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OGH vom 14.02.2023, 17Ob3/23z

OGH vom 14.02.2023, 17Ob3/23z

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Präsidentin Hon.Prof. Dr. Lovrek als Vorsitzende, die Hofrätinnen Mag. Malesich und Dr. Kodek sowie die Hofräte Dr. Stefula und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei D*, als Insolvenzverwalterin im Insolvenzverfahren über das Vermögen der S*, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1100 Wien, Wienerbergstraße 15–19, vertreten durch Preslmayr Rechtsanwälte OG in Wien, wegen 216.243,80 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse: 169.228,49 EUR sA) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom , GZ 3 R 154/22x30, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Handelsgerichts Wien vom , GZ 33 Cg 58/21k25, bestätigt wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

I. Die Revision wird im Umfang folgender angefochtener Zahlungen vom (als jedenfalls unzulässig) zurückgewiesen:

  • 3.960,73 EUR (Beiträge 04/20 an ÖGK Oberösterreich)

  • 4.607,08 EUR (Beiträge 06/20 an ÖGK Oberösterreich)

  • 3.433,19 EUR (Beiträge 04/20 an ÖGK Salzburg)

  • 4.592,44 EUR (Beiträge 06/20 an ÖGK Salzburg)

  • 3.843,41 EUR (Beiträge 04/20 an ÖGK Tirol)

Die beklagte Partei hat die auf diesen Teil der Revision entfallenden Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

II. Im Übrigen wird der Revision nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.247,54 EUR bestimmten anteiligen Kosten der Revisionsbeantwortung (darin enthalten 374,59 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1] Am eröffnete das Erstgericht das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin und bestellte die Klägerin zur Insolvenzverwalterin. Die Schuldnerin betrieb mehrere Reisebüros in Österreich. Sie nahm – soweit für das Revisionsverfahren noch von Relevanz – jeweils am folgende Überweisungen an die Beklagte vor:

An die „ÖGK Wien“:

• 25.919,06 EUR Beiträge 04/20

• 49.557,75 EUR Beiträge 05/20

• 26.694,03 EUR Beiträge 06/20

An die „ÖGK Oberösterreich“:

• 3.960,73 EUR Beiträge 04/20

• 5.341,83 EUR Beiträge 05/20

• 4.607,08 EUR Beiträge 06/20

An die „ÖGK Salzburg“:

• 3.433,19 EUR Beiträge 04/20

• 6.781,75 EUR Beiträge 05/20

• 4.592,44 EUR Beiträge 06/20

An die „ÖGK Steiermark“:

• 5.141,11 EUR Beiträge 04/20

• 10.112,05 EUR Beiträge 05/20

• 6.907,04 EUR Beiträge 06/20

An die „ÖGK Tirol“:

• 3.843,41 EUR Beiträge 04/20

• 7.124,14 EUR Beiträge 05/20

• 5.212,43 EUR Beiträge 06/20

[2] Zwischen der Schuldnerin und der Beklagten gab es keine Ratenzahlungs- oder Stundungsvereinbarungen über die Sozialversicherungsbeiträge für die Monate April bis Juni 2020. Jedoch übermittelte eine Mitarbeiterin der Steuerberaterin der Schuldnerin der „ÖGK Oberösterreich“ am ein (keine bestimmten Beitragszeiträume nennendes) Stundungsersuchen unter Hinweis darauf, dass die Schuldnerin ein „direktes Opfer der derzeitigen Pandemie“ sei.

[3] Die Schuldnerin war bis Anfang März 2020 nicht in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Geschäftslage verschlechterte sich jedoch ab diesem Zeitpunkt, weil neue Buchungen ausblieben und bereits gebuchte Reisen storniert wurden. Das Geschäftskonto der Schuldnerin blieb bis zur späteren Insolvenzeröffnung stets deutlich im Haben, allerdings fehlten ihr zum Zeitpunkt der angefochtenen Zahlungen (also am ) die liquiden Mittel zur Befriedigung aller Rückerstattungsansprüche, die Kunden geltend gemacht hatten. Auslöser für den Eigenantrag der Schuldnerin auf Insolvenzeröffnung im August 2020 war die Anmeldung der Insolvenz durch die in der Schweiz domizilierte Konzernmuttergesellschaft am .

[4] Der Beklagten war die „allfällige Überschuldung, Zahlungsunfähigkeit, Begünstigungs- und/oder Benachteiligungsabsicht“ der Schuldnerin nicht bekannt. Sie unternahm 2020 keine Nachforschungen zur wirtschaftlichen Situation der Schuldnerin.

[5] Die Schuldnerin beantragte für die Monate April bis Juni 2020 beim Arbeitsmarktservice (AMS) Kurzarbeitsbeihilfen (§ 37b AMSG) und erhielt aufgrund ihrer Anträge folgende Zahlungen „für Beiträge“:

  • am 84.698,26 EUR für April 2020

  • am 78.661,76 EUR für Mai 2020

  • am 78.331,52 EUR für Juni 2020

[6] Die Klägerin ficht – soweit für das Revisionsverfahren noch von Relevanz – die Zahlungen vom an, mit denen die Schuldnerin Sozialversicherungsbeiträge für die Monate April bis Juni 2020 beglich. Für diese Beiträge habe § 733 Abs 9 ASVG gegolten, sodass die Beiträge für April mit und jene für Mai und Juni mit fällig geworden seien. Die Beklagte habe die Zahlungen daher „nicht in der Zeit“ beanspruchen dürfen. Sie habe die bezahlten Beiträge gemäß § 733 Abs 3 ASVG und der Verordnung BGBl II 261/2020 auch nicht betreiben dürfen. Dieser Fall sei einer reinen Stundung vergleichbar, sodass Inkongruenz vorliege. Dass die Zahlungen nach der Überweisung von Kurzarbeitsbeihilfen erfolgt seien, ändere daran nichts. Da die Zahlungen innerhalb von 60 Tagen vor Insolvenzeröffnung erfolgt seien, unterlägen sie insgesamt der Anfechtung nach § 30 Abs 1 Z 1 IO.

