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OGH vom 17.01.2023, 2Ob141/22g

OGH vom 17.01.2023, 2Ob141/22g

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon.-Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Kinder M*, geboren am * und H*, geboren am *, über den Revisionsrekurs des Vaters DI J*, vertreten durch Mag. Hannes Huber, Rechtsanwalt in Melk, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom , GZ 23 R 139/22x-89, womit in Folge von Rekursen der Minderjährigen und des Vaters der Beschluss des Bezirksgerichts Melk vom , GZ 1 Pu 167/13g-82, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen, die im Umfang des Spruchpunkts 2. der Rekursentscheidung (teilweise Abweisung des Unterhaltserhöhungsantrags der Kinder) in Rechtskraft erwachsen sind, werden im Übrigen aufgehoben. Dem Erstgericht wird insoweit eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

[1] Der Vater strebt eine Reduktion seiner monatlichen Unterhaltsverpflichtung auf 170 EUR je Kind seit an, weil er die Kinder seit diesem Zeitpunkt annähernd gleichteilig mit der Mutter betreue.

[2] Das Rekursgericht nahm eine Reduktion der sich nach der Prozentsatzmethode rechnerisch ergebenden Unterhaltsverpflichtung um 10 % vor. Der Vater habe die Kinder zwar nicht gleichteilig betreut, es ergebe sich jedoch seit Oktober 2018 ein Betreuungsausmaß, das das übliche deutlich überschreite. Konkret betreue der Vater nach Abzug der als üblich anzusehenden 80 Tage pro Jahr im für ihn günstigsten Fall die Kinder an zwischen 30 und 48 zusätzlichen Tagen pro Kalenderjahr, sodass insgesamt ein Abzug von 10 % angemessen erscheine. Bei dieser Berechnung berücksichtigte das Rekursgericht die Besuchswochenenden des Vaters, deren Dauer von Samstag 9:00 Uhr bis Sonntag 18:00 Uhr zwischen den Eltern unstrittig war, mit zwei Tagen. Das wöchentliche Kontaktrecht unter der Woche (von Montag auf Dienstag) berücksichtigte das Rekursgericht mit einem Tag, für die zusätzliche Betreuung an einzelnen Nachmittagen (ohne Übernachtung) veranschlagte es jeweils einen halben Tag. Die in den Jahren 2020 und 2021 von den Kindern im Haushalt des Vaters absolvierten Zeiten des Distance-Learning berücksichtigte das Rekursgericht mit jeweils einem halben Tag.

[3] Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht nachträglich zu, weil Rechtsprechung zur Frage der Anrechnung von Betreuung im coronabedingten Home-Schooling fehle.

[4] Gegen die Abweisung seines Herabsetzungsantrags richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn einer Herabsetzung des von ihm monatlich zu zahlenden Unterhalts auf 150 EUR je Kind; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[5] Die Kinder beantragen in der Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise, ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[6] Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[7] Vorweg ist klarzustellen, dass der Vater in erster Instanz eine Herabsetzung seiner Unterhaltsverpflichtung (nur) auf 170 EUR je Monat und Kind beantragt hat, weshalb sein darüber hinaus gehender Antrag im Revisionsrekurs offenkundig irrtümlich gestellt wurde.

[8] 1. Nach dem von der Rechtsprechung entwickelten „betreuungsrechtlichen Unterhaltsmodell“ besteht kein Geldunterhaltsanspruch des Kindes, wenn die Betreuungsleistungen der Eltern sowie ihre sonstigen Naturalleistungen annähernd gleichwertig sind und ihr maßgebliches Einkommen annähernd gleich hoch ist (vgl RS0131331).

[9] Die Rechtsansicht des Rekursgerichts, dass er im Zeitraum ab keine annähernd gleichwertigen Betreuungsleistungen erbrachte, zieht der Vater im Revisionsrekurs nicht in Zweifel.

[10] 2. Teilen sich die Eltern die Betreuung in einem Ausmaß, das über den Rahmen der üblichen persönlichen Kontakte jenes Elternteils, bei dem sich das Kind nicht hauptsächlich aufhält, hinausgeht, ist nach der Rechtsprechung der zu leistende (nach der Prozentwertmethode bemessene) Geldunterhalt zu reduzieren, weil der Geldunterhaltspflichtige dann notwendigerweise über übliche Kontakte hinaus Naturalunterhalt leistet (RS0047452 [insb T6, T22]). Im Rahmen des Ermessens neigt die Rechtsprechung dazu, den Unterhaltsanspruch altersunabhängig um 10 % pro wöchentlichem Betreuungstag zu reduzieren, an dem sich das Kind über das übliche Ausmaß hinaus beim geldunterhaltspflichtigen Elternteil befindet. Dieser allgemeine Prozentsatz kann aber nur eine Orientierungshilfe darstellen und stellt nach der Rechtsprechung tendenziell eher die Untergrenze dar. Als üblich werden Kontakte von zwei Tagen alle zwei Wochen sowie von vier Wochen in den Ferien, also etwa 80 Tage im Jahr bzw rund eineinhalb Tage pro Woche, angesehen (zu alldem jüngst 1 Ob 89/22b Rz 8 und 11 mwN).

