OGH 25.07.2023, 2Ob148/23p
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon.-Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei B*, vertreten durch Specht Partner Rechtsanwalt GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei A*, vertreten durch Mag. Alain Danner, Rechtsanwalt in Wien, wegen 10.196 EUR sA und Feststellung (Streitwert: 10.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom , GZ 1 R 121/20a14, womit das Urteil des Handelsgerichts Wien vom , GZ 20 Cg 30/19v10, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 1.332,54 EUR (darin 222,09 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung sowie die mit 1.364,05 EUR (darin 227,34 EUR USt) bestimmten Kosten des Verfahrens vor dem Gerichtshof der Europäischen Union jeweils binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
[1] Auf einem am von der Beklagten durchgeführten Flug von Tel Aviv nach Wien fiel eine Kanne von einem Servierwagen, der durch die Sitzreihen manövriert worden war. Dadurch wurde der Kläger mit heißem Kaffee verbrüht.
[2] Der begehrt mit seiner am eingebrachten Klage Zahlung von 10.196 EUR sA und die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle zukünftigen Schäden aus dem Unfallereignis. Er habe schwere Verbrennungen erlitten. Die Beklagte hafte für das fahrlässige Verhalten ihres Personals und zwar nicht nur für die den Unfall auslösende Unachtsamkeit, sondern auch für die unzureichende Erstversorgung seiner Verletzungen. Insoweit sei österreichisches Schadenersatzrecht anzuwenden, danach seien die Ansprüche nicht verjährt.
[3] Die bestritt und brachte vor, dass die Verletzungen des Klägers ordnungsgemäß versorgt worden seien. Im Übrigen sei das Klagebegehren angesichts der anzuwendenden zweijährigen Ausschlussfrist abzuweisen.
[4] Das wies das Klagebegehren ab. Es hielt das Warschauer Abkommen für maßgeblich, weil Israel das Montrealer Übereinkommen (in der Folge: „MÜ“) nicht ratifiziert habe. Da Schadenersatzansprüche nur innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Jahren erhoben werden könnten, sei das Klagebegehren abzuweisen.
[5] Das bestätigte diese Entscheidung im Ergebnis unter Hinweis darauf, dass Israel das MÜ am ratifiziert habe und dieses Übereinkommen daher anzuwenden sei. Der Begriff „Unfall“ nach Art 17 Abs 1 MÜ erfasse laut Europäischem Gerichtshof auch Vorfälle ohne luftfahrtspezifisches Risiko. Die Haftung nach dieser Bestimmung erstrecke sich grundsätzlich auf alle durch den Unfall hervorgerufenen Personenschäden, wenn das Unfallereignis eine conditio sine qua non für den Schaden sei. Nur – hier nicht vorliegende – völlig außergewöhnliche Geschehensabläufe seien nicht mehr erfasst. Die Verletzungen des Klägers seien – auch wenn die damit verbundenen körperlichen Beeinträchtigungen durch eine fachgerechte Erstversorgung möglicherweise vermindert oder vermieden worden wären – durch einen Unfall an Bord des Luftfahrzeugs entstanden. Sein Ersatzanspruch werde daher vom Anwendungsbereich des MÜ erfasst und sei infolge der zweijährigen Ausschlussfrist des Art 35 MÜ verfristet.
[6] Mangels höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Frage, ob die Ausschlussfrist des Art 35 MÜ auch dann gilt, wenn Schadenersatzansprüche auf eine mangelnde Versorgung der bei einem Unfall an Bord eines Luftfahrzeugs erlittenen Verletzungen gestützt werden, ließ das Berufungsgericht die ordentliche Revision zu.
[7] Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und dem Erstgericht die neuerlichen Entscheidung nach neuerlicher Verhandlung aufzutragen. Inhaltlich macht er ausschließlich geltend, dass die mangelnde Erstversorgung als separates Schadensereignis zu werten, vom Unfallsgeschehen getrennt zu betrachten und vom MÜ nicht umfasst sei, sodass die dreijährige Verjährungsfrist des § 1489 ABGB zur Anwendung komme.
[8] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[9] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig. Das Rechtsmittel ist aber nicht berechtigt.
[10] 1.1 Im Revisionsverfahren ist die Auslegung folgender Bestimmungen des MÜ strittig:
Art 17 Abs 1 MÜ:
Der Luftfrachtführer hat den Schaden zu ersetzen, der dadurch entsteht, dass ein Reisender getötet oder körperlich verletzt wird, jedoch nur, wenn sich der Unfall, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat.