[7] Darüber hinaus stützt die Klägerin die Anfechtungsklage auch auf § 28 IO (Benachteiligungsabsicht), § 30 Abs 1 Z 3 IO (Begünstigungsabsicht) und § 31 Abs 1 Z 2 IO (Unkenntnis der Zahlungsunfähigkeit). Die Zahlung nicht fälliger Sozialversicherungsbeiträge mitten in der Pandemie sei – insbesondere bei der Betreiberin eines Reisebüros – objektiv verdächtig. Die allgemein bekannten Auswirkungen der Pandemie auf die Reisebranche hätten Nachforschungspflichten ausgelöst; außerdem seien der Beklagten durch das Stundungsansuchen vom April 2020 die Zahlungsschwierigkeiten der Schuldnerin bekannt gewesen. Die Schuldnerin sei spätestens im Juni 2020 zahlungsunfähig gewesen, was die Beklagte im Fall von Nachforschungen leicht hätte erkennen können. Der Geschäftsführer der Schuldnerin habe in – der Beklagten zumindest erkennbarer – Begünstigungs- und Benachteiligungsabsicht gehandelt. Die Zahlungen seien offenkundig zum Zweck der Vermeidung einer Geschäftsführerhaftung nach § 67 Abs 10 ASVG erfolgt.

[8] Der Anfechtungsausschluss gemäß § 733 Abs 11 ASVG idF BGBl I 158/2020 sei nicht anzuwenden, weil diese Bestimmung erst mit in Kraft getreten sei. Außerdem gelte der Anfechtungsausschluss nicht für Beiträge, für die Kurzarbeitsbeihilfe bezogen worden sei (§ 733 Abs 9 ASVG).

[9] Die Beklagte bestreitet und beruft sich auf den in § 733 Abs 11 ASVG idF BGBl I 158/2020 angeordneten Anfechtungsausschluss. Die Anfechtung sei außerdem weder befriedigungstauglich noch liege eine Gläubigerbenachteiligung vor, weil die Schuldnerin bloß Teile der (unter anderem) zur Deckung von Sozialversicherungsbeiträgen zweckgebundenen Kurzarbeitsbeihilfe weitergeleitet habe.

[10] Die in § 733 ASVG angeordneten gesetzlichen Stundungen änderten nichts an den gesetzlichen Fälligkeitsterminen der Beiträge. Außerdem würde eine Anfechtbarkeit von wegen der Pandemie gestundeten, aber dennoch gezahlten Beiträgen dem vom Gesetzgeber mit § 733 ASVG intendierten Zweck, den Unternehmen das wirtschaftliche Überleben zu ermöglichen, widersprechen.

[11] § 733 Abs 9 ASVG sei nicht einschlägig, weil die Schuldnerin gemäß § 34 Abs 3 AMSG keinen Rechtsanspruch auf Gewährung einer Kurzarbeitsbeihilfe gehabt habe. Außerdem habe es diese Bestimmung im Zahlungszeitpunkt mangels Kundmachung im Bundesgesetzblatt noch gar nicht gegeben. Die Beiträge für April bis Juni 2020 seien daher am fällig gewesen. Da die Zahlungen nach Eingang der Kurzarbeitsbeihilfen erfolgt seien, könnten sie nicht als „verdächtig“ angesehen werden.

[12] Die Beklagte sei nicht in fahrlässiger Unkenntnis einer Benachteiligungs- oder Begünstigungsabsicht gewesen und habe auch keine Hinweise für eine Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin gehabt. Diese sei eine unauffällige Beitragsschuldnerin gewesen. Es habe keine konkreten schuldnerbezogenen Insolvenzindikatoren gegeben, die Betroffenheit einer ganzen Branche durch die Pandemie könne keine allgemeine Nachforschungspflicht auslösen. Zu bedenken sei, dass der Gesetzgeber die Beklagte bis zu den erfolgten Zahlungen an der Stellung eines Insolvenzantrags gehindert habe und sie daher auch keine Nachforschungspflicht treffen könne.

[13] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es bejahte die Anwendbarkeit des Anfechtungsausschlusses nach § 733 Abs 11 ASVG für jene Zahlungen, die den von Gesetzes wegen gestundeten Beitrag für März 2020 beträfen. Der Anfechtungsausschluss gelte aber nicht für die April bis Juni 2020 betreffenden Zahlungen, weil für diese Monate Kurzarbeitsbeihilfe gewährt worden sei und daher § 733 Abs 9 ASVG, nicht aber § 733 Abs 11 ASVG greife. Da die April bis Juni 2020 betreffenden Zahlungen erst nach Einlangen der Kurzarbeitsbeihilfen erfolgt seien, liege keine Inkongruenz vor. Nach den gesetzlichen Bestimmungen sei eine frühere – also vor dem spätesten Zahlungszeitpunkt nach § 733 Abs 9 ASVG liegende – Zahlung nicht ausgeschlossen. Zudem diene die Auszahlung der Kurzarbeitsbeihilfen gerade auch der Abdeckung der Beiträge zur Sozialversicherung. Die Beklagte habe keine konkreten Anhaltspunkte für wirtschaftliche Probleme der Schuldnerin gehabt.

[14] Das von der Klägerin nur wegen der Abweisung des die Monate April bis Juni 2020 betreffenden Zahlungsbegehrens angerufene Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die ordentliche Revision zu. Der grundsätzlich erst mit in Kraft getretene Anfechtungsausschluss des § 733 Abs 11 ASVG idF BGBl I 158/2020 sei auch auf die Zahlungen vom anzuwenden, zumal die Anfechtung erst im Jahr 2021 erfolgt sei. Der Anfechtungsausschluss greife auch im Fall der Gewährung von Kurzarbeitsbeihilfen. Der Beitrag für April 2020 sei gesetzlich gestundet worden (§ 733 Abs 1 ASVG), im Hinblick auf die Monate Mai und Juni 2020 hätte die Klägerin Anspruch auf eine Stundung gehabt. Insgesamt erscheine es damit gerechtfertigt, den Anfechtungsausschluss auf alle noch strittigen Zahlungen anzuwenden.

[15] Die ordentliche Revision sei zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Reichweite des § 733 Abs 11 ASVG fehle.

[16] Gegen die Abweisung eines Klagebegehrens von 169.228,49 EUR sA richtet sich die ordentlicheRevision der Klägerin mit dem Antrag, das Berufungsurteil insoweit im klagestattgebenden Sinn abzuändern.

