OGH 01.08.2023, 14Os57/23y
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.Prof. Dr. Nordmeyer, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. SetzHummel LL.M. sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Mair in der Strafsache gegen * T* und andere Beschuldigte wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 3 St 139/22b der Staatsanwaltschaft Innsbruck, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Beschwerdegericht vom , AZ 11 Bs 251/22g (ON 50), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Geymayer, zu Recht erkannt:
Spruch
In der Strafsache AZ 3 St 139/22b der Staatsanwaltschaft Innsbruck verletzt der Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Beschwerdegericht vom , AZ 11 Bs 251/22g (ON 50), § 52 Abs 3 erster Satz StPO.
Text
Gründe:
[1] Die Staatsanwaltschaft Innsbruck führte zu AZ 3 St 139/22b ein Ermittlungsverfahren gegen * T*und andere Beschuldigte wegen des Verdachts des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen.
[2] Mit Beschluss des Einzelrichters des Landesgerichts Innsbruck vom , AZ 32 HR 292/22a, wurde den Beschuldigten jeweils ein Verfahrenshilfeverteidiger beigegeben (ON 14).
[3] Nachdem die Tiroler Rechtsanwaltskammer Rechtsanwalt Dr. Barbist zum Vertreter des Beschuldigten * B*bestimmt hatte (ON 19), wurde diesem am die elektronische Akteneinsicht freigeschaltet (ON 1.8 und Vermerk auf ON 19, 1).
[4] Mit seinen (im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs eingebrachten) Eingaben vom (ON 21) und (ON 26) begehrte der als Substitut für Rechtsanwalt Dr. Barbist bevollmächtigte Rechtsanwalt Dr. Stanglechner, ihm und dem bestellten Verfahrenshilfeverteidiger eine Kopie des Akts zuzustellen.
[5] Die Staatsanwaltschaft veranlasste am die Freischaltung Dris. Stanglechner für die elektronische Akteneinsicht (ON 1.10) und lehnte eine (darüber hinausgehende) Übermittlung von Kopien in Papierform ab (ON 1.10 und ON 1.15).
[6] Einen dagegen erhobenen Einspruch des Verfahrenshilfeverteidigers wegen Rechtsverletzung (§ 106 Abs 1 StPO), der eine Verletzung des subjektiven Rechts nach § 52 Abs 3 erster Satz StPO darin erblickte, dass die Staatsanwaltschaft zwar die Freischaltung für die elektronische Akteneinsicht gewährt, eine Zustellung physischer Aktenkopien (durch Ausdrucke der vorhandenen Dateien) aber abgelehnt habe (ON 29), gab der Einzelrichter des Landesgerichts Innsbruck mit Entscheidung vom , AZ 32 HR 292/22a, keine Folge (ON 40):
[7] Danach stelle der Gesetzgeber – wie sich aus der Wortfolge „Kopien (Ablichtungen oder andere Wiedergaben des Akteninhalts)“ im ersten Satz sowie aus der Passage „sind dem Beschuldigten die Kopien auf von den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestellten Datenträgern […] zu übergeben“ im letzten Satz des § 52 Abs 1 StPO ergebe – elektronische Kopien und „Papier-Kopien“ gleich. Dass der Begriff „Kopien“ in Abs 3 derselben Bestimmung anders (als in Abs 1) auszulegen wäre, überzeuge nicht; vielmehr lasse auch § 89i Abs 2 GOG eine Gleichwertigkeit von elektronischen und physischen Aktenkopien erkennen, weshalb es im Ermessen der Staatsanwaltschaft liege, ob die Übermittlung von Kopien im elektronischen Weg oder in Papierform erfolge. Dass die Staatsanwaltschaft von ihrem Ermessensspielraum Gebrauch mache und im Hinblick auf die gebotene Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit die elektronische Datenübertragung bevorzuge, sei nicht zu beanstanden.