[11] Die vom Erstgericht herangezogene Berechnungsmethode, von den sich pro Jahr ergebenden Betreuungstagen 80 Tage als ohnehin üblich in Abzug zu bringen, hat der Vater in seinem Rekurs nicht beanstandet. Auch im Revisionsrekurs geht er davon aus, dass ein solcher Abzug der Judikatur entspricht, sodass sich ein näheres Eingehen auf die in diesem Punkt weiter ausdifferenzierte jüngere Judikatur des 6. Senats (6 Ob 182/20p; 6 Ob 118/21b) erübrigt.

[12] 3. Die Feststellungen der Vorinstanzen erlauben keine abschließende Beurteilung der tatsächlich erfolgten Betreuungsleistungen durch den Vater.

[13] 3.1. Zum Jahr 2018 hat das Erstgericht lediglich Feststellungen zu den im gesamten Kalenderjahr erbrachten Betreuungsleistungen getroffen, ohne eine nähere Aufschlüsselung vorzunehmen, obwohl die gestellten (Erhöhungs- und Herabsetzungs-)Anträge allein den Zeitraum ab betreffen und zu diesem Zeitpunkt auch eine einschneidende Änderung in der tatsächlichen Betreuung durch den Vater eintrat. Aufgrund der (zwischen den Eltern vereinbarten) Änderung der tatsächlichen Verhältnisse erst zum Stichtag ist ausnahmsweise keine auf das gesamte Kalenderjahr ausgerichtete Betrachtung vorzunehmen, sondern lediglich das „Rumpfjahr“ einer Beurteilung zu unterziehen (vgl 1 Ob 13/19x Punkte 3.4. und 3.5.). Entsprechende Feststellungen zu den im Zeitraum Oktober bis Dezember 2018 erbrachten Betreuungsleistungen wird das Erstgericht im fortgesetzten Verfahren nachzuholen haben.

[14] 3.2. Widersprüchlich sind die Ausführungen der Vorinstanzen zum Ausmaß der tatsächlich erfolgten Berücksichtigung des jede Woche stattfindenden Kontaktrechts von Montag bis Dienstag. Zwar führte das Erstgericht aus, diese regulären Betreuungszeiten mit 1,5 Tagen berücksichtigt zu haben, in den pro Kalenderjahr festgestellten Betreuungszeiten fand dieses Kontaktrecht aber – soweit nachvollziehbar – nur mit einem Tag Berücksichtigung. Das Rekursgericht übernahm insoweit den Berechnungsansatz des Erstgerichts.

[15] Die Frage, in welchem Ausmaß dem Vater dieses reguläre Kontaktrecht anzurechnen ist, lässt sich auf Basis der vorliegenden Feststellungen nicht verlässlich beantworten. Im fortgesetzten Verfahren wird vorweg das genaue Ausmaß des Kontaktrechts zu klären sein. Zwar gehen die Parteien übereinstimmend von einem Ende der Besuchszeit um 18:00 Uhr jeden Dienstag aus, es fehlen jedoch Feststellungen zum Beginn des Kontaktrechts, das – je nach Standpunkt der Parteien – entweder „nach der Schule“ oder bereits um 7:00 Uhr morgens begann. Das Erstgericht wird weiters festzustellen haben, wie lange sich die Kinder an diesen Tagen in der Schule aufgehalten haben, ob in der Schule eine Nachmittagsbetreuung erfolgt ist und ob die Kinder dort Essen erhalten haben. Weiters wird angemessen zu berücksichtigen sein, ob bzw dass Teile dieser regulären Besuchskontakte an schulfreien Tagen stattgefunden haben. Schließlich wird auch zu klären sein, inwieweit durch diese Betreuungsleistungen des Vaters im Haushalt der Mutter eine Ersparnis eintrat (vgl RS0047452 [T1, T9]; RS0128043 [T9]; 1 Ob 89/22b Rz 11 mwN). Dazu ist anzumerken, dass nach der Rechtsprechung ein „reines Übernachtungsbesuchsrecht“ unter der Woche (vom Schulende bis zum Schulbeginn am nächsten Morgen) keine nennenswerte Ersparnis des anderen Elternteils bewirkt (10 Ob 41/17b Punkt 1.4. mwN).

[16] 3.3. Das Erstgericht rechnete dem Vater jene Tage, an denen er seine Kinder im DistanceLearning betreute, nur zur Hälfte an, weil „die Beaufsichtigung während der Schulzeit und die Versorgung tagsüber“ gegeben war. Diese wenig präzisen Ausführungen können die vorgenommene Anrechnung dieser Tage bloß zur Hälfte nicht tragen. Es steht weder fest, in welcher Form die Kinder im DistanceLearning „betreut und versorgt“ wurden noch in welchem Ausmaß der Vater die Kinder bei allfälligem Online-Unterricht unterstützen musste und wie lange das jeweilige DistanceLearning dauerte. Auch in diesem Punkt wird das Erstgericht die Sachverhaltsgrundlage daher zu verbreitern haben.

[17] 3.4. Auf Basis der im Sinn der Punkte 3.1. bis 3.3. zu ergänzenden Feststellungen wird das Erstgericht im fortgesetzten Verfahren eine wertende Gesamtbetrachtung der jeweiligen Betreuungsleistungen (4 Ob 45/19z Punkt 2.1) und sodann einen angemessenen Abschlag vorzunehmen haben.

[18] 4. Dem Revisionsrekurs war daher im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags Folge zu geben.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2023:0020OB00141.22G.0117.000

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