[17] Die Beklagte beantragt, die Revision mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[18] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, aber im Ergebnis nicht berechtigt.

I. Zur teilweisen Zurückweisung der Revision

[19] 1. Für die Beurteilung der (Un)Zulässigkeit einer Revision gegen ein Berufungsurteil gemäß § 502 Abs 3 ZPO sind mehrere in einer Klage geltend gemachte Ansprüche nur dann zusammenzurechnen, wenn sie in rechtlichem oder tatsächlichem Zusammenhang stehen (§ 55 Abs 1 und 4 JN). Ein solcher Zusammenhang besteht bereits dann nicht, wenn jeder der mehreren Ansprüche ein ganz unterschiedliches rechtliches und tatsächliches Schicksal haben kann; in einem solchen Fall ist jeder Anspruch gesondert zu beurteilen, ohne dass eine Zusammenrechnung stattfindet (RS0037648 [T11]). Dass für alle Rechtshandlungen der gleiche Anfechtungstatbestand behauptet wird, reicht nach ständiger Rechtsprechung zur Annahme eines rechtlichen Zusammenhangs nicht aus (RS0042521 [T2, T6]; RS0042938).

[20] 2. Soweit sich die Revision auf die in Spruchpunkt I. angeführten Zahlungen bezieht, ist sie daher als absolut unzulässig zurückzuweisen.

[21] 3. Da die Beklagte auf die teilweise absolute Unzulässigkeit der Revision nicht hingewiesen hat, diente ihre Revisionsbeantwortung insoweit nicht zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung, sodass sie deren Kosten gemäß § 40 iVm § 50 ZPO anteilig selbst zu tragen hat.

II. Inhaltliche Behandlung der Revision

[22] 1. Von Relevanz für die rechtliche Beurteilung sind folgende, im Zuge der Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der CoronaPandemie erlassenen Normen:

1.1. § 733 ASVG idF BGBl I 16/2020 (2. COVID19Gesetz, kundgemacht am ) lautet auszugsweise:

„(1) Für die mit Betretungsverbot belegten Unternehmungen nach der Verordnung BGBl. II Nr. 96/2020 in der jeweils geltenden Fassung und für die nach § 20 des Epidemiegesetzes 1950, BGBl. Nr. 186/1950, in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 74/2020 von Betriebsbeschränkungen oder Schließungen betroffenen Unternehmen sind die Beiträge für die Beitragszeiträume Februar, März und April 2020 verzugszinsenfrei zu stunden [...]

(3) In den Kalendermonaten März, April und Mai 2020 sind

1. bereits fällige Beiträge abweichend von § 64 nicht einzutreiben;

2. keine Insolvenzanträge nach der Insolvenzordnung (§ 65) wegen der Nichtentrichtung bereits fälliger Beiträge zu stellen.

(4) In den Kalendermonaten März, April und Mai 2020 sind abweichend von § 114 Abs. 1 Z 2 bis 6 keine Säumniszuschläge vorzuschreiben [...]

(7) Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz kann bei Fortdauer der CoronavirusPandemie die in den Abs. 1 bis 5 genannten Zeiträume durch Verordnung um bis zu drei Kalendermonate (Beitragszeiträume) verlängern.“

[23] 1.2. Auf Grundlage der in § 733 Abs 7 ASVG normierten Verordnungsermächtigung ordnete der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz mit der am ausgegebenen Verordnung zur Verlängerung eines Zeitraums für Beitragserleichterungen, BGBl II 261/2020, an, dass „der Zeitraum, in dem nach § 733 Abs 3 Z 1 und Abs 4 ASVG weder fällige Beiträge einzutreiben noch Säumniszuschläge vorzuschreiben sind“, um die Kalendermonate Juni, Juli und August 2020 verlängert wird.

[24] 1.3. Das am – also nach den hier angefochtenen Zahlungen – kundgemachte, allerdings eine rückwirkende Geltung ab anordnende (§ 738 ASVG idF BGBl I 99/2020) BGBl I 99/2020 (2. Finanz-Organisationsreformgesetz – 2. FORG) ließ die Abs 1 bis 4 des § 733 ASVG unberührt, ordnete jedoch den Entfall der in Abs 7 enthalten gewesenen Verordnungsermächtigung an und normierte stattdessen (soweit relevant):

„(7) Die nach den Abs. 1, 2 und 5 gestundeten verzugszinsenfreien Beiträge sind spätestens am einzuzahlen. Wird glaubhaft gemacht, dass diese Beiträge teilweise oder zur Gänze wegen der Coronavirus-Pandemie aus Gründen der Unternehmensliquidität zu diesem Zeitpunkt nicht entrichtet werden können, so sind die noch nicht entrichteten Beiträge auf Antrag in elf gleichen Teilen vom Dienstgeber jeweils zum 15. eines Monates beginnend mit Februar 2021 verzugszinsenfrei einzuzahlen. Die Dreitagesfrist nach § 59 Abs. 1 findet jeweils Anwendung.

(8) Für Beiträge für die Beitragszeiträume Mai bis Dezember 2020 können dem Dienstgeber auf Antrag bis zu drei Monaten Stundungen und bis längstens Dezember 2021 Ratenzahlungen gewährt werden, wenn glaubhaft gemacht wird, dass diese Beiträge wegen der CoronavirusPandemie aus Gründen der Unternehmensliquidität nicht entrichtet werden können.

(9) Die Abs. 7 und 8 gelten nicht für Beiträge, für die der Dienstgeber auf Grund von Kurzarbeit, Freistellung nach § 735 oder Absonderung nach § 7 des Epidemiegesetzes 1950 einen Anspruch auf Beihilfe, Erstattung oder Vergütung durch den Bund oder das Arbeitsmarktservice hat. Diese Beiträge sind verzugszinsenfrei bis zum 15. des auf die Beihilfen-, Erstattungs- oder Vergütungsauszahlung zweitfolgenden Kalendermonates einzuzahlen. Die Dreitagesfrist nach § 59 Abs. 1 findet Anwendung. [...]

