OGH 22.06.2021, 4Ob44/21f
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.-Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Matzka und die Hofrätin Mag. Istjan, LL.M., als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G* d.o.o., *, Serbien, vertreten durch die Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. G* GmbH, *, 2. S* D*, 3. G* d.o.o. *, Serbien, und 4. M* GmbH, *, alle vertreten durch MMag. Ewald Lichtenberger und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Unterlassung, Beseitigung, Rechnungslegung und Zahlung sowie Urteilsveröffentlichung, hier: wegen Erlassung einer einstweiligen Verfügung (Streitwert im Sicherungsverfahren 43.200 EUR), infolge Revisionsrekurses der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom , GZ 30 R 244/20b-26, mit dem der Beschluss des Handelsgerichts Wien vom , GZ 53 Cg 26/20z-20, teils bestätigt und teils abgeändert wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
A. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
I. Ist der Begriff der „öffentlichen Wiedergabe“ in Art 3 Abs 1 Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl L 167, S 10) dahin auszulegen, dass diese vom (hier nicht in der Union ansässigen) unmittelbaren Betreiber einer Streamingplattform vorgenommen wird, der
– allein über den Inhalt und die Abdunkelung von von ihm verbreiteten TV-Sendungen entscheidet und diese technisch durchführt,
– die alleinigen Administratorenrechte für die Streamingplattform hat,
– Einfluss darauf nehmen kann, welche TV-Programme vom Endnutzer über den Dienst empfangen werden können, jedoch ohne Einfluss auf den Inhalt der Programme nehmen zu können,
– und alleiniger Kontrollpunkt dafür ist, welche Programme und Inhalte wann auf welchen Territorien zu sehen sind,
wenn dabei jeweils
– dem Nutzer Zugriff nicht nur auf Sendungsinhalte vermittelt wird, deren Online-Nutzung die jeweiligen Rechtsinhaber erlaubt haben, sondern auch auf solche geschützte Inhalte, bei denen eine entsprechende Rechteklärung unterblieben ist, und
– der unmittelbare Betreiber der Streamingplattform weiß, dass sein Dienst auch den Empfang von geschützten Sendungsinhalten ohne Zustimmung der Rechteinhaber ermöglicht, indem die Endkunden VPN-Dienste verwenden, die suggerieren, die IP-Adresse und Gerät der Endkunden befinde sich in Gebieten, für die eine Zustimmung des Rechteinhabers vorliegt, jedoch
– der Empfang von geschützten Sendungsinhalten über die Streamingplattform ohne Zustimmung der Rechteinhaber auch ohne VPN-Tunnelung für mehrere Wochen tatsächlich möglich war?
II. Im Fall der Bejahung der Frage I.:
Ist der Begriff der „öffentlichen Wiedergabe“ in Art 3 Abs 1 RL 2001/29/EG dahin auszulegen, dass diese auch von mit dem in Frage I. beschriebenen Betreiber einer Plattform vertraglich und/oder gesellschaftsrechtlich verbundenen Dritten (hier mit Sitz in der Union) vorgenommen wird, die, ohne selbst Einfluss auf die Abdunkelungen und auf die Programme und Inhalte der auf der Streamingplattform gebrachten Sendungen zu haben,
– die Streamingplattform des Betreibers und deren Dienstleistungen bewerben, und/oder
– mit den Kunden nach 15 Tagen automatisch endende Testabonnements abschließen, und/oder
– die Kunden der Streamingplattform als Kundendienst betreuen, und/oder
– auf ihrer Website kostenpflichtige Abonnements für die Streamingplattform des unmittelbaren Betreibers anbieten und dann als Vertragspartner der Kunden und als Zahlungsempfänger agieren, wobei die kostenpflichtigen Abonnements derart erstellt werden, dass ein ausdrücklicher Hinweis darauf, dass gewisse Programme nicht zur Verfügung stehen, nur dann erfolgt, wenn ein Kunde bei Vertragsabschluss explizit angibt, diese Programme sehen zu wollen, jedoch dann, wenn solches von Kunden nicht angegeben bzw konkret nachgefragt wird, die Kunden nicht im Vorhinein darauf hingewiesen werden?
III. Sind Art 2 lit a und lit e sowie Art 3 Abs 1 der Richtlinie 2001/29/EG in Verbindung mit Art 7 Nr 2 der Verordnung (EU) Nr 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl L 351, S 1) dahin auszulegen, dass im Fall der Geltendmachung einer Verletzung von Urheber- und verwandten Schutzrechten, die vom Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts gewährleistet werden, dieses Gericht – weil das Territorialitätsprinzip der Kognitionsbefugnis inländischer Gerichte in Bezug auf ausländische Verletzungshandlungen entgegensteht – nur für die Entscheidung über den Schaden zuständig ist, der im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verursacht worden ist, zu dem es gehört, oder kann oder muss dieses Gericht auch über nach den Behauptungen des verletzten Urhebers außerhalb dieses Hoheitsgebiets (weltweit) begangene Tathandlungen absprechen?
B. Das Verfahren über den Revisionsrekurs der klagenden Partei wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgesetzt.
Text
Begründung:
[1] Vorbemerkung:
[2] Diese Anfrage versteht sich als Ergänzung zu der vom Obersten Gerichtshof (OGH) am zur Zahl 4 Ob 40/21t an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) gestellten Anfrage (dort zweite Vorlagefrage).
Zu A.
[3] I. Sachverhalt
[4] Die Klägerin ist eine Gesellschaft nach serbischem Recht mit Sitz in Serbien. Sie betreibt ein Medienunternehmen, welches unter anderem vier – in Serbien und anderen Ländern des früheren Jugoslawiens sehr beliebte – Fernsehshows (darunter drei Castingshows, in der Folge: „Shows“) produziert. Diese Shows werden in Serbien auf Sendern der P*-Sendergruppe ausgestrahlt.