[8] Der dagegen gerichteten Beschwerde des Verfahrenshilfeverteidigers (ON 41) gab das Oberlandesgericht Innsbruck mit Beschluss vom , AZ 11 Bs 251/22g, Folge und stellte fest, „dass der Verfahrenshilfeverteidiger durch die Unterlassung der Zustellung einer Aktenkopie durch die Staatsanwaltschaft in seinem (vgl aber Haslwanter, WKStPO § 7 Rz 21; Soyer/Schumann, WKStPO § 57 Rz 33) subjektiven Recht nach § 52 Abs 3 erster Satz StPO gemäß § 106 Abs 1 Z 1 StPO verletzt wurde“ (ON 50):
[9] Dem Beschwerdegericht zufolge sei die Bestimmung des § 52 Abs 3 erster Satz StPO, wonach dem Verfahrenshilfeverteidiger unverzüglich Kopien des Akts zuzustellen sind, „nach wie vor in Geltung“. Eine „Akteneinsicht im elektronischen Rechtsverkehr“ könne „die normierte Zustellung einer Aktenkopie nicht substituieren“, vielmehr bestünden diese Möglichkeiten nebeneinander. Das Unterlassen der Zustellung einer Aktenkopie an den Verfahrenshilfeverteidiger stelle sohin eine „Verletzung von Bestimmungen der StPO dar“ (BS 8).
[10] Gegen die in der Begründung dieses Beschlusses vertretene und zur Stattgebung des Einspruchs führende Rechtsansicht, wonach „[e]ine Akteneinsicht im elektronischen Rechtsverkehr“ „die normierte Zustellung einer Aktenkopie nicht substituieren“ könne, richtet sich die zur Wahrung des Gesetzes erhobene Nichtigkeitsbeschwerde der Generalprokuratur (§ 23 Abs 1 StPO), worin sie Folgendes ausführt:
„Gemäß § 52 Abs 1 erster Satz StPO sind dem Beschuldigten, soweit ihm Akteneinsicht zusteht, auf Antrag und gegen Gebühr Kopien (Ablichtungen oder andere Wiedergaben des Akteninhalts) auszufolgen oder ist ihm nach Maßgabe der technischen Möglichkeiten zu gestatten, Kopien selbst herzustellen, sofern dieses Recht nicht durch einen Verteidiger ausgeübt wird (§ 57 Abs 2 StPO).
Akteneinsicht wird gemäß § 53 Abs 2 erster Satz StPO grundsätzlich während der Amtsstunden in den jeweiligen Amtsräumen gewährt; im Rahmen der technischen Möglichkeiten kann sie aber zufolge § 53 Abs 2 zweiter Satz StPO auch über Bildschirm oder im Wege elektronischer Datenübertragung erfolgen.
Dem Verfahrenshilfeverteidiger ist im Ermittlungsverfahren von Amts wegen Akteneinsicht zu gewähren (Soyer/Stuefer, WK-StPO §§ 51–53 Rz 24); insofern sieht § 52 Abs 3 erster Satz StPO vor, dass ihm 'unverzüglich Kopien des Aktes von Amts wegen, im Haftfall durch das Gericht zuzustellen' sind.
Bereits die Materialien zum Strafprozessreformgesetz, BGBl I 2004/19, orteten fortschreitende Möglichkeiten der Informationstechnik, wobei die 'elektronische Aktenführung' und der elektronische Rechtsverkehr 'in größtmöglichem Umfang genützt werden' sollten und durch 'die rasch voranschreitenden Möglichkeiten der Büroautomatisation' Akteneinsicht auch 'auf elektronischem Weg (per Datenfernübertragung)' zu ermöglichen sei (EBRV 25 BlgNR 22. GP 71, 74, 105 f; Pilnacek/Pleischl, Das neue Vorverfahren [2005] Rz 205).