(11) Für die Stundungs- sowie die Teil- und Ratenzahlungszeiträume nach den Abs. 7 und 8 wird vermutet, dass dem Krankenversicherungsträger zur Zeit der Beitragseinzahlung die Begünstigungsabsicht und die Zahlungsunfähigkeit des Dienstgebers nicht bekannt war oder bekannt sein musste.“

[25] 1.4. Das 2. Sozialversicherungs-Änderungsgesetz 2020, BGBl I 158/2020 (2. SVÄG 2020), trat am in Kraft und lautete auszugsweise wie folgt:

„(11) Die während der Stundungs sowie der Teil und Ratenzahlungszeiträume nach den Abs 7 bis 8b geleisteten Zahlungen können weder nach der Insolvenzordnung, RGBl Nr 337/1914, noch nach der Anfechtungsordnung, RGBl Nr 337/1914, angefochten werden.“

[26] 2. Der in § 733 Abs 11 ASVG idF BGBl I 158/2020 normierte Anfechtungsausschluss ist auf den vorliegenden Fall aus folgenden Erwägungen nicht anzuwenden (vgl 17 Ob 15/22p):

[27] 2.1. Verfahrensgesetze sind, sofern nicht ausdrücklich eine andere Regelung getroffen wurde, immer nach dem letzten Stand anzuwenden (RS0008733). Anders verhält es sich bei Änderungen der materiellen Rechtslage. Ordnet ein Gesetz keine Rückwirkung an, sind gemäß § 5 ABGB nur die nach seinem Inkrafttreten verwirklichten Sachverhalte nach dem neuen Gesetz zu beurteilen. Vorher verwirklichte Sachverhalte sind – ebenso wie vorher entstandene Rechte – weiterhin dem alten Gesetz zu unterwerfen (RS0008715). Die Wirkungen einer (materiellen) Gesetzesänderung umfassen, sofern der Gesetzgeber nicht etwas anderes verfügt oder der besondere Charakter einer zwingenden Norm deren rückwirkende Anordnung verlangt, keine Tatbestände, die vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes abschließend und endgültig verwirklicht wurden (RS0008715 [T5]).

[28] 2.2. Das materielle Recht regelt die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien, das Prozessrecht das Verfahren zur Erledigung der entstandenen Rechtsstreitigkeit. Nicht entscheidend ist, ob die betreffende Regelung in ein Verfahrensgesetz oder in ein dem materiellen Recht zuzuordnendes Gesetz aufgenommen wurde. So enthält die ZPO auch zivilrechtliche Anordnungen (zB in § 333 Abs 3, § 354 Abs 3, § 560 ZPO), das ABGB auch prozessrechtliche (zB § 931 ABGB). Maßgeblich ist vielmehr, ob die Norm die Abwicklung des gerichtlichen Verfahrens oder die dem Prozess zugrunde liegenden oder durch ihn ausgelösten Beziehungen zwischen den Verfahrensbeteiligten regelt (Konecny in Fasching/Konecny³ I [2013] Einl Rz 80, 80/1).

[29] 2.3. Der Anfechtungsanspruch ist ein Forderungsanspruch eigener Art. Sein Ziel ist nicht bloß die Wiederherstellung des Zustands der Masse vor der Rechtshandlung, sondern die Herstellung jenes Zustands, in dem sich die Masse befände, wenn die anfechtbare Rechtshandlung nicht vorgenommen worden wäre (RS0050372). Nach nunmehr einhelliger Rechtsprechung handelt es sich bei der Anfechtungsklage um eine Rechtsgestaltungsklage (vgl RS0064580 [T1 bis T3]; 3 Ob 14/17f).

[30] Die Anfechtungstatbestände der IO regeln nicht die Abwicklung des Verfahrens, sondern die diesem zugrunde liegenden Beziehungen der Verfahrensbeteiligten. Die Bestimmungen stellen damit materielles Recht dar. Gleiches gilt für die Einschränkung der Anfechtungsmöglichkeit bzw den Ausschluss des Anfechtungsrechts in den jeweiligen Fassungen von § 733 Abs 11 ASVG.

[31] 2.4. Der Anfechtungsanspruch entsteht mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens (RS0064617), nach anderer Ansicht mit der Verwirklichung des Anfechtungstatbestands, aber aufschiebend bedingt durch die Insolvenzeröffnung (Rebernig in Konecny, Insolvenzgesetze [2021] § 27 IO Rz 17). Ein näheres Eingehen auf die sich in ihren Konsequenzen nicht wesentlich unterscheidenden Ansichten erübrigt sich hier. Enthält eine gesetzliche Anspruchsgrundlage mehrere Tatbestandselemente, ist der Gesamttatbestand erst dann verwirklicht, wenn sämtliche Komponenten des Tatbestands erfüllt sind. Die für die Beurteilung eines Anspruchs maßgebliche Rechtslage bestimmt sich nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs bei einer Gesetzesänderung auch dann nach dem Zeitpunkt der vollständigen Verwirklichung des Gesamttatbestands, wenn ein einzelnes Tatbestandselement bereits vor Inkrafttreten des geänderten Gesetzes erfüllt wurde (vgl 1 Ob 104/22h mwN).

[32] 2.5. Da im vorliegenden Fall die angefochtene Rechtshandlung im Juli 2020 und die Eröffnung des Insolvenzverfahrens im August 2020 erfolgte, hat sich der maßgebliche Gesamttatbestand bereits vor Inkrafttreten des 2. SVÄG (BGBl I 158/2020) abschließend verwirklicht, sodass der Anfechtungsausschluss des § 733 Abs 11 ASVG idF BGBl I 158/2020 keine Anwendung findet.

[33] 3. Auch die in § 733 Abs 11 idF BGBl I 99/2020 (2. FORG) enthaltenen Anordnungen zur Einschränkung der Anfechtungsmöglichkeit finden keine Anwendung.