[5] Die Drittbeklagte ist ebenfalls eine Gesellschaft nach serbischem Recht mit Sitz in Serbien. Sie betreibt die Streamingplattform g*.tv, die sich hauptsächlich an Personen richtet, die aus dem ehemaligen Jugoslawien in die Europäische Union und nach Nordamerika ausgewandert sind.
[6] Die Erstbeklagte ist eine österreichische Kapitalgesellschaft, welche die Plattform der Drittbeklagten und deren Dienstleistungen bewirbt und mit den Kunden Testabonnements abschließt, die nach 15 Tagen automatisch enden; außerdem betreut sie als Kundendienst die Kunden der Plattform der Drittbeklagten.
[7] Die Zweitbeklagte ist die Geschäftsführerin und Alleingesellschafterin der Erstbeklagten.
[8] Die Drittbeklagte ist Alleingesellschafterin der viertbeklagten österreichischen Kapitalgesellschaft, die kostenpflichtige Abonnements für die Streamingplattform der Drittbeklagten anbietet und dann als Vertragspartner der Kunden und als Zahlungsempfänger agiert.
[9] Die Drittbeklagte strahlt unter anderem die Shows der Klägerin auf ihrer Streamingplattform weltweit aus; sie leitet ein Recht zur Ausstrahlung in Serbien und Montenegro aus Verträgen mit der P*-TV-Gruppe ab. Hinsichtlich einzelner Sendungen macht die P*-TV-Gruppe die Einschränkung, dass diese für einzelne Länder „abgedunkelt“ werden müssen, sodass diese Sendungen dort weder zu hören noch zu sehen sind. Eine derartige Einschränkung besteht auch für die vier Shows der Klägerin, wenn sich der Kunde, der diese Sendungen sieht, nicht in Serbien oder Montenegro befindet; die Senderechte dieser Sendungen außerhalb von Serbien und Montenegro liegen ausschließlich bei der Klägerin.
[10] Diese Abdunkelung wird von der Drittbeklagten als Administratorin der Streamingplattform bewirkt. Sie hat die alleinigen Administratorenrechte für die Streamingplattform und daher kann nur sie die Abdunkelungen einstellen; sie ist alleiniger Kontrollpunkt dafür, welche Programme und Inhalte auf welchen Territorien zu sehen sind. Erst-, Zweit- und Viertbeklagte haben keinen Einfluss auf die Abdunkelungen und auf die Programme und Inhalte der auf der Streamingplattform der Drittbeklagten gebrachten Sendungen.
[11] Bei der Abdunkelung wird die Berechtigung eines Kunden, territorial beschränkte Programme zu sehen, aufgrund der IP-Adresse des von ihm verwendeten Geräts überprüft. Ist eine IP-Adresse einem Gerät in einem der Länder zugeordnet, für welches abzudunkeln ist, so kann das Gerät bei ordnungsgemäßer Einstellung die Sendung nicht empfangen. Allerdings kann dies der Kunde dadurch umgehen, dass er sich mit dem Dienst der Drittbeklagten über eine VPN-Adresse verbindet, welche vortäuscht, dass sich das Gerät in Serbien oder in Montenegro befinde. Es gibt Provider, die derartige Dienste anbieten, aber auch Apps, die derartige Adressen erstellen und die sich der Nutzer relativ leicht herunterladen kann; das alles ist der Drittbeklagten bekannt.
[12] Im Zeitraum bis konnten die vier Shows der Klägerin in Österreich über die Plattform der Drittbeklagten abgerufen werden, ohne dass ein VPN-Tunnel verwendet werden musste.
[13] Die Klägerin hat die Erst- und die Drittbeklagte in einem Aufforderungsschreiben vom auf einen Verstoß gegen Urheberrechte hingewiesen, weil ihre vier Shows ohne ihre Zustimmung ausgestrahlt würden, und Unterlassung begehrt. Ein ähnlicher Hinweis samt Unterlassungsbegehren erfolgte in einem zweiten Aufforderungsschreiben der Klägerin vom an die Erst- und die Zweitbeklagte.
[14] II. Anträge und Vorbringen der Parteien
[15] Die Klägerinbeantragte zur Sicherung ihres gleichlautenden Unterlassungsbegehrens, allen vier Beklagten für die Dauer des Rechtsstreits zu untersagen, weltweit ohne Zustimmung der Klägerin Folgen der vier Shows zu senden, im Internet zur Verfügung zu stellen und/oder zu vervielfältigen, insbesondere diese Folgen im Wege des Live-Streamings über das Internet zu senden und/oder zeitversetzt zu senden und/oder abrufbar zu machen und/oder auf Servern zu vervielfältigen; in eventu solle allen vier Beklagten untersagt werden, diese Handlungen weltweit durch Dritte zu ermöglichen, insbesondere durch das Zurverfügungstellen von für diese Zwecke geeigneten Geräten und/oder Software.
[16] Die Erst- und die Zweitbeklagte würden die von der Drittbeklagten betriebene Streamingplattform bewerben und Testabonnements abschließen. Auch die Viertbeklagte bewerbe die Plattform, ermögliche Kunden durch Abschluss von Abonnements den Zugang und agiere als Zahlungsempfängerin. Die Handlungen aller somit zusammenwirkenden Beklagten seien als Sendung iSd § 17 österreichisches Urheberrechtsgesetz (UrhG) und als öffentliche Wiedergabe iSd Art 3 Abs 1 RL 2001/29/EG anzusehen und griffen in das ausschließliche Senderecht der Klägerin ein.