Den Begriff 'Kopien' definiert § 52 Abs 1 erster Satz StPO durch die in Klammer gesetzte Wendung 'Ablichtungen oder andere Wiedergaben des Akteninhalts' und solcherart medien- und technologieneutral (Haißl in Schmölzer/Mühlbacher, StPO 12 § 52 Rz 8; vgl auch EBRV [zum Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2013] 2402 BlgNR 24. GP 7). Eine 'Kopie' kann demnach nicht nur in Papierform, sondern auch in einer anderen Art der Reproduktion bestehen (vgl Soyer/Stuefer, WK-StPO §§ 51–53 Rz 29) und durch elektronische Datenübertragung erfolgen (Fabrizy/Kirchbacher, StPO14 § 52 Rz 1/2; Einführungserlass des BMJ vom , BMJ-S578.027/0006-IV 3/2013 zum Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2013, JABl 2/2014, Pkt B.2.a.).
Für den Geschäftsgang der Staatsanwaltschaften wurde bereits mit BGBl I 2005/119 in § 34a Abs 4 StAG die Möglichkeit der elektronischen Einsicht von Verfahrensbeteiligten in ihre Sache betreffende, in der Verfahrensautomation Justiz gespeicherte Daten etabliert (EBRV 1059 BlgNR 22. GP 8 f) sowie der elektronische Rechtsverkehr mit Staatsanwaltschaften, welcher eine papierlose, nämlich elektronische Übermittlung von Daten ermöglicht und insofern die Zustellung von Dokumenten per Post ersetzt, unter Verweis auf die Bestimmungen der §§ 89a bis 89g GOG geregelt (§ 34a Abs 5 StAG).
Zur weiteren Umsetzung der digitalen Aktenführung sieht § 34a Abs 4 StAG seit dem BGBl I 2007/112 vor, dass Behörden oder Verfahrensbeteiligte, denen ein Recht auf Einsicht in den Ermittlungsakt oder das Tagebuch zusteht, nach Maßgabe der vorhandenen technischen Möglichkeiten Anspruch darauf haben, Ablichtungen oder Ausdrucke der ihre Sache betreffenden Akten und Aktenteile zu erhalten (erster Satz); nach § 34a Abs 4 zweiter Satz StAG kann ihnen unter Bedachtnahme auf eine einfache und sparsame Verwaltung sowie eine ausreichende Sicherung vor Missbrauch durch dritte Personen auch elektronische Einsicht in sämtliche nach den Vorschriften der StPO oder dieses Gesetzes zugängliche, ihre Sache betreffende Daten, die in der Verfahrensautomation Justiz gespeichert sind, ermöglicht werden.
Rechtsanwälte und Verteidiger in Strafsachen, die obligatorisch am elektronischen Rechtsverkehr teilnehmen (§ 89c Abs 5 Z 1 GOG) und daher auch technisch entsprechend ausgestattet sein müssen (§ 9 Abs 1a RAO; § 40 Abs 4 RL-BA 2015), sind prädestinierte Empfänger elektronisch übermittelter Aktenbestandteile (Erlass des BMJ vom , JMZ 590000L/36/II3/07, JABl 3/2008, Pkt. 1.).
Wird ein Verteidiger von der Staatsanwaltschaft über die ihm eröffnete Zugriffsberechtigung auf den digitalen Ermittlungsakt verständigt, so sind ihm zugleich auch sämtliche Daten des elektronisch geführten Aktes auf eigenen Geräten (Computer, Laptop, I-Pad) zugänglich (solcherart 'zugestellt' [§ 34a Abs 5 StAG iVm § 89a Abs 2 GOG]) und ist ihm ein Aktenstudium zur Vorbereitung der Verteidigung eröffnet ([zur Frage der Nutzbarkeit tragbarer Computer auch bei anwaltlichen Besprechungen in der Justizanstalt] vgl Erlass der Vollzugsdirektion vom , BMJ-VD43201/0001-VD/2014, Pkt. 4.).