[34] 3.1. Zwar hat sich der maßgebliche Gesamttatbestand erst nach Inkrafttreten des (überdies die Anordnung einer Rückwirkung enthaltenden) BGBl I 99/2020 (2. FORG; Kundmachung am ) abschließend verwirklicht, weil die Eröffnung des Insolvenzverfahrens erst am erfolgte. Allerdings verweist die Bestimmung (siehe oben Punkt II.1.3.) auf die „Stundungs- sowie die Teil- und Ratenzahlungszeiträume nach den Abs 7 und 8“ und damit gerade nicht auf die Bestimmung des § 733 Abs 9 ASVG, die Regelungen zu Beiträgen enthält, für die der Arbeitgeber einen Anspruch (unter anderem) auf Beihilfe durch das AMS hat, wobei Abs 9 und die Anwendung der Abs 7 und 8 in diesen Fällen ausschließt. Die Regelung des § 733 Abs 11 ASVG idF BGBl I 99/2020 bezieht sich damit nicht auf Beitragszahlungen, für die Kurzarbeitsbeihilfe (§ 37b AMSG) gewährt wurde (vgl bereits 17 Ob 15/22p).

[35] Da sämtlichen im Revisionsverfahren noch gegenständlichen Zahlungen die Gewährung von Kurzarbeitsbeihilfen zu Grunde liegt, kommt § 733 Abs 11 ASVG idF BGBl I 99/2020 nicht zur Anwendung. Es erübrigen sich damit nähere Ausführungen zur Auslegung dieser Bestimmung.

4. Zur (im Zentrum der Revisionsausführungen stehenden) Anfechtung nach § 30 Abs 1 Z 1 IO (Inkongruenz)

[36] 4.1. Nach § 30 Abs 1 Z 1 IO ist – soweit für das Revisionsverfahren von Relevanz – eine nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder nach dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder in den letzten sechzig Tagen vorher vorgenommene Befriedigung eines Gläubigers anfechtbar, wenn der Gläubiger eine Befriedigung erlangt hat, die er nicht in der Zeit zu beanspruchen hatte. Die Kongruenz zwischen Anspruch und Deckungsleistung ist im Interesse der Gläubigergleichbehandlung an sich nach strengen Maßstäben zu beurteilen (RS0064500 [T2]). Für die Inkongruenz der Deckung trifft den klagenden Masseverwalter die Behauptungs- und Beweislast (RS0064383 [T3]).

[37] Bei einer Anfechtung nach § 30 Abs 1 Z 1 IO kommt es nur auf die objektive Tatsache der Begünstigung an; nicht von Relevanz ist hingegen das subjektive Wissen des Anfechtungsgegners darum, dass er etwas erhält, was ihm nicht (in dieser Form oder zu dieser Zeit) gebührt (RS0064400). Dies beruht auf dem Grundgedanken, dass die Begünstigung durch inkongruente Deckung für den Gläubiger eine auffällige Tatsache darstellt und der Empfänger der Leistung wegen deren typischer Verdächtigkeit nicht schutzwürdig erscheint (Koziol/Bollenberger in Bartsch/Pollak/Buchegger, InsR I4 § 30 KO Rz 18; vgl 3 Ob 175/08v Punkt b) 2.). Die Verdächtigkeit der Leistung bildet zwar keine eigenständige Anfechtungsvoraussetzung, muss aber in Zweifelsfragen mitberücksichtigt werden (König/Trenker, Anfechtung6 Rz 10.84).

[38] 4.2. Im Revisionsverfahren ist allein strittig, ob die Beklagte die am erlangte Befriedigung „in der Zeit zu beanspruchen hatte“.

[39] 4.3. Nicht in der Zeit zu beanspruchen ist vor allem die Leistung vor Fälligkeit (König/Trenker, Anfechtung6 Rz 10.96), wobei eine geringfügig vor Fälligkeit geleistete Zahlung nicht schadet (3 Ob 55/18m Punkt 6. mwN).

[40] Ob der Gläubiger die erlangte Befriedigung „in der Zeit zu beanspruchen hatte“, ist danach zu beantworten, ob ihm diese (im Zeitpunkt der Erlangung) auf Grund eines klagbaren materiell-rechtlichen Anspruchs zustand, der schon zu Beginn der in § 30 Abs 1 IO genannten kritischen Frist gegeben war. Es genügt daher nicht zur Annahme, dass der Gläubiger die erlangte Befriedigung „in der Zeit zu beanspruchen hatte“, wenn der Schuldner bloß vorzeitig leisten und der Gläubiger die vorzeitige Leistung bei Gefahr des Annahmeverzugs nicht zurückweisen durfte (RS0064420). Ausgangspunkt dieser Rechtssatzkette war die Entscheidung 5 Ob 312/81 EvBl 1982/143, in der ein Kreditnehmer debetmindernde Einzahlungen auf einen Kontokorrentkredit innerhalb des gewährten Kreditrahmens vorgenommen hatte, was der Oberste Gerichtshof wegen des Fehlens einer im Befriedigungszeitpunkt bestehenden Klagemöglichkeit des Kreditgebers als inkongruente Deckung ansah. Fast alle der indizierten Folgeentscheidungen betrafen ebenfalls Sachverhalte, in denen Zahlungen auf Kontokorrentkredite innerhalb der kritischen Frist zu beurteilen waren. Die Lehre steht der Rechtsprechung zur Anfechtbarkeit debetmindernder Einzahlungen auf einen Kontokorrentkredit überwiegend kritisch gegenüber (vgl die Zusammenfassung bei Astner, Die Anfechtung der inkongruenten Deckung [2006], 195 ff).

[41] Kongruent ist die Befriedigung nach der Rechtsprechung hingegen dann, wenn der befriedigte Anspruch erst nach Beginn der kritischen Frist begründet und so wie bei der Begründung vorgesehen später befriedigt wurde (10 Ob 8/00z mwN).

[42] 5. In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob die Sozialversicherungsbeiträge im Zeitpunkt der erlangten Befriedigung fällig waren.

[43] 5.1. Nach § 58 Abs 1 ASVG (idF BGBl I 8/2019) sind die allgemeinen Beiträge zur Sozialversicherung am letzten Tag des Kalendermonats fällig, in das das Ende des Beitragszeitraums fällt. Die Sozialversicherungsbeiträge für April bis Juni 2020 wären nach dieser allgemeinen Regelung daher mit (spätestens) – also vor dem Zahlungszeitpunkt – fällig geworden (vgl zur Maßgeblichkeit des § 58 Abs 1 ASVG für die Beurteilung der Fälligkeit: 3 Ob 55/18m).

