen Aufgaben nicht mitwirkt (vgl RS0130248), nicht gebührend berücksichtigt wird.

[12] Soweit dem Rekursgericht als Mangel seines Verfahrens vorgeworfen wird, es habe dem Rekurs des Vaters zu Unrecht nicht gesetzmäßige Ausführung (mangels Anführung einer Ersatzfeststellung zu von ihm bekämpften Feststellungen des Erstgerichts zu sexuellen Grenzüberschreitungen gegenüber der ältesten Tochter) unterstellt, ist er nicht berechtigt: Anders als im Revisionsrekurs behauptet wurden im Rekurs tatsächlich keine Ersatzfeststellungen hierfür beantragt; ein Mangel des Rekursverfahrens liegt nicht vor.

3.2.2. Der Revisionsrekurs zeigt nicht auf, warum vor diesem Hintergrund eine aufzugreifende Fehlbeurteilung des Rekursgerichts vorliegen sollte, das vor allem im Hinblick auf die massive (und behandlungsbedürftige) Ablehnung des Vaters insbesondere durch die älteste Tochter und mangels Beteiligung des Vaters am Leben der Kinder es als dem Kindeswohl zumindest förderlich ansah, die Obsorge vorläufig der Mutter alleine zuzuweisen, die auch alleine die Betreuung der Kinder besorgt. Welche Umstände derzeit eine sinnvolle Ausübung der Obsorge durch beide Eltern im Sinne von die Bedürfnisse und Wünsche der Kinder möglichst übereinstimmend beurteilenden Erziehungs- und Betreuungsmaßnahmen (vgl RS0128812) erlauben könnten, ist nicht ersichtlich und wird vom Vater auch nicht aufgezeigt. Dessen Revisionsrekurs verweist selbst darauf, dass sich im Hinblick auf die Betreuung der Kinder durch die Mutter faktisch ohnehin nichts an der Ausübung der Obsorge ändern würde, auch wenn diese bei ihm verbliebe.

[14] Der Revisionsrekurs vermag auch nicht darzulegen, welche anderen gelinderen Mittel als die von den Vorinstanzen während der vorläufigen Aussetzung der Kontakte ohnehin auferlegten Vorbereitungsschritte (insbesondere die Therapie der ältesten Tochter) sich anbieten könnten. Auch vor dem Hintergrund der festgestellten, vom Revisionsrekurs aber nicht einmal gestreiften (und nach der Aktenlage überdies auch jüngst kaum veränderten – vgl RS0106313) ablehnenden Haltung der (ihre Geschwister beschützen wollenden) ältesten Tochter gegenüber dem Vater ist es daher eine vertretbare Einschätzung, dass eine iSd § 107 Abs 2 AußStrG zumindest insoweit Klarheit schaffende (5 Ob 144/14h = RS0129538 [T1]) vorläufige Übertragung der Obsorge auf die Mutter gegenüber einer Belassung der (unter den vorliegenden Umständen des Einzelfalls weitgehend inhaltsleeren) gemeinsamen Obsorge derzeit das Kindeswohl fördert.

[15] 4. Der außerordentliche Revisionsrekurs war daher mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückzuweisen, was keiner weiteren Begründung bedarf (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2022:0040OB00090.22X.0923.000

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