[17] Erst-, Zweit- und Viertbeklagte halten dem entgegen, dass sie mangels Verantwortlichkeit für die Programminhalte und mangels Begehung von Verletzungshandlungen nicht passiv legitimiert seien.
[18] Die Drittbeklagte brachte vor, sie dunkle die von ihr in Serbien und Montenegro berechtigterweise ausgestrahlten Programme (den Anweisungen der P*-Gruppe entsprechend) für Seher außerhalb dieser Länder ab.
[19] III. Bisheriges Verfahren
[20] Das Erstgericht gab dem Sicherungsantrag gegen die Dritt- und die Viertbeklagte nur insoweit statt, als er sich auf Tathandlungen in Österreich bezieht; hingegen wies es das Sicherungsbegehren gegen die Erst- und die Zweitbeklagte zur Gänze und gegen die Dritt- und die Viertbeklagte insoweit ab, als es sich auf Tathandlungen über Österreich hinaus (weltweit) bezieht.
[21] Erst- und Zweitbeklagte seien nur in der Kundenbetreuung tätig und hätten keinen Einfluss auf die Inhalte der von der Drittbeklagten betriebenen Plattform; die Viertbeklagte habe jedoch Beitragshandlungen zu den tatbildlichen Handlungen der Drittbeklagten zu verantworten. Ein nach dem österreichischen UrhG in Anspruch genommener Schutz und ein sich darauf beziehender Unterlassungsanspruch unterlägen dem Territorialitätsprinzip.
[22] Das Rekursgericht änderte die von der Klägerin sowie von der Dritt- und der Viertbeklagten angefochtene Entscheidung teilweise dahin ab, dass es auch den gegen die Viertbeklagte gerichteten Sicherungsantrag zur Gänze abwies.
[23] Zwar hätten die Erst- und die Zweitbeklagte Aufforderungsschreiben erhalten, jedoch seien darin keine Beweise für eine Rechtsverletzung durch die Drittbeklagte genannt oder vorgelegt worden; sie hafteten daher mangels Bescheinigung, dass sie bei einer sofortigen Prüfung die Richtigkeit der unbewiesenen Behauptungen der Klägerin über grobe und auffallende Verstöße hätten feststellen können, nicht. Auch die Viertbeklagte sei keine Gehilfin der Drittbeklagten, weil sie als Tochtergesellschaft der Drittbeklagten, welche die kostenpflichtigen Abonnements für die Streamingplattform der Drittbeklagten vertreibe und dann als Vertragspartner und Zahlungsempfänger agiere, auf die administrative Einstellung von Abdunkelungen keinen Einfluss habe und noch nicht einmal bescheinigt sei, dass sie (so wie die anderen Beklagten) von der Klägerin ein Aufforderungsschreiben bekommen habe. Damit sei aber auch nicht bescheinigt, dass die Viertbeklagte (ihre Organe) von den Urheberrechtsverletzungen der Drittbeklagten gewusst habe oder hätte wissen müssen. Daran ändere nichts, dass die Viertbeklagte Kunden bei Abschluss der Abonnementverträge, wenn diese nicht danach gefragt hätten, nicht darauf hingewiesen habe, dass sie in Österreich die vier Shows der Klägerin nicht empfangen könnten: Es gehe nicht darum, den Beklagten zu untersagen, ihre Kunden irrezuführen, sondern um die Untersagung der unzulässigen Sendung von Shows der Klägerin durch die Drittbeklagte.
[24] Das Erstgericht habe sich aber völlig zu Recht auf die Entscheidung des OGH 4 Ob 36/20t und den für das Urheberrecht anerkannten Grundsatz der Territorialität berufen, wonach sich ein von einem Kläger in Anspruch genommener Schutz nach dem österreichischen Urheberrecht nur auf Österreich beziehe und der Kläger daher nur einen auf Österreich beschränkten Unterlassungsanspruch geltend machen könne. Weder die Klägerin noch die Drittbeklagte hätten zudem ihren Sitz in Österreich oder einem anderen Mitgliedstaat der Union.
[25] Die einstweilige Verfügung gegen die Drittbeklagte ist in Rechtskraft erwachsen. Über das mit dem Sicherungsbegehren idente Unterlassungsbegehren in der Hauptsache gegen alle vier Beklagten wird vom Erstgericht noch zu verhandeln und zu entscheiden sein.
[26] Der Oberste Gerichtshof hat hier vorerst über den gegen die Antragsabweisungen erhobenen Revisionsrekurs der Klägerin zu entscheiden, mit dem diese die vollständige (weltweite) Stattgebung des Sicherungsantrags gegen alle vier Beklagten anstrebt.
[27] IV. Rechtsgrundlagen
[28] Die RL 2001/29/EG lautet (auszugsweise):
Art 2
Die Mitgliedstaaten sehen für folgende Personen das ausschließliche Recht vor, die unmittelbare oder mittelbare, vorübergehende oder dauerhafte Vervielfältigung auf jede Art und Weise und in jeder Form ganz oder teilweise zu erlauben oder zu verbieten:
a) für die Urheber in Bezug auf ihre Werke,
[…]
e) für die Sendeunternehmen in Bezug auf die Aufzeichnungen ihrer Sendungen, unabhängig davon, ob diese Sendungen drahtgebunden oder drahtlos, über Kabel oder Satellit übertragen werden.
Art 3 Abs 1
Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern das ausschließliche Recht zusteht, die drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Wiedergabe ihrer Werke einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung der Werke in der Weise, dass sie Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich sind, zu erlauben oder zu verbieten.