[44] 5.2. Die unter Punkt I.1. dargestellten coronabedingten gesetzlichen Sonderregelungen haben an der Fälligkeit der noch revisionsgegenständlichen Beitragszahlungen aus folgenden Erwägungen nichts geändert:

[45] 5.3. Die Fälligkeit der Beiträge für April 2020 ist aufgrund des Zahlungszeitpunkts am nicht nach § 733 ASVG idF BGBl I 99/2020 (2. FORG) zu beurteilen, weil diese Novelle erst am kundgemacht wurde und damit erst seit diesem Zeitpunkt dem Rechtsbestand angehört. Die Fälligkeitsregelung des § 733 Abs 9 ASVG idF BGBl I 99/2020 findet daher auf die Zahlungen vom keine Anwendung.

[46] 5.3.1. Maßgeblich ist vielmehr § 733 Abs 1 ASVG idF BGBl I 16/2020 (2. COVID19Gesetz), weil die Schuldnerin „mit Betretungsverbot belegte Unternehmungen“ (hier: Reisebüros) betrieb. Nach dieser Bestimmung sind die Beiträge (unter anderem) für den Beitragszeitraum April 2020 verzugszinsenfrei zu stunden. Nach den Gesetzesmaterialien zum 2. COVID19Gesetz (IA 397/A 27. GP 45) sollten durch die „vorgeschlagene Übergangsregelung“ Erleichterungen für die Dienstgeber/innen im Beitragsrecht zur Abmilderung der Auswirkungen der CoronaPandemie geschaffen werden.

[47] Die Norm enthält keinen Endpunkt der angeordneten Stundung. Nach den Gesetzesmaterialien (IA 397/A 27. GP 45) sollen „ den Monaten Februar bis April 2020“ die Beiträge gestundet werden, was sich mit dem Gesetzeswortlaut („Beiträge die Beitragszeiträume“) aber nur schwer in Einklang bringen lässt.

[48] 5.3.2. Die Literatur geht davon aus, dass sich der Endzeitpunkt der in § 733 Abs 1 ASVG angeordneten Stundung aus dem in Abs 3 genannten Zeitraum, in dem die Sozialversicherungsträger keine Beiträge betreiben dürfen, ableiten lässt und nimmt damit eine Stundung bis an (Preitler, Die Geschäftsführerhaftung für gestundete SVBeiträge in der CoronaKrise, CuRe 2020/48; Lidauer in Resch, Corona-HB1.06 Kap 9 Rz 22).

[49] Knüpft man in Übereinstimmung damit das Ende der Stundung an den Zeitraum der „Nichteintreibung“, ist konsequenterweise davon auszugehen, dass die VO vom (vgl oben Punkt II.1.2.) eine Verlängerung der vom Gesetzgeber angeordneten Stundung bis zum bewirkte.

[50] 5.3.3. Erachtet man die Anknüpfung an den in § 733 Abs 3 ASVG genannten und durch die VO vom verlängerten Zeitraum nicht für überzeugend, müsste man für die hier maßgebliche Rechtslage vor dem Wirksamwerden des 2. FORG von einer unbefristeten Stundung des Beitrags für April 2020 ausgehen.

[51] 5.3.4. Welche der beiden Ansichten zutrifft, muss nicht abschließend geklärt werden, weil die Stundung für den Beitragszeitraum April 2020 im Zeitpunkt der Zahlung jedenfalls aufrecht war.

[52] 5.3.5. Diese Stundung änderte jedoch nichts daran, dass der Beitrag für April 2020 an sich fällig war, weil der Gesetzgeber eine reine Stundung anordnen wollte:

[53] Unter Stundung ist das nachträgliche Hinausschieben des Fälligkeitszeitpunkts durch Vereinbarung zwischen Gläubiger und Schuldner zu verstehen. Bei der „reinen Stundung“ wird die eingetretene Fälligkeit nicht berührt; der Gläubiger schiebt bloß die Geltendmachung der Forderung hinaus (RS0033283). Dass die Stundung nur die Geltendmachung, nicht aber die Fälligkeit einer Forderung hinausschiebt, gilt im Besonderen für Zahlungserleichterungen von Sozialversicherungsabgaben (8 ObA 51/20p mwN; vgl RS0031962). Bei Annahme einer reinen Stundung ist der Schuldner nicht gehindert, vor dem vereinbarten Endzeitpunkt der Stundung zu leisten (7 Ob 578/92; Koller in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang³ § 904 ABGB Rz 63).

[54] Im Fall des § 733 Abs 1 ASVG spricht zwar das dort angeordnete Aussetzen der Verzugszinsen gegen die Annahme einer reinen Stundung (vgl 4 Ob 2114/96b), für das Vorliegen einer solchen spricht allerdings (entscheidend) die in den Gesetzesmaterialien zu BGBl I 158/2020 (2. SVÄG 2020) zum Ausdruck kommende Annahme des Gesetzgebers, dass eine frühere freiwillige Zahlung möglich ist (StenProtNR 27. GP 71. Sitzung 89). Auch Derntl (COVID19: Einhebung von Beiträgen durch die ÖGK/2. FORG, ZIK_digitalOnly 2020/8) geht davon aus, dass die durch das 2. COVID19Gesetz und das 2. FORG angeordnete Stundung der Beiträge für April 2020 die Fälligkeit nach § 58 Abs 1 ASVG nicht ändert, sodass auch eine sofortige Zahlung dieses Beitrags durch den Dienstgeber zulässig wäre.

[55] 5.3.6. Insgesamt ist damit für den Beitragszeitraum April 2020 von einer grundsätzlichen Fälligkeit im Zahlungszeitpunkt bei Vorliegen einer aufrechten, vom Gesetzgeber angeordneten reinen Stundung auszugehen.

[56] 5.4. Für die Beitragszeiträume Mai und Juni 2020 gab es im Zahlungszeitpunkt keine von § 58 Abs 1 ASVG abweichende Regelung (vgl auch StenProtNR 27. GP 32. Sitzung 70 [zum 2. FORG]: „soweit nichts anderes bestimmt ist, gelten die allgemeinen Regelungen“). Diese Zeiträume waren in § 733 Abs 1 ASVG idF BGBl I 16/2020 nicht genannt, die VO vom hat die in § 733 Abs 1 ASVG genannten Zeiträume nicht verändert. BGBl I 99/2020 (2. FORG) war noch nicht kundgemacht, die Anordnung des § 733 Abs 9 ASVG idF BGBl I 99/2020 zur Fälligkeit damit im Zahlungszeitpunkt noch nicht Rechtsbestand. Da die Beklagte kein Stundungsansuchen für diesen Zeitraum bewilligt hat, waren die Beiträge für Mai und Juni 2020 im Zeitpunkt der Zahlungen am gemäß § 58 Abs 1 ASVG fällig.

