OGH vom 24.01.2023, 14Os123/22b
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. BachnerForegger, Dr. Mann, Dr. SetzHummel LL.M. und Dr. Sadoghi in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Seidenschwann in der Strafsache gegen * B* wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 fünfter Fall, Abs 3, § 148 zweiter Fall StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 127 Hv 100/15d des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag des Verurteilten auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Text
Gründe:
[1] Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom , GZ 127 Hv 100/15d-1597, wurde * B* – soweit hier von Bedeutung – des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 fünfter Fall, Abs 3, § 148 zweiter Fall StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt.
[2] Seine dagegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde wies der Oberste Gerichtshof mit Beschluss vom , GZ 12 Os 128/21x16, zurück. Die Akten wurden zur Entscheidung über die Berufungen dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet (§ 285i StPO).
[3] Mit Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom , AZ 32 Bs 273/22i, wurde der Berufung des B* nicht, hingegen jener der Staatsanwaltschaft Folge gegeben und über ihn eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren verhängt. Dabei hielt das Berufungsgericht fest, dass aufgrund der im Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom (BergergegenÖsterreich) festgestellten Verletzung von Art 6 Abs 1 MRK der in der überlangen Verfahrensdauer gelegene Konventionsverstoß anerkannt werde und dieser Grundrechtsverletzung unter Berücksichtigung einer weiteren unangemessenen Verfahrensverzögerung zwischen Rechtswirksamkeit der Anklageschrift am und Fällung des erstinstanzlichen Urteils am durch eine Reduktion der Freiheitsstrafe im Ausmaß von drei Jahren Rechnung getragen werde (US 7).
[4] Noch während anhängigen Hauptverfahrens hatte der EGMR mit Urteil vom , Nr 58049/11, Berger/Österreich, in gegenständlicher Rechtssache – soweit hier von Bedeutung – eine Verletzung von Art 6 Abs 1 MRK in Bezug auf die Dauer des Ermittlungsverfahrens festgestellt und dazu insbesonders auf den Zeitraum zwischen der Festnahme des Angeklagten und der Einbringung der Anklageschrift durch die Staatsanwaltschaft (von mehr als neun Jahren und drei Monaten) sowie auf – als exzessiv angesehene – Verzögerungen bei der Bestellung eines geeigneten Sachverständigen (gleichfalls durch die Staatsanwaltschaft), die fast fünf Jahre und sieben Monate in Anspruch nahm, verwiesen.
[5] Ausdrücklich nur auf dieses Erkenntnis gestützt (demnach nicht im von der Rechtsprechung entwickelten erweiterten Anwendungsbereich des § 363a StPO [RIS-Justiz RS0122228]; vgl dazu auch die diesbezügliche Klarstellung des Antragstellers in seiner Äußerung zur Stellungnahme der Generalprokuratur vom ) begehrt der Verurteilte die „Erneuerung des Strafverfahrens hinsichtlich des rechtskräftigen Urteils zu 127 Hv 100/15d im Sinne der Bestimmung des § 363a StPO“ mit der Behauptung einer Verletzung im Grundrecht auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 MRK.
Rechtliche Beurteilung
[6] Die Anordnung einer Verfahrenserneuerung durch den Obersten Gerichtshof gemäß § 363a StPO setzt – außer im hier eben gerade nicht angesprochenen erweiterten Anwendungsbereich der Bestimmung – ein (gemäß Art 46 Abs 1 MRK stets endgültiges) Urteil des EGMR voraus, das die Feststellung einer Konventionsverletzung durch eine richterliche Entscheidung oder Verfügung im Strafverfahren beinhaltet. Außerdem muss denkbar sein, dass ohne die Konventionsverletzung eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung gefällt worden wäre (§ 363a Abs 1 StPO; RISJustiz RS0108845; vgl auch RS0128957).
[7] Erneuerung des Strafverfahrens (§ 363a bis 363c StPO) dient solcherart der Umsetzung eines Urteilsdes EGMR in die innerstaatliche Rechtsordnung, um dem durch eine Konventionsverletzung Betroffenen zu ermöglichen, eine Wiederherstellung der Unversehrtheit („restitutio in integrum“) zu erreichen (Rebisant, WK-StPO § 363c Rz 138 ff).