Art 5
[…]
(2) Die Mitgliedstaaten können in den folgenden Fällen Ausnahmen oder Beschränkungen in Bezug auf das in Artikel 2 vorgesehene Vervielfältigungsrecht vorsehen:
[…]
b) in Bezug auf Vervielfältigungen auf beliebigen Trägern durch eine natürliche Person zum privaten Gebrauch und weder für direkte noch indirekte kommerzielle Zwecke unter der Bedingung, dass die Rechtsinhaber einen gerechten Ausgleich erhalten, wobei berücksichtigt wird, ob technische Maßnahmen gemäß Artikel 6 auf das betreffende Werk oder den betreffenden Schutzgegenstand angewendet wurden;
[…]
(5) Die in den Absätzen 1, 2, 3 und 4 genannten Ausnahmen und Beschränkungen dürfen nur in bestimmten Sonderfällen angewandt werden, in denen die normale Verwertung des Werks oder des sonstigen Schutzgegenstands nicht beeinträchtigt wird und die berechtigten Interessen des Rechtsinhabers nicht ungebührlich verletzt werden.
[29] Art 7 Nr 2 VO 1215/2012 lautet:
Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden
[...]
2. wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht.
[30] § 15 Abs 1 (österreichisches) UrhG lautet:
Der Urheber hat das ausschließliche Recht, das Werk – gleichviel in welchem Verfahren, in welcher Menge und ob vorübergehend oder dauerhaft – zu vervielfältigen.
[31] § 17 Abs 1 UrhG lautet:
Der Urheber hat das ausschließliche Recht, das Werk durch Rundfunk oder auf eine ähnliche Art zu senden.
[32] § 18 Abs 3 UrhG lautet:
Zu den öffentlichen Vorträgen, Aufführungen und Vorführungen gehören auch die Benutzung einer Rundfunksendung oder öffentlichen Zurverfügungstellung eines Werkes zu einer öffentlichen Wiedergabe des gesendeten oder der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellten Werkes durch Lautsprecher oder durch eine andere technische Einrichtung sowie die auf eine solche Art bewirkte öffentliche Wiedergabe von Vorträgen, Aufführungen oder Vorführungen eines Werkes außerhalb des Ortes (Theater, Saal, Platz, Garten u. dgl.), wo sie stattfinden.
[33] § 18a Abs 1 UrhG lautet:
Der Urheber hat das ausschließliche Recht, das Werk der Öffentlichkeit drahtgebunden oder drahtlos in einer Weise zur Verfügung zu stellen, dass es Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich ist.
[34] § 59a UrhG lautet:
(1) Das Recht, Rundfunksendungen von Werken einschließlich solcher über Satellit zur gleichzeitigen, vollständigen und unveränderten Weitersendung mit Hilfe von Leitungen zu benutzen, kann nur von Verwertungsgesellschaften geltend gemacht werden; dies gilt jedoch nicht für das Recht, Verletzungen des Urheberrechtes gerichtlich zu verfolgen.
(2) Rundfunksendungen dürfen zu einer Weitersendung im Sinn des Abs. 1 benutzt werden, wenn der weitersendende Rundfunkunternehmer die Bewilligung dazu von der zuständigen Verwertungsgesellschaft (§ 1 Verwertungsgesellschaftengesetz 2006) erhalten hat. Mit Beziehung auf diese Bewilligung haben auch die Urheber, die mit der Verwertungsgesellschaft keinen Wahrnehmungsvertrag geschlossen haben und deren Rechte auch nicht auf Grund eines Gegenseitigkeitsvertrags mit einer ausländischen Verwertungsgesellschaft wahrgenommen werden, dieselben Rechte und Pflichten wie die Bezugsberechtigten der Verwertungsgesellschaft.
(3) Die Abs. 1 und 2 gelten jedoch nicht, soweit das Recht zur Weitersendung im Sinn des Abs. 1 dem Rundfunkunternehmer, dessen Sendung weitergesendet wird, zusteht.
[35] § 76a UrhG lautet (auszugsweise):
(1) Wer Töne oder Bilder durch Rundfunk oder auf eine ähnliche Art sendet (§ 17, Rundfunkunternehmer), hat mit den vom Gesetz bestimmten Beschränkungen das ausschließliche Recht, die Sendung gleichzeitig über eine andere Sendeanlage zu senden und zu einer öffentlichen Wiedergabe im Sinne des § 18 Abs. 3 an Orten zu benutzen, die der Öffentlichkeit gegen Zahlung eines Eintrittsgeldes zugänglich sind; der Rundfunkunternehmer hat weiter das ausschließliche Recht, die Sendung auf einem Bild- oder Schallträger (insbesondere auch in Form eines Lichtbildes) festzuhalten, diesen zu vervielfältigen, zu verbreiten und zur öffentlichen Zurverfügungstellung zu benutzen. Unter der Vervielfältigung wird auch die Benutzung einer mit Hilfe eines Bild- oder Schallträgers bewirkten Wiedergabe zur Übertragung auf einen anderen verstanden.
(2) Dem Abs. 1 zuwider vervielfältigte oder verbreitete Bild- oder Schallträger dürfen zu einer Rundfunksendung (§ 17) oder zu einer öffentlichen Wiedergabe nicht benutzt werden.
(3) Zum privaten Gebrauch und weder für unmittelbare noch mittelbare kommerzielle Zwecke darf jede natürliche Person eine Rundfunksendung auf einem Bild- oder Schallträger festhalten und von diesem einzelne Vervielfältigungsstücke herstellen. § 42 Abs. 2 und 3 sowie 5 bis 7 und § 42a gelten entsprechend.