[57] 5.5. Die Annahme einer inkongruenten Deckung unter dem Blickwinkel mangelnder Fälligkeit scheidet damit insgesamt aus.

[58] 6. Zu beachten ist jedoch, dass der Beitrag für April 2020 im Zahlungszeitpunkt aufgrund einer gesetzlichen Anordnung (rein) gestundet war. Außerdem normierte § 733 Abs 3 Z 1 ASVG idF BGBl I 16/2020 iVm VO vom , BGBl II 261/2020, dass die Beklagte bereits fällige Beiträge im Zeitraum März bis August 2020 – also auch im Zeitpunkt der Zahlungen vom – nicht eintreiben durfte. Diese gesetzliche Anordnung muss so verstanden werden, dass die Sozialversicherungsträger keine Schritte setzen durften, um ihre (fälligen) Ansprüche durchzusetzen, ihnen somit in diesem Zeitraum auch die Möglichkeit zur Erhebung einer Klage bzw zur Erlassung eines Rückstandsausweises (IA 397/A 27. GP 45: „weder eingemahnt noch mit Rückstandsausweis eingetrieben“; Lidauer in Resch, Corona-HB1.06 Kap 9 Rz 24 und 24/1) genommen war.

[59] 6.1. Nach der oben dargestellten Judikatur, die grundsätzlich einen klagbaren Anspruch des Gläubigers im Leistungszeitpunkt zur Vermeidung von Inkongruenz fordert (RS0064420), läge es im Sinn des Standpunkts der Klägerin nahe, diese fehlende Durchsetzungsmöglichkeit der Beklagten im Zahlungszeitpunkt zu deren Lasten dahin auszulegen, dass sie die Zahlungen „nicht in der Zeit“ zu beanspruchen hatte. Rebernig (in Konecny, Insolvenzgesetze, § 30 IO Rz 161) lehrt auf Grundlage dieser Rechtsprechung, dass auch im Fall einer reinen Stundung der Gläubiger die Leistung „nicht in der Zeit“ zu beanspruchen hat, weil der Schuldner seiner Klage die Einrede der Stundung entgegen halten könne (vgl auch Kayser/Freudenberg in MüKoInsO4 § 131 Rz 42 zum deutschen Recht). Diese Ansicht lässt sich jedoch aus folgenden Erwägungen nicht ohne Weiteres auf den hier zu beurteilenden Fall übertragen:

[60] 6.2. Die Beklagte hat – anders als ein „normaler“ Gläubiger – keine Abreden oder Vereinbarungen mit dem Schuldner über die Stundung der Beiträge oder die Zulässigkeit von Betreibungsmaßnahmen getroffen. Vielmehr beruhten alle Änderungen gegenüber dem „normalen“ Fälligkeits- und Durchsetzungskonzept des ASVG auf gesetzgeberischen Maßnahmen; die Stundung der Beiträge für April 2020 erfolgte automatisch (Lidauer in Resch, CoronaHB1.06 Kap 9 Rz 19). Damit unterscheidet sich der vorliegende Fall auf Sachverhaltsebene maßgeblich von den zu RS0064420 indizierten Entscheidungen, denen jeweils privatrechtliche Vereinbarungen – zumeist im Zusammenhang mit Kontokorrentkreditverträgen – zugrunde lagen.

[61] Zu beachten ist, dass in der hier (noch) nicht anzuwendenden Bestimmung des § 733 Abs 11 ASVG das Motiv des Gesetzgebers zum Ausdruck kommt, den Versicherungsträger vor Nachteilen zu bewahren, die er durch die von ihm zu gewährenden beitragsrechtlichen Erleichterungen erleiden könnte (vgl StenProtNR 27. GP 32. Sitzung 71 [zum 2. FORG]: keine insolvenzrechtlichen Nachteile durch die Zahlungserleichterungen und die damit einhergehende Zurückhaltung bei der Geltendmachung von Beitragsrückständen). Schließlich ist zu bedenken, dass die Schuldnerin erst nach Einlangen der unter anderem genau für die Abdeckung von Sozialversicherungsbeiträgen intendierten Kurzarbeitsbeihilfe gezahlt hat (vgl StenProtNR 27. GP 32. Sitzung 71 [zum 2. FORG]: Beiträge, für die der Dienstgeber Anspruch auf Kurzarbeitsbeihilfe durch das AMS hat, sollen nach der Auszahlung an den Dienstgeber entrichtet werden). Berücksichtigt man, dass die Beklagte nach der – von der Klägerin in ihren Rechtsmittelschriften nicht beanstandeten – Rechtsansicht des Erstgerichts berechtigt davon ausgehen durfte, dass die Zahlungen aus den der Schuldnerin gewährten Kurzarbeitsbeihilfen erfolgten, musste die Beklagte die nunmehr angefochtenen Zahlungen insgesamt nicht als „objektiv verdächtig“ ansehen.

[62] Bereits Koziol/Bollenberger (in Bartsch/Pollak/Buchegger, InsR I4 § 30 KO Rz 20) weisen darauf hin, dass nicht jedes Fehlen eines klagbaren Anspruchs zwingend zur Inkongruenz führt, sondern nur die verdachterregende Abweichung. Diese – in einem Spannungsverhältnis zur dargestellten Judikatur (RS0064420) stehende – Überlegung überzeugt für die hier zu beurteilende Sonderkonstellation, in der die Sozialversicherungsbeiträge nach der allgemeinen Regelung des § 58 Abs 1 ASVG zwar fällig, aufgrund gesetzgeberischer, durch die CoronaPandemie ausgelöster Anordnungen aber von der Beklagten im Zahlungszeitpunkt nicht durchsetzbar waren.

