OGH vom 10.05.2023, 13Os30/23w
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel und Dr. SetzHummel LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin OKontr. Kolar in der Strafsache gegen * C* wegen des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Strafsatz StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 311 HR 25/23v des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerde des vormals Beschuldigten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom , AZ 18 Bs 65/23z, (ON 39 der HRAkten) nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
* C* wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.
Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.
Text
Gründe:
[1] Das Landesgericht für Strafsachen Wien verhängte (auf Antrag der Staatsanwaltschaft [ON 1.3, 1]) mit Beschluss vom über * C* die Untersuchungshaft aus den Gründen der Fluchtgefahr und der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 und 3 lit b StPO (ON 10), die es (unter anderem) mit Beschluss vom aus denselben Haftgründen fortsetzte (ON 35).
[2] Mit der angefochtenen Entscheidung gab das Oberlandesgericht Wien der gegen den letztgenannten Beschluss erhobenen Beschwerde des C* nicht Folge und ordnete – erneut aus den Haftgründen der Fluchtgefahr und der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 und 3 lit b StPO – die Fortsetzung der Untersuchungshaft an.
[3] Dabei ging das Beschwerdegericht vom dringenden Verdacht (§ 173 Abs 1 erster Satz StPO) aus, * C* habe in W* vorsätzlich (BS 5)
(I) Nachgenannte am Körper verletzt, und zwar
1) am * K*, indem er sie an den Haaren ergriff und mehrmals ihren Kopf gegen die Ausstiegstür einer Straßenbahn schlug, wodurch sie ein Schleudertrauma und Rötungen im Stirnbereich erlitt, sowie
2) am
a) * W*, indem er sie am Kopf packte und sie im Gesicht kratzte, wodurch sie einen Bluterguss am Augenlid und Hautabschürfungen an der Stirn erlitt, und
b) * H*, indem er sie an den Haaren hin- und herriss, wodurch sie Schmerzen im Nacken und noch festzustellende Verletzungen erlitt, weiters
(II) am einen Beamten, nämlich Insp. * D*, mit Gewalt an einer Amtshandlung, und zwar an der Sachverhaltsklärung, zu hindern versucht, indem er dem Genannten einen Schlag auf dessen rechte Wange versetzte, und
(III) durch die zu (II) beschriebene Tat versucht, einem Beamten während oder wegen der Vollziehung seiner Aufgaben oder der Erfüllung seiner Pflichten eine Körperverletzung (§ 83 Abs 1 StGB) zuzufügen.
[4] In rechtlicher Hinsicht subsumierte das Oberlandesgericht dieses Verhalten als mehrere Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (I) und als jeweils ein Vergehen des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Strafsatz StGB (II) und der schweren Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs 1, 84 Abs 2 StGB (III).
Rechtliche Beurteilung
[5] Die dagegen gerichtete Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten behauptet – gestützt auf § 430 Abs 1 Z 4 (erster Satz) StPO – die Unzulässigkeit der Fortsetzung der Untersuchungshaft, weil das Oberlandesgericht § 430 Abs 1 StPO idgF BGBl I 2022/223 unrichtig angewendet habe, indem es die Rechtsansicht vertrat, es müsse insoweit „gutachterlich geklärt“ sein, dass „hinreichende Gründe für eine vorläufige Unterbringung nach § 431 StPO“ vorliegen. Richtigerweise seien die Bestimmungen des § 430 StPO stets dann anzuwenden, wenn die Voraussetzungen für die Unterbringung in einem forensisch-therapeutischen Zentrum im Sinn eines Anfangsverdachts (§ 1 Abs 3 StPO) indiziert seien.
[6] Die behauptete Grundrechtsverletzung liegt nicht vor.
[7] Mit dem Maßnahmenvollzugsanpassungs-gesetz 2022 BGBl I 2022/223 traten am (soweit hier von Bedeutung) die Neuregelungen des § 21 StGB über die strafrechtliche Unterbringung in einem forensisch-therapeutischen Zentrum und der im 1. Abschnitt des 21. Hauptstücks der StPO enthaltenen Verfahrensregelungen zur Unterbringung eines Betroffenen (§ 48 Abs 2 StPO) nach § 21 StGB (§§ 429 ff StPO) in Kraft.
[8] Das Verfahren zur strafrechtlichen Unterbringung in einem forensisch-therapeutischen Zentrum nach § 21 StGB (§§ 429 ff StPO) stellt kein Strafverfahren im engeren Sinn dar, jedoch ist es ein diesem angenähertes besonderes strafrechtliches Verfahren (vgl Murschetz,WKStPO § 429 Rz 1 und Fabrizy/Kirchbacher,StPO14 § 429 Rz 1 [jeweils zur – insoweit unveränderten – alten Rechtslage]). Für das Verfahren zur Unterbringung nach § 21 StGB gelten daher die Bestimmungen über das Strafverfahren sinngemäß, soweit nicht in §§ 429 ff StPO Sonderregelungen vorgesehen sind (§ 429 StPO).
[9] Solche Besonderheiten sieht § 430 Abs 1 StPO bereits im Ermittlungsverfahren vor, und zwar, sobald aufgrund bestimmter Anhaltspunkte (§ 1 Abs 3 StPO) angenommen werden kann, dass die Voraussetzungen für die Unterbringung in einem forensisch-therapeutischen Zentrum vorliegen.