Rechtliche Beurteilung
[36] V. Vorlagefragen I und II:
[37] 1. Zu prüfen sind im vorliegenden Fall unter anderem die Fragen, ob neben der Drittbeklagten als unmittelbarer Betreiberin einer Streamingplattform auch die Erst- und die Zweitbeklagte sowie die Viertbeklagte eine öffentliche Wiedergabe von geschützten Sendungsinhalten iSd Art 3 Abs 1 RL 2001/29/EG zu verantworten haben.
[38] 2. Der EuGH ist in seiner Entscheidung in der Rs C-527/15, Stichting Brein I – Filmspeler, zum Ergebnis gelangt, dass eine (unmittelbare) öffentliche Wiedergabe geschützter Werke auch vornimmt, wer die unzulässige Übertragung durch Dritte erleichtert, wenn er sich (iSd ErwGr 27 RL 2001/29/EG) nicht auf die bloße (körperliche) Bereitstellung von Einrichtungen beschränkt, die eine Wiedergabe ermöglichen oder bewirken, sondern – insbesondere unter Bedachtnahme auf sein wissentliches Tätigwerden – eine zentrale Rolle bei der Übertragung einnimmt.
[39] 3. Unter welchen besonderen Voraussetzungen in extensiver Auslegung des Begriffs der „öffentlichen Wiedergabe“ (vgl die grundsätzliche Kritik von Generalanwalt Saugmandsgaard Øe in seinen Schlussanträgen vom zu C-682/18 und C-683/19, Peterson, Rn 65, 98 f und 102 mwN) auch Handlungen, die nicht selbst als Übertragung zu beurteilen sind, sondern die Übertragung durch Dritte nur erleichtern, in den Anwendungsbereich des Art 3 Abs 1 RL 2001/29/EG fallen, ist aus Sicht des OGH auf Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des EuGH nicht mit letzter Klarheit zu beurteilen:
[40] 3.1. In bereits mehreren Entscheidungen hat der EuGH zwar allgemein festgehalten, dass eine „zentrale Rolle“ bei der Übertragung im zuvor angesprochenen Sinn einnimmt, wer in voller Kenntnis der Folgen seines Verhaltens tätig wird, um seinen Kunden Zugang zu einem geschützten Werk zu verschaffen, und zwar insbesondere dann, wenn ohne dieses Tätigwerden die Kunden das ausgestrahlte Werk grundsätzlich nicht oder nur schwer empfangen könnten (vgl C-527/15, Stichting Brein I – Filmspeler, Rn 31; C-610/15, Stichting Brein II – Ziggo [„The Pirate Bay“], Rn 26; siehe bereits C-117/15, Reha Training, Rn 46, und C-160/15, GS Media, Rn 35 mwN).
[41] Die Beurteilung hängt aber ganz wesentlich von einer wertenden Gesamtbetrachtung ausgehend von den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab, indem eine Reihe weiterer Kriterien zu berücksichtigen ist, die unselbständig und miteinander verflochten sind. Diese Kriterien seien deshalb einzeln und in ihrem Zusammenwirken mit den anderen Kriterien anzuwenden, da sie im jeweiligen Einzelfall in sehr unterschiedlichem Maß vorliegen können (vgl C-527/15, Stichting Brein I – Filmspeler, Rn 30; C-610/15, Stichting Brein II – Ziggo [„The Pirate Bay“], Rn 25).
[42] 3.2. Dessen ungeachtet bedarf es nach Auffassung des OGH noch einer Klarstellung, insbesondere in Ansehung der Frage, welche konkreten – objektiven und subjektiven – Tatbestandsmerkmale bei dem die maßgeblichen Einrichtungen Bereitstellenden, aber auch bei mit ihm zusammenwirkenden Dritten, vorliegen müssen, damit jeweils von einer „zentralen Rolle“ bei der Übertragung ausgegangen werden kann:
[43] Die vom EuGH wiederholt gebrauchte Wendung „[…] tätig wird, um […] Zugang zu einem geschützten Werk zu verschaffen […]“ deutet darauf hin, dass im Regelfall neben der explizit angesprochenen „vollen Kenntnis“, also der Wissentlichkeit, in Bezug auf die Folgen seines Verhaltens zusätzlich ein absichtliches bzw zielgerichtetes Tätigwerden in dem Sinn zu fordern sein wird, dass die Bereitstellung der Einrichtungen gerade auf den Eingriff in geschützte Werke abzielen muss. Das wäre insbesondere dann der Fall, wenn das bereitgestellte Produkt speziell auf die unerlaubte Übertragung von geschützten Sendeinhalten ausgerichtet ist.
[44] Hingegen legen die konkreten Sachverhaltsumstände, die der Entscheidung C-527/15, Stichting Brein I – Filmspeler,zugrundelagen, nahe, dass die bloße Kenntnis des kommerziellen Anbieters des Medienabspielers davon, dass das bereitgestellte Produkt (neben maßgeblichen erlaubten Nutzungsmöglichkeiten) auch für die unerlaubte öffentliche Wiedergabe geschützter Inhalte verwendet werden kann bzw tatsächlich verwendet wird, im Allgemeinen nicht ausreicht: Dort nahm der Anbieter bewusst eine Vorinstallation von Add-ons auf dem von ihm vertriebenen Medienabspieler vor, die dessen Erwerbern speziell Zugang zu geschützten Werken verschafften, die auf (sonst von der Öffentlichkeit nicht leicht ausfindig zu machenden) Streamingseiten ohne Erlaubnis der Rechteinhaber veröffentlicht wurden, und warb mit dieser besonderen Funktionalität, die auch Hauptanreiz für potenzielle Erwerber des Produkts war.