7. Keine Anfechtung nach § 31 Abs 1 Z 2 IO

[63] 7.1. Die Frage, ob dem Anfechtungsgegner fahrlässige Unkenntnis zur Last fällt, ist nach den ihm im Zeitpunkt der Vornahme der angefochtenen Rechtshandlung zu Gebote stehenden Auskunftsmitteln, dem Maß ihrer ihm vernunftgemäß zuzumutenden Heranziehung und der Ordnungsmäßigkeit ihrer Bewertung zu beantworten (RS0064794). Die Anzeichen einer wirtschaftlichen Krise müssen Anlass sein, mit zumutbaren Mitteln Erkundigungen einzuziehen (RS0064794 [T2]).

[64] 7.2. Als eine Nachforschungspflicht auslösender Krisenindikator kommt im vorliegenden Fall lediglich die Stellung eines bloß formelhaft begründeten Stundungsantrags im April 2020 in Betracht. Nach der Rechtsprechung verpflichtet die Stellung eines Ratenzahlungsersuchens durch den Schuldner für sich allein genommen den Gläubiger allerdings nicht gleichsam automatisch zu Nachforschungen (17 Ob 16/22k Rz 5 mwN). Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund des kurz zuvor erfolgten Beginns der CoronaPandemie. Andere konkrete, schuldnerbezogene Krisenindikatoren, die die Beklagte zu Nachforschungen veranlassen hätten müssen, führte die Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren nicht ins Treffen. Die Rechtsansicht der Klägerin, dass die allgemeine Betroffenheit der Wirtschaft – insbesondere der Reisebranche – durch die CoronaPandemie die Beklagte zu weiteren Nachforschungen veranlassen hätte müssen, überzeugt nicht, weil dies einer zumutbare Sorgfaltsanforderungen weit übersteigenden Nachforschungspflicht in einer Ausnahmesituation gleichkommen würde.

[65] 7.3. Insgesamt ist damit das Erstgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine Anfechtung nach § 31 Abs 1 Z 2 IO im vorliegenden Fall nicht erfüllt sind.

8. Keine Anfechtung nach § 30 Abs 1 Z 3 IO (Begünstigungsabsicht)

[66] Wenn der Beklagten nicht einmal fahrlässige Unkenntnis von der Zahlungsunfähigkeit zur Last fällt, muss auch die Anfechtung wegen Begünstigungsabsicht scheitern (Spitzer/Bollenberger in KLS² § 30 Rz 39 aE mwN; König/Trenker, Anfechtung6 Rz 10.148 aE).

9. Keine Anfechtung nach § 28 IO (Benachteiligungsabsicht)

[67] Zwar hat das Erstgericht keine Feststellungen zum Vorliegen einer (durch die Aussage des vom Erstgericht für glaubwürdig erachteten Geschäftsführers der Schuldnerin nicht indizierten) Benachteiligungsabsicht getroffen. Es hat allerdings festgestellt, dass der Beklagten eine „allfällige Benachteiligungsabsicht“ der Schuldnerin nicht bekannt war. Ob dem Anfechtungsgegner die fahrlässige Unkenntnis von der Benachteiligungsabsicht zur Last fällt, bestimmt sich nach den ihm im Zeitpunkt der Vornahme der anzufechtenden Rechtshandlung zu Gebote stehenden Auskunftsmitteln, dem Maß ihrer ihm vernunftgemäß zuzumutenden Heranziehung und der Ordnungsmäßigkeit ihrer Bewertung. Maßgeblich sind nicht nur die äußeren Umstände, unter denen die Rechtshandlung vorgenommen wurde (Inhalt, auffällige Zeit oder Heimlichkeit der Vornahme), sondern es ist auch auf Elemente in der Person des „anderen Teils“ (zB Branchenkollege, Hausbank, Rechtsanwalt) abzustellen (3 Ob 92/11t Punkt 2. mwN). Ausgehend von den getroffenen Feststellungen bestanden für die Beklagte keine Anhaltspunkte, die das Vorliegen einer solchen Absicht indiziert hätten und sie damit zu Nachforschungen veranlassen hätten müssen.

[68] 10. Die in der Revision gerügten sekundären Feststellungsmängel liegen nicht vor, weil bereits die getroffenen Feststellungen – wie soeben dargestellt – die Abweisung des auf §§ 28, 30 Abs 1 Z 3 und 31 Abs 1 Z 2 IO gestützten Anfechtungsbegehrens tragen.

[69] 11. Insgesamt war der Revision damit nicht Folge zu geben. Die tragenden Gründe der Entscheidung lassen sich wie folgt zusammenfassen:

[70] 11.1. Der in § 733 Abs 11 ASVG idF BGBl I 158/2020 normierte Anfechtungsausschluss ist (in zeitlicher Hinsicht) nur auf Fälle anzuwenden, in denen die vollständige Verwirklichung des Gesamttatbestands nach dem erfolgt. Hat sich der für die Anfechtung maßgebliche Gesamttatbestand (angefochtene Rechtshandlung und Eröffnung des Insolvenzverfahrens) hingegen vor dem vollständig verwirklicht, scheidet eine Anwendung des § 733 Abs 11 ASVG idF BGBl I 158/2020 aus.

[71] 11.2. Es liegt keine inkongruente Deckung im Sinn einer „nicht in der Zeit“ zu beanspruchenden Deckung (§ 30 Abs 1 Z 1 IO) vor, wenn ein Sozialversicherungsträger Beiträge entgegen nimmt, zu deren Abdeckung der Schuldner bereits eine Kurzarbeitsbeihilfe (§ 37b AMSG) erhalten hat und die nach der allgemeinen Regelung des § 58 Abs 1 ASVG fällig waren, aufgrund gesetzgeberischer, durch die CoronaPandemie ausgelöster Anordnungen vom Sozialversicherungsträger im Zahlungszeitpunkt aber nicht eingeklagt werden konnten.

[72] 12. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 41 iVm § 50 ZPO. Da die Revision im Umfang von 12 % des Revisionsinteresses als absolut unzulässig zurückzuweisen war (siehe oben Punkt I.3.), hat die Beklagte nur Anspruch auf Ersatz von 88 % der Kosten der Revisionsbeantwortung.

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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2023:0170OB00003.23Z.0214.000

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