Damit ist bei der Auslegung der in § 52 Abs 3 erster Satz StPO enthaltenen Anordnung, dem Verfahrenshilfeverteidiger unverzüglich Kopien des Aktes zuzustellen, ein auf die körperliche Übergabe bzw postalische Übermittlung von Papierstücken eingeschränktes Begriffsverständnis zu eng; ein Wahlrecht des Verfahrenshilfeverteidigers, ob er Ausdrucke in Papier oder die elektronische Akteneinsicht präferiere, ist aus dem Gesetz ebenfalls nicht abzuleiten. Vielmehr liegt es im – nach den Kriterien des § 34a Abs 4 StAG auszuübenden – Ermessen des staatsanwaltschaftlichen Entscheidungsorgans, ob im Einzelfall die in § 52 Abs 3 erster Satz StPO angeordnete 'Zustellung' von 'Kopien' an den Verfahrenshilfeverteidiger durch Zusenden von Ausdrucken in Papierform oder auf elektronischem Weg bewerkstelligt wird (Haißl in Schmölzer/ Mühlbacher, StPO 12 § 52 Rz 8; Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 6.29).
Die vom Oberlandesgericht Innsbruck als Beschwerdegericht vertretene und zur Stattgebung des Einspruchs führende Rechtsansicht (vgl RIS-Justiz RS0096557), wonach '[e]ine Akteneinsicht im elektronischen Rechtsverkehr' 'die normierte Zustellung einer Aktenkopie nicht substituieren' könne (BS 8), widerspricht §§ 52 Abs 3 erster Satz, 53 Abs 2 zweiter Satz StPO iVm § 34a Abs 4 zweiter Satz und Abs 5 StAG sowie § 89a Abs 2 GOG.“
Rechtliche Beurteilung
Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:
[11] Gemäß § 52 Abs 3 erster Satz StPO sind dem Verfahrenshilfeverteidiger unverzüglich Kopien des Akts von Amts wegen zuzustellen. Ausgehend vom Grundsatz, dass im Zweifel ein in einer gesetzlichen Bestimmung mehrfach verwendeter Ausdruck jeweils dasselbe bedeutet (RIS-Justiz RS0008797), ergibt sich die Definition des Begriffs „Kopien“ aus § 52 Abs 1 erster Satz StPO. Demnach sind Kopien „Ablichtungen“ oder „andere Wiedergaben des Akteninhalts“, wobei diese Begrifflichkeiten medien- und technologieneutral zu verstehen sind (Haißl in Schmölzer/Mühlbacher, StPO 1² § 52 Rz 8). Daher können „andere Wiedergaben des Akteninhalts“ auch im Wege elektronischer Datenübertragung erfolgen (ErläutRV 2402 BlgNR 24. GP 7 [„Vom Begriff Kopien {…} jedenfalls auch die elektronische Datenübertragung {…} umfasst]; Fabrizy/Kirchbacher, StPO14 § 52 Rz 1/2;vgl auch Soyer/Stuefer, WKStPO §§ 51–53 Rz 29), sodass die Staatsanwaltschaft mit Freischaltung des elektronisch geführten Akts für den Verteidiger Kopien desselben an ihn ausfolgt (§ 52 Abs 1 erster Satz StPO), mit anderen Worten ihm zustellt (§ 52 Abs 3 erster Satz StPO).
[12] Demzufolge widerspricht die vom Oberlandesgericht vertretene, für den Erfolg der Beschwerde maßgebliche Rechtsansicht, die Staatsanwaltschaft habe die Zustellung einer Aktenkopie an den Verteidiger ungeachtet der von ihr verfügten Freischaltung des elektronischen Akts für diesen unterlassen, § 52 Abs 3 erster Satz StPO.
[13] Mangels nachteiliger Wirkung für den Beschuldigten B* hat es mit der Feststellung der Gesetzesverletzung sein Bewenden.
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2023:0140OS00057.23Y.0801.000 |
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