[8] Auf Basis des Urteils des EGMR vom (BergergegenÖsterreich), auf das sich der Antragsteller ausschließlich beruft, sind die Voraussetzungen für die begehrte Erneuerung des Verfahrens in Ansehung des Urteils des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom , GZ 127 Hv 100/15d1597, nicht gegeben:
[9] Indem der Verurteilte die Umsetzung des Erkenntnisses in Bezug auf die vom EGMR festgestellte Konventionsverletzung gar nicht (deutlich und bestimmt) verlangt, sondern sich ausdrücklich bloß gegen das – sechs Jahre später ergangene – erstinstanzliche Urteil wendet, dabei Vorgänge im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung kritisiert, den (angeblich) aufgrund der insgesamt langen Verfahrensdauer eingetretenen Verlust entlastender Beweise (durch Vernichtung von Unterlagen und den Tod von Zeugen) beklagt, gegen die dennoch erfolgte Ablehnung einer Verfahrenseinstellung durch „die Strafgerichte“ (Landesgericht und Oberlandesgericht) sowie das Unterbleiben der gerichtlichen Anordnung verfahrensbeschleunigender Maßnahmen gegenüber der Staatsanwaltschaft remonstriert und schließlich behauptet, das Verfahren habe sich nach der Entscheidung des EGMR sechs Jahre lang in einem „Zustand der Dauerrechtsverletzung“ befunden, spricht er eine Entscheidung eines Strafgerichts, die Gegenstand des Urteils des EGMR gewesen wäre, nicht an und verfehlt solcherart den gesetzlichen Bezugspunkt eines Antrags nach § 363a StPO.
[10] Dass der EGMR – vom Antragsteller mehrfach hervorgehoben – im Rahmen der Aufzählung der Umstände des Falls einzelne im Ermittlungsverfahren ergangene Entscheidungen des Landesgerichts für Strafsachen Wien sowie des Oberlandesgerichts Wien erwähnte (ohne sie ausdrücklich zu kritisieren; Rz 9 ff), ändert daran im Übrigen nichts.
[11] Abgesehen davon ist aber ein (fortdauernder) nachteiliger Einfluss der Konventionsverletzung, die Gegenstand des in Rede stehenden Urteils des EGMR war, auf den Inhalt einer im zugrunde liegenden Strafverfahren ergangenen gerichtlichen Entscheidung auszuschließen (§ 363a Abs 1 zweiter Halbsatz StPO).
[12] Der in der unangemessenen Verfahrensdauer liegende Nachteil eines Angeklagten lässt sich nämlich im Stadium des noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens alleine durch eine rasche Prozessbeendigung unter Beachtung des Milderungsgrundes des § 34 Abs 2 StGB ausgleichen, während eine Neudurchführung des Strafverfahrens (im engeren Sinn) die Verfahrensgarantie des Art 6 Abs 1 MRK geradezu konterkarieren würde (Rebisant, WK-StPO § 363c Rz 157; RIS-Justiz RS0116662 [dort va 12 Os 14/01]; vgl Grabenwarter/Pabel, MRK7 § 24 Rz 85).
[13] Diesen Grundsätzen entsprechend hat das Oberlandesgericht Wien als Berufungsgericht (auch) den vom EGMR festgestellten Konventionsverstoß nicht nur anerkannt, sondern diesem (anders als zu 13 Os 18/08h) ausdrücklich und messbar durch Reduktion der dem Schuld- und Unrechtsgehalt sowie dem sozialen Störwert der Tat an sich entsprechenden Freiheitsstrafe um drei Jahre Rechnung getragen (vgl erneut US 7 zu AZ 32 Bs 273/22i).
[14] Mit Blick auf die etwa 22jährige Verfahrensdauer (vgl dazu RIS-Justiz RS0124901) einerseits sowie die Verfahrensdimension mit internationalen Bezügen andererseits erweist sich dieser durch Sanktionsreduktion effektuierte Ausgleich der Grundrechtsverletzung als nicht offensichtlich unangemessen und damit – auch im Licht der Judikatur der Straßburger Instanzen – als ausreichend (Grabenwarter/Pabel, MRK7 § 13 Rz 18 mwN).
[15] Der Erneuerungsantrag war daher zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 StPO).
[16] Für eine Hemmung des Vollzugs der Freiheitsstrafe besteht damit kein Anlass (RIS-Justiz RS0125705).
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2023:0140OS00123.22B.0124.000 |
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