[10] Diese Voraussetzungen bestimmt § 21 StGB. Demnach erfordert diese Maßnahme die Begehung einer Anlasstat nach § 21 Abs 3 (erster und dritter Satz) StGB unter dem maßgeblichen Einfluss einer schwerwiegenden und nachhaltigen psychischen Störung, die Unterbringung nach § 21 Abs 1 StGB zudem die Zurechnungsunfähigkeit (§ 11 StGB) wegen dieser Störung im Tatzeitpunkt, sowie die Prognose, dass beim Betroffenen nach seiner Person, nach seinem Zustand und nach der Art der Tat mit hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten ist, dass er sonst in absehbarer Zukunft unter dem maßgeblichen Einfluss seiner psychischen Störung eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen werde. Für den Fall der Begehung einer Anlasstat mit einer drei Jahre Freiheitsstrafe nicht übersteigenden Strafdrohung erfordert § 21 Abs 3 zweiter Satz StGB, dass sich die Befürchtung nach § 21 Abs 1 StGB auf eine gegen Leib und Leben gerichtete mit mehr als zwei Jahren Freiheitsstrafe bedrohte Handlung oder auf eine gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung gerichtete mit mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe bedrohte Handlung bezieht.
[11] Für diese Unterbringungsvoraussetzungen verlangt § 430 Abs 1 StPO das Vorliegen „bestimmter Anhaltspunkte“ in der Intensität des Bestehens eines Anfangsverdachts (vgl § 1 Abs 3 StPO). Vermutungen, vage Hinweise oder Spekulationen (auf bloßen Annahmen oder Mutmaßungen beruhende Erwartungen) genügen nicht (vgl Markel, WKStPO § 1 Rz 26).
[12] „Bestimmte Anhaltspunkte“ im Sinn des § 430 Abs 1 StPO sind daher (erst) dann gegeben, wenn das Vorliegen der Unterbringungsvoraussetzungen bei einer Gesamtbetrachtung aller relevanten (kriminalistischen und medizinischen) Faktoren fallbezogen als konkret möglich erscheint.
[13] Davon ausgehend verneinte das Oberlandesgericht – im Ergebnis zutreffend – das von § 430 Abs 1 StPO geforderte Vorliegen der Voraussetzungen für die Unterbringung des C* in einem forensisch-therapeutischen Zentrum nach § 21 StGB. Denn die im angefochtenen Beschluss angestellten Überlegungen, wonach das bisher aktenkundige Verhalten des C* für die Notwendigkeit einer solchen Unterbringung sprechen könne, (sowie im Übrigen auch der in der Beschwerde relevierte Umstand der Durchführung einer Haftverhandlung in der Krankenabteilung der Justizanstalt aufgrund des „Gesundheitszustands“ des Beschuldigten) entsprechen
– entgegen dem Beschwerdevorbringen – keineswegs der von § 430 Abs 1 StPO insoweit geforderten Intensität. Vielmehr erfordert die Abklärung, ob Anhaltspunkte für das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Unterbringung nach § 21 StGB bestehen, in aller Regel eine ärztliche Expertise in Form der Einholung von Befund und Gutachten eines (allenfalls mehrerer [s EBRV 1789 BlgNR 27. GP 14 f]) medizinischen Sachverständigen über die Person des Täters (und zwar zu den im Sinn des § 21 StGB zu klärenden Fragen nach einer schwerwiegenden und nachhaltigen psychischen Störung, einer dadurch bedingten Zurechnungsunfähigkeit [§ 11 StGB] zum Tatzeitpunkt, gegebenenfalls des maßgeblichen Einflusses dieser Störung auf die Anlasstat sowie zur Schaffung einer Beurteilungsgrundlage für die zu erstellende Gefährlichkeitsprognose (vgl Murschetz,WKStPO § 429 Rz 6).
[14] Erst wenn das Bestehen von in diesem Sinn konkretisierten Anhaltspunkten für sämtliche der in § 21 Abs 1 oder 2 StGB genannten Unterbringungsvoraussetzungen zu bejahen ist, geht das Strafverfahren in ein Verfahren zur Unterbringung nach § 21 StGB über und nicht eher gelten die für das Unterbringungsverfahren in § 430 Abs 1 StPO normierten verfahrensrechtlichen Besonderheiten.
[15] Dieser Gesetzessystematik folgend hat das Gericht somit ab diesem Zeitpunkt, also erst – aufgrund der Unzulässigkeit der Verhängung und Fortsetzung der Untersuchungshaft (§ 430 Abs 1 Z 4 erster Satz StPO) – im hier vorliegenden Fall eines sich bereits in Untersuchungshaft befindenden Betroffenen von Amts wegen (§ 430 Abs 1 Z 4 zweiter Satz StPO) – über die vorläufige Unterbringung (§ 431 StPO), die im Unterbringungsverfahren das der Untersuchungshaft im Strafverfahren entsprechende Sicherungsmittel darstellt (vgl Murschetz, WKStPO § 429 Rz 17), zu entscheiden.
[16] Demgemäß ordnete das Oberlandesgericht die Fortsetzung der im gegenständlichen über C* verhängten Untersuchungshaft rechtsrichtig an.
[17] Die Grundrechtsbeschwerde war daher ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2023:0130OS00030.23W.0510.000 |
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