[45] 3.3. Setzt man im dargelegten Sinn ein zielgerichtetes Tätigwerden als entscheidendes Kriterium für die Bejahung einer „zentralen Rolle“ bei der Übertragung voraus, wenn nicht ausnahmsweise besondere andere Umstände des Einzelfalls das Fehlen dieses subjektiven Elements auszugleichen vermögen, wäre im vorliegenden Fall eine öffentliche Wiedergabe geschützter Werke durch die Streamingplattform der Drittbeklagten, aber auch durch die auf die festgestellte Weise an deren Vertrieb Mitwirkenden fraglich, wenn keine Tätigkeit entfaltet wird, die geradezu auf den Eingriff in Werknutzungsrechte ausgerichtet ist, indem sie einen speziellen Zugang zu geschützten Werken verschafft, die sonst nur schwer empfangen werden könnten.
[46] 3.4. Dieses Verständnis ist allerdings nicht zwingend und kontrastiert auch mit den Ausführungen des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe in seinen Schlussanträgen zu C-682/18 und C-683/19, Peterson, Rn 110 ff. Danach soll das „wissentliche Erleichtern“ der rechtswidrigen Handlungen Dritter ausreichen, ohne dass neben dieser kognitiven Komponente des Vorsatzes des kommerziellen Anbieters noch auf ein zusätzliches voluntatives Element, also auf eine – speziell gesteigerte – Wollenskomponente abzustellen wäre. In diesem Fall kann den Beklagten im vorliegenden Fall eine öffentliche Wiedergabe iSd Art 3 Abs 1 RL 2001/29/EG vorgeworfen werden.
[47] VI. Vorlagefrage III
[48] 1.1. Schon in der Entscheidung zu C-192/04, Lagardére, hat der EuGH festgehalten, dass eine Harmonisierung des Urheberrechts durch die Richtlinie 2001/29/EG den Grundsatz der Territorialität von Urheberrechten, der durch das Völkerrecht und das EU-Recht anerkannt wird, nicht infrage stellt. Derartige Rechte haben territorialen Charakter, weshalb das nationale Recht nur im Inland vorgenommene Handlungen ahnden kann (Rn 46).
[49] In der Entscheidung C-170/12, Pinckney, hat der EuGH darauf hingewiesen, dass die Urhebervermögensrechte – ebenso wie die Rechte aus einer nationalen Marke – zwar dem Territorialitätsgrundsatz unterlägen, sie jedoch unter anderem wegen der Richtlinie 2001/29/EG automatisch in allen Mitgliedstaaten zu schützen seien, so dass sie in jedem von ihnen nach dem dort jeweils anwendbaren materiellen Recht verletzt werden könnten (Rn 29). Im Fall der Geltendmachung einer Verletzung von Urhebervermögensrechten, die vom Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts gewährleistet würden, sei dieses Gericht für eine Haftungsklage des Urhebers eines Werks gegen eine Gesellschaft zuständig, die in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen sei und das Werk dort auf einem physischen Trägermedium vervielfältigt habe, das anschließend von Gesellschaften mit Sitz in einem dritten Mitgliedstaat über eine auch im Bezirk des angerufenen Gerichts zugängliche Website veräußert werde. Dieses Gericht sei nur für die Entscheidung über den Schaden zuständig, der im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verursacht worden sei, zu dem es gehöre. Wäre dieses Gericht nämlich auch für die Entscheidung über den in anderen Mitgliedstaaten verursachten Schaden zuständig, setzte es sich an die Stelle der Gerichte dieser Staaten, obwohl diese nach dem Territorialitätsgrundsatz grundsätzlich für die Entscheidung über einen im Hoheitsgebiet ihres jeweiligen Mitgliedstaats verursachten Schaden zuständig und am besten in der Lage seien, zu beurteilen, ob die vom betreffenden Mitgliedstaat gewährleisteten Urhebervermögensrechte tatsächlich verletzt worden seien, und die Natur des verursachten Schadens zu bestimmen (Rn 46 f).
[50] An C-170/12, Pinckney, anknüpfend wurde auch in C-441/13, Hejduk, ausgeführt, dass im Fall der Geltendmachung einer Verletzung von Urheber- und verwandten Schutzrechten, die vom Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts gewährleistet werden, dieses Gericht in Anknüpfung an den Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs für eine Klage auf Schadenersatz wegen Verletzung dieser Rechte durch die Veröffentlichung von geschützten Lichtbildern auf einer in seinem Bezirk zugänglichen Website zuständig sei, und zwar nur für die Entscheidung über den Schaden, der im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verursacht worden sei, zu dem es gehöre.
[51] 1.2. In der – Persönlichkeitsrechtsverletzungen betreffenden – Rechtssache C-194/16, Bolagsupplysningen, Rn 48 f, entschied der EuGH indes, dass in Anbetracht der umfassenden Abrufbarkeit der auf einer Website veröffentlichten Angaben und Inhalte und des Umstands, dass die Reichweite ihrer Verbreitung grundsätzlich weltumspannend sei, ein auf die Richtigstellung dieser Angaben und die Entfernung dieser Inhalte gerichteter Antrag einheitlich und untrennbar sei und somit nur bei einem Gericht erhoben werden könne, das nach der Rechtsprechung, die sich aus den Urteilen C-68/93, Shevill, Rn 25, 26 und 32, sowie C-509/09 und C-161/10, eDate Advertising Rn 42 und Rn 48, ergebe, für die Entscheidung über einen Antrag auf Ersatz des gesamten Schadens zuständig sei, und nicht bei einem Gericht, das nicht über eine solche Zuständigkeit verfügt. Eine Person, deren Persönlichkeitsrechte durch die Veröffentlichung unrichtiger Angaben über sie im Internet und durch das Unterlassen der Entfernung sie betreffender Kommentare verletzt worden sein solle, könne daher nicht vor den Gerichten jedes Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die im Internet veröffentlichten Informationen zugänglich (gewesen) seien, eine Klage auf Richtigstellung der Angaben und Entfernung der Kommentare erheben.
