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OGH vom 15.06.2023, 12Os69/23y

OGH vom 15.06.2023, 12Os69/23y

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Hon.Prof. Dr. Oshidari, Dr. Brenner, Dr. Haslwanter LL.M. und Dr. Sadoghi in der Strafsache gegen * P*wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB, AZ 10 U 14/22s des Bezirksgerichts Melk, über den Antrag des Generalprokurators auf außerordentliche Wiederaufnahme des Strafverfahrens nichtöffentlich gemäß § 62 Abs 1 zweiter Satz OGH-Geo 2019 den

Beschluss

gefasst:

Spruch

In Stattgebung des Antrags des Generalprokurators wird im außerordentlichen Weg die Wiederaufnahme des Berufungsverfahrens verfügt, das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Berufungsgericht vom , AZ 15 Bl 8/23d, aufgehoben und die Sache an dieses Gericht zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung und die (implizierte) Beschwerde des Angeklagten verwiesen.

Text

Gründe:

[1] Mit Urteil des Bezirksgerichts Melk vom , GZ 10 U 14/22s-9, wurde * P* des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Unter einem fasste das Bezirksgericht Melk den Beschluss auf Absehen vom Widerruf der dem Angeklagten mit Urteil des Bezirksgerichts Tulln vom zu AZ 7 U 100/19p gewährten bedingten Strafnachsicht und Verlängerung der Probezeit auf fünf Jahre (§ 494a Abs 1 Z 2, Abs 6 StPO).

[2] Gegen dieses Urteil meldete der (in diesem Strafverfahren nicht durch einen Verteidiger vertretene) Angeklagte rechtzeitig am Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe (ON 10) an. Dieses Rechtsmittel führte der Angeklagte nach Urteilszustellung am nicht aus.

[3] Mit Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Berufungsgericht vom , AZ 15 Bl 8/23d (ON 16 der U-Akten), wurde die Berufung wegen Nichtigkeit zurückgewiesen und der Berufung wegen Schuld und Strafe ebenso keine Folge gegeben wie der (implizierten) Beschwerde mit zugleich ergangenem Beschluss.

[4] Zur Berufungsverhandlung am erschien der Angeklagte, der die Ladung am eigenhändig übernommen hatte, nicht (ON 15 der U-Akten).

[5] Tatsächlich befand sich der Verurteilte seit , sohin auch am zu AZ 3 St 242/22a der Staatsanwaltschaft Krems an der Donau (AZ 18 HR 180/22a des Landesgerichts Krems an der Donau) in Untersuchungshaft. Dieser Umstand war dem Berufungsgericht nicht bekannt. Auf seine Teilnahme an der Berufungsverhandlung hatte der Angeklagte nicht verzichtet.

[6] In offenkundiger Unkenntnis der Verhinderung des Angeklagten führte das Berufungsgericht – nach der diesem zum Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Aktenlage rechtsrichtig (§ 471 StPO iVm § 286 Abs 1 und § 287 Abs 3 StPO) – die Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durch (ON 15 der U-Akten).

Rechtliche Beurteilung

[7] Gegen die Richtigkeit der der Durchführung des Gerichtstags in Abwesenheit des Angeklagten zugrunde liegenden Tatsachen ergeben sich – wie der Generalprokurator in seinem Antrag gemäß § 362 Abs 1 Z 2 StPO analog zutreffend ausführt – erhebliche Bedenken.

[8] Ist eine nicht vom Obersten Gerichtshof selbst getroffene letztinstanzliche Entscheidung eines Strafgerichts auf einer in tatsächlicher Hinsicht objektiv bedenklichen Verfahrensgrundlage ergangen, ohne dass dem Gericht ein Rechtsfehler anzulasten ist, so kommt die analoge Anwendung der Bestimmungen über die außerordentliche Wiederaufnahme gemäß § 362 Abs 1 Z 2 StPO durch den Obersten Gerichtshof in Betracht (Ratz, WK-StPO § 292 Rz 16, § 362 Rz 4; Fabrizy/Kirchbacher, StPO14 § 362 Rz 3; RIS-Justiz RS0117312 [T3]; vgl auch 12 Os 153/17t).

[9] Bei der Durchführung des Gerichtstags über die Berufung gegen ein Urteil des Bezirksgerichts gilt nach § 471 StPO – unabhängig vom Gegenstand der Berufung – § 294 Abs 5 zweiter Satz StPO, nicht aber § 286 Abs 2 StPO. Der (wie hier im Zeitpunkt der Anordnung des Gerichtstags) nicht verhaftete Angeklagte ist daher – gegebenenfalls zusätzlich  zu einem Verteidiger (§ 294 Abs 5 zweiter Satz StPO als lex specialis zu § 83 Abs 4 erster Satz StPO), mangels Erzwingbarkeit seiner Anwesenheit (vgl § 83 Abs 1 und 3 erster Satz StPO) jedoch ohne das Erfordernis eines Zustellnachweises – vorzuladen (Ratz, WK-StPO § 294 Rz 14). Ist für das Berufungsgericht erkennbar, dass der gehörig geladene Angeklagte am Erscheinen verhindert ist, hat es den Gerichtstag zu vertagen, wenn der Angeklagte der Durchführung in seiner Abwesenheit – hat er einen Verteidiger, durch diesen – nicht ausdrücklich zustimmt (vgl RIS-Justiz RS0124107 [T2, T3]).

[10] Die Verhängung einer Untersuchungshaft über den gehörig geladenen Angeklagten in einem anderen Strafverfahren stellt einen Fall der Verhinderung an der Teilnahme an der Berufungsverhandlung im hier gegenständlichen Strafverfahren dar.

[11] Da eine Zustimmung des Angeklagten zur Durchführung des Gerichtstags in seiner Abwesenheit nicht vorlag, bestehen erhebliche Bedenken im Sinne des § 362 Abs 1 Z 2 StPO gegen die Richtigkeit der Annahme, dass die (sachverhaltsmäßigen) Voraussetzungen für eine Verhandlung und Urteilsfällung in Abwesenheit des (gehörig geladenen) Angeklagten gegeben gewesen wären.

[12] Es waren daher im außerordentlichen Weg die Wiederaufnahme des Berufungsverfahrens zu verfügen, das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Berufungsgericht vom , AZ 15 Bl 8/23d (ON 16 der U-Akten), aufzuheben und die Sache an dieses Gericht zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung und die (implizierte) Beschwerde des Angeklagten zu verweisen.

[13] Einer förmlichen Aufhebung des Beschlusses nach § 494a Abs 1 Z 2, Abs 6 StPO bedurfte es nicht, weil dessen Wegfall rechtslogische Folge der Aufhebung des Berufungsurteils ist (vgl RIS-Justiz RS0100444 [T10]; zur außerordentlichen Wiederaufnahme 14 Os 160/13f).

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2023:0120OS00069.23Y.0615.000

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