Art 29 MÜ:
Bei der Beförderung von Reisenden, Reisegepäck und Gütern kann ein Anspruch auf Schadenersatz, auf welchem Rechtsgrund er auch beruht, sei es dieses Übereinkommen, ein Vertrag, eine unerlaubte Handlung oder ein sonstiger Rechtsgrund, nur unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen geltend gemacht werden, die in diesem Übereinkommen vorgesehen sind; die Frage, welche Personen zur Klage berechtigt sind und welche Rechte ihnen zustehen, wird hierdurch nicht berührt. Bei einer derartigen Klage ist jeder eine Strafe einschließende, verschärfte oder sonstige nicht kompensatorische Schadenersatz ausgeschlossen.
[11] 1.2 Eine der in Art 29 MÜ angesprochenen Beschränkungen ergibt sich aus Art 35 MÜ:
(1) Die Klage auf Schadenersatz kann nur binnen einer Ausschlussfrist von zwei Jahren erhoben werden. Die Frist beginnt mit dem Tage, an dem das Luftfahrzeug am Bestimmungsort angekommen ist oder an dem es hätte ankommen sollen oder an dem die Beförderung abgebrochen worden ist.
(2) Die Berechnung der Frist bestimmt sich nach den Gesetzen des angerufenen Gerichts.
[12] 2. Der Senat ersuchte den Gerichtshof der Europäischen Union um eine Vorabentscheidung ua zur Auslegung des Art 17 Abs 1 MÜ (2 Ob 19/21i).
[13] 3.1 Der EuGH entschied mit Urteil vom , C-510/21, DB/Austrian Airlines, wie folgt: „Art 17 Abs 1 MÜ ist dahin auszulegen, dass die unzureichende medizinische Erstversorgung eines Reisenden an Bord eines Luftfahrzeugs, die zu einer Verschlimmerung der durch einen 'Unfall' im Sinne dieser Bestimmung verursachten Körperverletzung geführt hat, als Teil dieses Unfalls anzusehen ist.“
[14] 3.2 Der EuGH führte aus, dass ein Unfall als ein unvorhergesehenes, unbeabsichtigtes, schädigendes Ereignis zu verstehen ist, wobei nicht verlangt wird, dass der Schaden auf das Eintreten eines luftfahrtspezifischen Risikos zurückgeht oder dass es einen Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Betrieb oder der Bewegung des Luftfahrzeugs gibt (Rz 22). Ein Schadenseintritt kann nicht immer auf ein isoliertes Ereignis zurückgeführt werden, wenn dieser Schaden sich als Folge eines Bündels von Ereignissen darstellt, die einander gegenseitig bedingen. Somit ist ein innerlich zusammenhängender Vorgang ohne räumlich-zeitliche Zäsur als ein einheitlicher Unfall im Sinne von Art 17 Abs 1 MÜ anzusehen (Rz 23). Dies ist der Fall, wenn – wie vorliegend – das Umfallen einer Kaffeekanne dazu führt, dass ein Reisender verbrüht wird und unverzüglich vom Bordpersonal medizinisch erstversorgt werden muss. In Anbetracht der räumlichen und zeitlichen Kontinuität zwischen dem Umfallen der Kaffeekanne und der medizinischen Erstversorgung des dadurch verletzten Reisenden besteht nämlich unbestreitbar ein Kausalzusammenhang zwischen diesem Umfallen und der Verschlimmerung der dadurch verursachten Körperverletzung aufgrund der unzureichenden medizinischen Erstversorgung (Rz 24).
[15] 4. Der Senat hat in seinem Ersuchen um Vorabentscheidung bereits festgehalten, dass der Anspruch des Klägers zweifelsfrei nach Art 35 MÜ präkludiert wäre, wenn dessen Verbrühung mit Kaffee und eine daran anschließende unzureichende medizinische Erstversorgung an Bord des Luftfahrzeugs als einheitliches Geschehen unter den Unfallbegriff des Art 17 Abs 1 MÜ fallen. Ein Rückgriff auf nationales Recht (in casu: § 1489 ABGB) wäre dann keinesfalls möglich.
[16] 5. Daran ist festzuhalten. Aufgrund der Entscheidung des EuGH ist geklärt, dass es sich um ein einheitliches Geschehen (Unfall iSd Art 17 MÜ) handelt, sodass die nach Ablauf von zwei Jahren eingebrachte Klage präkludiert ist.
[17] 6. Die Vorinstanzen haben die Klage daher zutreffend abgewiesen, weshalb der Revision keine Folge zu geben war.
[18] 7. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens einschließlich jener des Vorabentscheidungsverfahrens (dazu zuletzt 4 Ob 236/22t mwN) gründet sich auf §§ 41 Abs 1, 50 ZPO.
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2023:0020OB00148.23P.0725.000 |
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Fundstelle(n):
OAAAB-55361