[52] 2. Diese Ausführungen legen eine Auslegung nahe, wonach aus dem für das Urheberrecht geltenden Grundsatz der Territorialität folgt, dass sich der von einem Kläger in Anspruch genommene Schutz nach (hier) österreichischem Urheberrecht nur auf (hier) Österreich bezieht und der Kläger daher nur einen auf (hier) Österreich beschränkten Unterlassungsanspruch geltend machen kann; die Verletzungshandlung muss demnach in Österreich begangen worden sein oder sich auf Österreich auswirken.
[53] 3. Im Schrifttum (vgl Walter in MR 2020, 135 = Glosse zu OGH 4 Ob 36/20b, MR 2020, 130 [insbes 137 mwN]) wird diese Schlussfolgerung, wonach damit der urheberrechtliche Anspruch, so wie auch andere immaterialgüterrechtliche Ansprüche, grundsätzlich territorial begrenzt ist, hingegen kritisiert. Gegen sie wird ins Treffen geführt, dass solche Ansprüche wie Persönlichkeitsrechte (vgl EuGH C-194/16, Bolagsupplysningen) weltumspannend ausgerichtet sind und von nationalen Gerichten weltweit gewährt werden können, etwa weil auch hier einheitliche und untrennbare Anträge vorliegen, die bei einem Gericht erhoben werden können, das nach der Rechtsprechung, die sich aus den EuGH-Urteilen C-68/93, Shevill, Rn 25, 26 und 32, sowie C-509/09 und C-161/10, eDate Advertising, Rn 42 und 48, ergibt, für die Entscheidung über einen Antrag auf Ersatz des gesamten Schadens zuständig ist („Mittelpunktsdoktrin“).
[54] 4. Zur endgültigen Klärung dieser praktisch bedeutsamen Frage ist eine neuerliche Befassung des EuGH angezeigt.
[55] VII. Verfahrensrechtliches
[56] Als Gericht letzter Instanz ist der OGH zur Vorlage verpflichtet, wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts nicht derart offenkundig ist, dass kein Raum für einen vernünftigen Zweifel bleibt. Solche Zweifel liegen hier vor.
Zu B
[57] Bis zur Entscheidung des EuGH ist das Verfahren über das Rechtsmittel gemäß § 90a Abs 1 GOG zu unterbrechen.
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.-Prof. PD Dr. Rassi sowie MMag. Matzka und die Hofrätin Mag. Istjan, LL.M., als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G* d.o.o., *, Serbien, vertreten durch die Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. G* GmbH, *, 2. S* D*, 3. G* d.o.o., *, Serbien, und 4. M* GmbH, *, alle vertreten durch MMag. Ewald Lichtenberger und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Unterlassung, Beseitigung, Rechnungslegung und Zahlung sowie Urteilsveröffentlichung, hier: wegen Erlassung einer einstweiligen Verfügung (Streitwert im Sicherungsverfahren 43.200 EUR), infolge Revisionsrekurses der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom , GZ 30 R 244/20b-26, mit dem der Beschluss des Handelsgerichts Wien vom , GZ 53 Cg 26/20z-20, teils bestätigt und teils abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Das „Ersuchen um Klarstellung an das Vorlagegericht“ des Gerichtshofs der Europäischen Union zu GZ C-423/21-Nr 21, ist wie folgt zu beantworten:
„1.1. Die Klägerin stellt in ihrem Vorbringen auf das Ergebnis ab, dass die Programme nach ihren Behauptungen (und den Feststellungen des Erstgerichts) von einem „Testkäufer“ im Zeitraum 30. 4. bis auch ohne Verwendung eines VPN-Tunnels nicht abgedunkelt abgerufen werden konnten.
1.2. Die Beklagten hielten dem entgegen, sie hätten sich an die Pflicht zur Verdunkelung gehalten, eine Abrufbarkeit in Österreich könne nur durch einen – von ihnen nicht zu verhindernden – VPN-Tunnel geschehen sein.
2. Die Feststellung im Provisorialverfahren, wonach die klagsgegenständlichen Sendungen im Zeitraum von bis mehrmals über die Plattform der Drittbeklagten in Österreich abgerufen werden konnten, ohne dass ein VPN-Tunnel verwendet wurde, stützt sich vorerst nur auf parate Urkunden (eidesstättige Erklärungen eines von der Klägerin namhaft gemachten Privatdetektivs), insofern nicht jedoch auf die Aufnahme von hierzu von beiden Parteien für das Hauptbegehren angebotenen weiteren Beweisen (zB die unmittelbare Vernehmung von Zeugen).
Hierzu und zu den Behauptungen der Beklagten wird daher in der Verhandlung zum deckungsgleichen Hauptbegehren des Ausgangsverfahrens Beweis aufzunehmen und zu entscheiden sein. Es ist daher absehbar, dass beide im Ersuchen um Klarstellung angesprochenen Aspekte im weiteren Verlauf des Ausgangsverfahrens relevant sein werden.
3. Die vom Obersten Gerichtshof an den Europäischen Gerichtshof gestellte Frage I. wird daher dahin präzisiert, dass am Ende des vorletzten Gedankenstrichs statt des Worts 'jedoch' das Wort 'oder' zu stehen hat.
Die Frage I. hat daher insgesamt zu lauten wie folgt:
'Ist der Begriff der ''öffentlichen Wiedergabe'' in Art 3 Abs 1 Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl L 167, S 10) dahin auszulegen, dass diese vom (hier nicht in der Union ansässigen) unmittelbaren Betreiber einer Streamingplattform vorgenommen wird, der
– allein über den Inhalt und die Abdunkelung von von ihm verbreiteten TV-Sendungen entscheidet und diese technisch durchführt,
– die alleinigen Administratorenrechte für die Streamingplattform hat,
– Einfluss darauf nehmen kann, welche TV-Programme vom Endnutzer über den Dienst empfangen werden können, jedoch ohne Einfluss auf den Inhalt der Programme nehmen zu können,
– und alleiniger Kontrollpunkt dafür ist, welche Programme und Inhalte wann auf welchen Territorien zu sehen sind,
wenn dabei jeweils
– dem Nutzer Zugriff nicht nur auf Sendungsinhalte vermittelt wird, deren Online-Nutzung die jeweiligen Rechtsinhaber erlaubt haben, sondern auch auf solche geschützte Inhalte, bei denen eine entsprechende Rechteklärung unterblieben ist, und
– der unmittelbare Betreiber der Streamingplattform weiß, dass sein Dienst auch den Empfang von geschützten Sendungsinhalten ohne Zustimmung der Rechteinhaber ermöglicht, indem die Endkunden VPN-Dienste verwenden, die suggerieren, die IP-Adresse und Gerät der Endkunden befinde sich in Gebieten, für die eine Zustimmung des Rechteinhabers vorliegt, oder
– der Empfang von geschützten Sendungsinhalten über die Streamingplattform ohne Zustimmung der Rechteinhaber auch ohne VPN-Tunnelung für mehrere Wochen tatsächlich möglich war?'“
Rechtliche Beurteilung
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, MMag. Matzka und Dr. Kikinger sowie die Hofrätin Mag. Istjan, LL.M. als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G* d.o.o., *, Serbien, vertreten durch die Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. G* GmbH, *, 2. S* D*, 3. G* d.o.o. *, Serbien, und 4. M* GmbH, *, alle vertreten durch MMag. Ewald Lichtenberger und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Unterlassung, Beseitigung, Rechnungslegung und Zahlung sowie Urteilsveröffentlichung, hier: wegen Erlassung einer einstweiligen Verfügung (Streitwert im Sicherungsverfahren 43.200 EUR), infolge Revisionsrekurses der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom , GZ 30 R 244/20b-26, mit dem der Beschluss des Handelsgerichts Wien vom , GZ 53 Cg 26/20z-20, teils bestätigt und teils abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
I. Die Zurücknahme der Klage und des Antrags auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung unter Anspruchsverzicht wird zur Kenntnis genommen. Die Entscheidungen der Vorinstanzen einschließlich der Kostenentscheidungen sind wirkungslos.
II. Das Ersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union um Vorabentscheidung gemäß Art 267 AEUV vom , dort anhängig zu C-423/21, wird zurückgezogen.
Text
Begründung:
[1] Im Verfahren über den Revisionsrekurs der Klägerin gegen den Beschluss des Rekursgerichts, mit dem ihr Antrag auf Erlassung von einstweiligen Verfügungen zur Sicherung ihres Unterlassungsbegehrens abgewiesen wurde, unterbrach der Oberste Gerichtshof mit Beschluss vom das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über den gleichzeitig gestellten, mit Beschluss vom präzisierten, Antrag auf Vorabentscheidung gemäß § 90a Abs 1 GOG (RS0133717).
[2] Nunmehr erklärt die Klägerin, die Klage und den Sicherungsantrag unter Verzicht auf den Anspruch zurückzuziehen.
Rechtliche Beurteilung
[3] I. Auch wenn § 163 Abs 2 ZPO während einer Verfahrensunterbrechung vorgenommene Prozesshandlungen generell für rechtsunwirksam erklärt, gilt dies nicht für solche Dispositionen, die zur endgültigen Erledigung des Prozesses führen. Insbesondere die Klagerücknahme unter Anspruchsverzicht ist in diesem Sinn als zulässig anzusehen (1 Ob 98/18w mwN).
[4] § 483 Abs 3 ZPO, wonach unter anderem bis zur Entscheidung des Berufungsgerichts die Klage, soweit sie Gegenstand des Berufungsverfahrens ist, zurückgenommen werden kann, wenn gleichzeitig auf den Anspruch verzichtet wird, ist gemäß § 513 ZPO auch im Revisionsverfahren und analog auch im Rekursverfahren (Revisionsrekursverfahren) vor dem Obersten Gerichtshof (RS0081567 [insb T1, T14]; 4 Ob 104/18z) ebenso wie im Sicherungsverfahren (RS0120298) anzuwenden. Es ist daher mit deklarativem Beschluss – dessen Fassung jenem Gericht obliegt, bei dem das Verfahren gerade anhängig ist (1 Ob 98/18w) – auszusprechen, dass die Entscheidungen der Vorinstanzen wirkungslos sind (RS0081567 [T4, T8, T10, T11]; vgl RS0114549); von dieser Wirkungslosigkeit sind auch die Kostenentscheidungen der Vorinstanzen erfasst (RS0106421).
[5] II. Da eine Entscheidung über die im Vorabentscheidungsersuchen gestellten Fragen wegen Entfalls einer Entscheidung über den Revisionsrekurs der Klägerin nicht mehr erforderlich ist, war gleichzeitig das Vorabentscheidungsersuchen zurückzuziehen (§ 90a Abs 2 GOG; 7 Ob 86/01z mwN).
Zusatzinformationen
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
Schlagworte | serbische Casting‑Show/Streaming‑Plattform |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2021:E132154 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
VAAAB-55538